nnnnn STEUERSTRAFRECHT STEUERSTRAFRECHT AUFSATZ Die Pflicht der Finanzbehörde zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren RA/FAStR Dr. Jörg Alvermann und Rechtsreferendar Thorsten Franke, Köln* Der BGH fährt in seinen Bemühungen fort, das Steuerstrafverfahren zu reformieren. Nach seinen viel beachteten Entscheidungen zur Strafzumessung1 hat der BGH anschließend in seiner Entscheidung vom 30. 4. 2009 2 eine frühzeitigere Einbindung der Staatsanwaltschaft in Steuerstrafverfahren angemahnt. Dies gibt Anlass, die Vorgaben des BGH auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen. I. D i e V e r f a h r e n s h e r r s c h a f t in R e c h t u n d Praxis Die Staatsanwaltschaft ist die „Herrin des Ermittlungsverfahrens“. Dies gilt in Steuerstrafsachen insoweit, als sie das Verfahren jederzeit ohne Angabe von Gründen an sich ziehen kann (Evokationsrecht; § 386 Abs. 4 Satz 2 StPO). 3 Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass sie überhaupt Kenntnis von einer Steuerstrafsache besitzt. Denn in der Praxis führt die Finanzbehörde 4 das Verfahren selbständig und nimmt die Rechte und Pflichten der Staatsanwaltschaft 5 wahr. Die Verfahrensherrschaft durch die Staatsanwaltschaft ist im Steuerstrafverfahren die Ausnahme, nicht die Regel. So verwundert es nicht, dass das Evokationsrecht der Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit teilweise als „Leerformel“ 6 qualifiziert wurde. Eine gesetzliche Pflicht, wonach Finanzbehörden die Staatsanwaltschaft über alle bei ihr anhängigen Ermittlungsverfahren zu unterrichten haben, besteht nicht. Das Zusammenwirken zwischen Staatsanwaltschaft und Finanzbehörde wird vielmehr über Richtlinien und verwaltungsinterne Anweisungen 7 erfasst. Diese lauten auszugsweise: Stbg 12|09 „Von dem Recht, das Verfahren wegen einer Steuerstraftat/Zollstraftat an sich zu ziehen, macht der Staatsanwalt Gebrauch, wenn dies aus besonderen Gründen geboten erscheint, etwa wenn der Umfang und die Bedeutung der Steuerstraftat/Zollstraftat dies nahe legen . . .“ (Nr. 267 Abs. 1 RiStBV 2008). 554 „In den Fällen, die wegen der Größenordnung oder aus anderen Gründen, namentlich wegen der Persönlichkeit oder der Stellung des Beschuldigten . . ., von besonderer Bedeutung sind, hat die Finanzbehörde, sofern sie nicht die Vorgänge gemäß [Nr. 18] Abs. 1 abgegeben hat, die Staatsanwaltschaft unverzüglich zu verständigen.“ (AStBV (St) 2009, Nr. 18). „Zur Förderung der Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften empfehlen sich regelmäßige Kontaktgespräche. Diese Kontaktgespräche sollen auch der Unterrichtung der Staatsanwaltschaft über an sie abzugebende oder von ihr zu übernehmende Strafsachen dienen . . .“ (AStBV (St) 2009, Nr. 132). Unabhängig hiervon ist die Finanzbehörde zu einer Abgabe der Steuerstrafsache verpflichtet, wenn gegen den Beschuldigten wegen der Tat Anklage erhoben oder ein Haft- bzw. Unterbringungsbefehl erlassen werden soll (§§ 386 Abs. 3, 400, 401 AO). In der Praxis stellt der Verteidiger fest, dass sich bei jedem Strafsachenfinanzamt, bei jeder Staatsanwaltschaft eine Kultur der Zusammenarbeit entwickelt hat – freilich sind diese Kulturen sehr unterschiedlich ausgeprägt: Es gibt Sachgebietsleiter der Steuerfahndung und Strafund Bußgeldsachenstellen, die mit einem gewissen Stolz darauf verweisen, auch große Steuerfahndungsfälle möglichst ohne, jedenfalls aber unter möglichst später Hinzuziehung der Staatsanwaltschaft zu beenden. Sie treffen mitunter auf Staatsanwälte, die mit den Irrungen und Wirrungen des Steuer- und Steuerstrafrechts weniger vertraut und insoweit froh sind, wenn sie allenfalls einen zwischen Verteidigung und Steuerfahndung bereits „ausgedealten“ Fall auf dem Schreibtisch finden, bei dem nur noch die – ebenfalls bereits vorbesprochenen – Konditionen für die Beendigung des Strafverfahrens „abgenickt“ werden müssen. Andererseits kennt die Praxis auch * 1 2 3 4 5 6 7 Dr. Alvermann ist Partner der Sozietät Streck Mack Schwedhelm, Rechtsanwälte und Fachanwälte für Steuerrecht, Köln-Berlin-München, Thorsten Franke ist Rechtsreferendar in Köln. BGH vom 2. 12. 2008, 1 StR 416/08, ZIP 2009 S. 473; hierzu vgl. auch Voßmeyer/Hammes, Nie war sie wo wertvoll wie heute: Die Selbstanzeige – Bemerkungen zur Sanktionsverschärfung im Steuerstrafrecht, Stbg 2009 S. 62; Mack, Steuerhinterzieher hinter Gitter? – die neue Entscheidung des BGH vom 2. 12. 2008 zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, Stbg 2009 S. 270; Wulf, Die Verschärfung des Steuerstrafrechts zum Jahreswechsel 2008/2009, DStR 2009 S. 459. BGH vom 30. 4. 2009, 1 StR 90/09, NJW 2009 S. 2319; vorgehend LG Saarbrücken vom 25. 9. 2008, 2 (8) KLs – 44/04 – 33 Js 651/04, n. v. OLG Stuttgart vom 4. 2. 1991, 3 Ws 21/91, wistra 1991 S. 190. Das sind hier: Hauptzollämter, Finanzämter, das Bundeszentralamt für Steuern sowie die Familienkasse (§ 386 Abs. 1 Satz 2 AO). Vgl. u. a. § 399 Abs. 1 AO i. V. m. §§ 161, 161a, 162, 163a Abs. 3 StPO. Vgl. Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 386 AO Rz. 25.6 (November 1999); Cratz in Leise/Dietz/Cratz, Steuerverfehlungen, § 386 AO Rz. 45 (Februar 1993); Weyand, Das Evokationsrecht und die Informationsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft – Theorie und Praxis, wistra 1994 S. 87. Vgl. insbesondere Nr. 266 und 267 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren 2008 (RiStBV) sowie Nr. 18 und Nr. 132 der Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren (Steuer) 2009 (AStBV (St)). STEUERSTRAFRECHT II. De r F a l l In dem der BGH-Entscheidung zu Grunde liegenden Fall leitete die Steuerfahndungsstelle am 27. 8. 1999 das Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten wegen Umsatz-, Gewerbe- und Einkommensteuerhinterziehung für die Veranlagungszeiträume 1994 bis 1998 ein. Die Bekanntgabe an ihn erfolgte am 14. 1. 2000. Am 15. 2. 2002 stellte die Steuerfahndung den Prüfbericht fertig. Mit Schreiben vom 9. 7. 2002 wurde die Sache der Bußund Strafgeldsachenstelle für die Finanzämter des Saarlandes zugeleitet. Nach Steuerneuberechnungen und sonstigen (nach den Urteilsfeststellungen weitgehend vom Angeklagten bzw. seiner Verteidigung veranlassten) Verfahrensvorgängen wurden die Akten erst am 18. 3. 2004 der Staatsanwaltschaft Saarbrücken zum Zwecke der Anklageerhebung vorgelegt, die dann – also nach gut fünfjähriger Ermittlungsdauer – am 6. 5. 2004 Anklage zum Landgericht Saarbrücken erhob. Bis zum 18. 3. 2004 war die Staatsanwaltschaft nach den Urteilsfeststellungen „in die Ermittlungen nicht eingebunden“. Im Bericht der Steuerfahndung vom 15. 2. 2002 fand sich vielmehr die Bemerkung: „Bemühungen des Prüfers, den Fall im Ermittlungsverfahren wegen seiner Bedeutung und Größenordnung an die Staatsanwaltschaft (Haftbefehl) abzugeben, sind bisher gescheitert.“ Die Strafkammer des Landgerichts Saarbrücken stellte im Rahmen der Hauptverhandlung fest, dass der Angeklagte in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 insgesamt 2 439 888 DM an Einkommen- und Gewerbesteuer hinterzogen hatte. Sie verurteilte den Angeklagten am 25. 9. 2008 wegen Steuerhinterziehung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Allerdings berücksichtigte sie die Dauer des Strafverfahrens zu Gunsten des Angeklagten: Die fehlende frühzeitige Unterrichtung der Staatsanwaltschaft durch die Finanzbehörde führte aus Sicht der Kammer zu einer konventionswidrigen (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) Verfahrensverzögerung des gerichtlichen Verfahrens. 8 Es wurde eine Verzögerung von insgesamt zwei Jahren festgestellt und deshalb bestimmt, dass acht Monate der erkannten Strafe als verbüßt galten. liche Anmerkungen in das Stammbuch zu schreiben. In deutlichen Worten wurde die Verzögerung des Strafverfahrens beanstandet: Eine Praxis, wie sie im vorliegenden Fall zu Tage getreten sei, entspräche – unabhängig davon, ob ein Haftbefehlsantrag geboten scheint – nicht der Intention der gesetzlichen Regelungen über das Zusammenwirken zwischen Finanzbehörden und Staatsanwaltschaften im steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Zwar habe die Finanzbehörde grundsätzlich eine eigenständige Ermittlungskompetenz – hiermit korrespondiere allerdings eine Unterrichtungspflicht gegenüber der Staatsanwaltschaft. Diese müsse in den „in Betracht kommenden Fällen“ frühzeitig unterrichtet werden, um eine mögliche Evokation überprüfen zu können. AUFSATZ vorlagefreudige Fahnder, die sich von der Hinzuziehung der Staatsanwaltschaft eine höhere Wucht des Ermittlungsverfahrens versprechen, und durchsetzungsfähige Staatsanwälte, die die Führung des steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens von vornherein selbstbewusst für sich reklamieren. nnnnn Als solche „unterrichtungspflichtige“ Fälle benennt der BGH in seiner Entscheidung beispielhaft solche Fälle, in denen „Zweifel bestehen, ob die Sache zur Erledigung im Strafbefehlsverfahren geeignet ist, insbesondere wenn wegen der Größenordnung oder der Bedeutung des Falls eine Anklage beim Landgericht zu erwarten ist.“ 9 Aber auch in einer kleineren Sache könne – so der BGH – die Anzeige an die Staatsanwaltschaft geboten sein, wenn dieser eine „besondere öffentliche Aufmerksamkeit“ zukomme. Zu den strafprozessualen Folgen merkt der BGH an, dass auch ohne einen konventionswidrigen Verstoß eine fehlende frühzeitige Abstimmung eine zeitige Aburteilung vereiteln kann. Eine damit verbundene Verfahrensverlängerung sei dann jedenfalls strafzumessungsrelevant. Dies gelte erst recht bei einer konventionswidrigen Verzögerung, wenn diese zu einer Reduzierung der Strafe führe. Als gelte es, seinen Ausführungen noch den notwendigen Nachdruck zu verleihen, schließt der BGH mit drohendem Unterton: „Zu weiteren Konsequenzen für Amtsträger siehe BGHR StGB § 258 Abs. 1 Vollendung 1 (Verzögerung), die auch eine ausreichende Personalausstattung im Blick haben müssen.“ Mit anderen Worten: Eine Verzögerung des Strafverfahrens auf Grund unterlassener frühzeitiger Abstimmung kann für die beteiligten Ermittlungsbeamten den Vorwurf der Strafvereitelung (§ 258 StGB) begründen. Unklar bleibt in der Entscheidung freilich, wem der BGH im vorliegenden Fall die Verfahrensverzögerung anlasten I II . D i e BG H - E n t s c h e i d u n g 8 Der BGH verwarf die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten als unbegründet, nahm den Fall allerdings zum Anlass, den Ermittlungsbehörden einige grundsätz- 9 Vgl. zuletzt erfolgreiche Revisionen: BGH vom 21. 4. 2009, 4 StR 98/ 09, StraFo 2009 S. 245; vom 15. 1. 2009, 4 StR 537/08, StV 2009 S. 241; vom 26. 11. 2008, 5 StR 450/08, wistra 2009 S. 271; vom 21. 10. 2008, 4 StR 364/08, NJW 2009 S. 307; vom 3. 4. 2008, 4 StR 89/08, StraFo 2008 S. 297. BGH vom 30. 4. 2009, 1 StR 90/09, NJW 2009 S. 2319. 555 Stbg 12|09 Fortsetzung auf Seite 558 nnnnn STEUERSTRAFRECHT Fortsetzung von Seite 555 wollte. 10 Soweit die Steuerfahndung gemeint sein sollte,11 wird verkannt, dass diese den Kontakt zur Staatsanwaltschaft nach den Urteilsfeststellungen offenbar gerade gesucht hat. AUFSATZ I V . A n m er k u n g e n a u s d e r P r a x i s Aus Sicht des Steuerstrafverteidigers gibt die Entscheidung Anlass, auf Folgendes hinzuweisen: 1. Der BGH hatte sich nur wenige Monate zuvor mit seiner viel beachteten Entscheidung vom 2. 12. 2008 grundlegend zur Strafzumessung im Steuerstrafrecht geäußert. Die Bedeutung der Entscheidung wurde durch eine Pressemitteilung des BGH hervorgehoben, die in der Öffentlichkeit als Ankündigung eines Paradigmenwechsels verstanden worden ist. 12 Die wesentlichen Aussagen der Entscheidung lauten in Kurzform: • Eine Steuerhinterziehung „in großem Ausmaß“ i. S. d. Regelbeispiels aus § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO ist anzunehmen, wenn der Steuerschaden im Einzelfall mehr als 50 000 D beträgt. • Jedenfalls bei einem Schaden ab 100 000 D kommt die Verhängung einer Geldstrafe somit nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen in Betracht. • Bei einem Steuerschaden ab 1 Mio. D kommt eine aussetzungsfähige Freiheitsstrafe nur bei Vorliegen von besonders gewichtigen Milderungsgründen noch in Betracht. Dies bedeutet gleichzeitig, dass diese Fälle für eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren regelmäßig nicht geeignet erscheinen. Stbg 12|09 Wenn der BGH in seiner nun vorliegenden Entscheidung eine frühzeitigere Einbindung der Staatsanwaltschaft insbesondere für die letztgenannten Fälle, die „für eine Erledigung im Strafbefehlswege nicht geeignet“ sind,13 fordert, wird die Zielrichtung klar: Die großen Fälle, jedenfalls aber die „Millionenfälle“, sollen dem außergerichtlichen Deal zwischen Steuerfahndung und Verteidigung entzogen, stattdessen unter frühzeitiger Hinzuziehung der Staatsanwaltschaft der Anklage und Verurteilung zur Freiheitsstrafe zugeführt werden. 2. In der Praxis bringt das Urteil die Steuerfahndung damit in ein Entscheidungsdilemma: Wann liegt eine Evokation „nicht fern“ und besteht damit die Unterrichtungspflicht? Wann könnte eine Verurteilung im Strafbefehlswege ungeeignet sein? Wann könnte eine „kleine Sache“ eine solche Aufmerksamkeit erlangen, dass sie von der Staatsanwaltschaft zu übernehmen wäre? Wann ist die Schwelle zum eigenen Strafbarkeitsrisiko des Fahndungsbeamten überschritten? 558 Als Kriterien hierfür hat der Senat eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit, den Umfang und die Bedeutung des Verfahrens sowie eine zu Beginn schwierige Beweislage angeführt. Diese Kriterien sind nicht neu – sie de- cken sich insoweit mit den derzeit geltenden Richtlinien bzw. Anweisungen (siehe Abschn. I.). Dass sich der BGH veranlasst sieht, sie noch einmal mit den Hinweis auf verfahrens- und strafrechtliche Konsequenzen hervorzuheben, ist bemerkenswert. 3. Wie der vorliegende Fall zeigt, wird die Frage, wann und bei welchen Sachverhalten eine frühzeitige Unterrichtung tatsächlich geboten ist, in der Praxis häufig erst ex post durch die Gerichte beurteilt. Die Gründe für die oft vernachlässigte Hinzuziehung der Staatsanwaltschaft sind vielfältig (siehe oben) – ein Hauptgrund sollte aber aus gewachsener Erfahrung nicht verschwiegen werden: Finanzbehörde und Staatsanwaltschaft fühlen sich in der bisherigen Praxis durchaus wohl. Die Staatsanwaltschaft schätzt die starke Steuerfahndung. Die Steufa ist – gut ausgebildet – mit einer Fachkunde und Praxiserfahrung ausgestattet, die von einem jungen Staatsanwalt nicht erwartet werden können. Steuerstrafsachen sind regelmäßig Umfangsverfahren. Tut die Staatsanwaltschaft wirklich gut daran, sich zwanghaft an die Spitze der erfahrenen Fahnder zu stellen und die Ermittlungsleitung zu übernehmen? 4. Dass wir in Zeiten knapper personeller Ressourcen14 leben, ist auch dem BGH nicht verborgen geblieben. Es darf prophezeit werden, dass auch bei „ordnungsgemäßer“, frühzeitiger Unterrichtung eine Übernahme der Steuerstrafsache durch den betreffenden Dezernenten der Staatsanwaltschaft nicht immer gewährleistet werden kann. Auch können gerade steuerstrafrechtliche Umfangsverfahren nicht unbedingt von jeder Staatsanwaltschaft angemessen bearbeitet werden. Für den Bereich der Wirtschaftskriminalität wurden zwar Schwerpunktstaatsanwaltschaften installiert,15 doch sind diese zum einen nicht in allen Bundesländern zu finden, zum anderen bereits jetzt überlastet. Dem BGH ist diese Situation sehr wohl bewusst. Sein Hinweis auf eine frühere BGH-Entscheidung16 zur versuchten Strafvereitelung (§ 258 Abs. 1 StGB) lässt einen unverhohlenen Ärger erkennen: Im Rahmen der seinerzeitigen BGH-Entscheidung wurde festgestellt, dass auch eine Verzögerung der Aufnahme der Ermittlungen einen Straf10 11 12 13 14 15 16 So auch Fischer, jurisPR-SteuerR 31/2009, Anm. 1. Vgl. FAZ vom 10. 6. 2009 S. 19: „Fiskus muss Staatsanwaltschaft rufen – Bundesgerichtshof tadelt Steuerfahnder für Verzögerung“. BGH-Pressemitteilung Nr. 221/2008, abzurufen unter www.bundes gerichtshof.de; in Reaktion hierauf FAZ vom 3. 12. 2008 „Steuerhinterziehung wird härter bestraft“; Süddeutsche Zeitung vom 3. 12. 2008 „Gefängnis für Steuerhinterzieher“; FTD vom 3. 12. 2008 „Steuersünder müssen ins Gefängnis“; aus der Fachliteratur instruktiv Wulf, Die Verschärfung des Steuerstrafrechts zum Jahreswechsel 2008/2009, DStR 2009 S. 459; Salditt, Steuern, Strafen, Stufenleiter?, PStR 2009 S. 15. BGH vom 30. 4. 2009, 1 StR 90/09, NJW 2009 S. 2319. Vgl. Stellungnahme des Bundes der Richter und Staatsanwälte in Nordrhein-Westfalen (DRB NRW): „Wer erklärt die strukturelle Hinrichtung der Justiz?“ vom 19. 1. 2009, Quelle: www.drb-nrw.de unter „Stellungnahmen“-„Personalausstattung“. In Nordrhein-Westfalen sind dies die Staatsanwaltschaften in Bielefeld, Bochum, Düsseldorf und Köln, vgl. Rundverfügung des Justizministers vom 30. 3. 1968 (4100 – III A. 172). BGH vom 21. 12. 1994, 2 StR 455/94, wistra 1995 S. 143. STEUERSTRAFRECHT vorwurf aus § 258 Abs. 1 StGB begründen kann. Diesen Umstand will der BGH nunmehr nicht nur dem jeweiligen Amtsträger, sondern auch dem Dienstherrn ins Bewusstsein rufen, der eine „ausreichende Personalausstattung im Blick haben“17 müsse. verstoß als auch eine Verfahrensverzögerung ohne Konventionsverstoß sein. Ersterer begründet eine Kompensation nach dem Vollstreckungsmodell, 19 letzterer eine Berücksichtigung auf der Ebene der Strafzumessung. Diese Forderung ist hinreichend bekannt, ihr kann nicht ernsthaft widersprochen werden. Ebenso sicher erscheint jedoch, dass ihr in absehbarer Zeit nicht entsprochen werden wird. V. 6. Für den Verteidiger bietet die Entscheidung demgegenüber Nahrung: Folge einer fehlenden frühzeitigen Unterrichtung der Staatsanwaltschaft durch die Finanzbehörde – oder einer unterlassenen frühzeitigen Abstimmung – kann sowohl ein konventionswidriger Verfahrens- Fazit AUFSATZ 5. Für die Praxis der Ermittlungsbehörden gibt die Entscheidung insoweit Steine statt Brot: Sie hinterlässt verunsicherte Fahnder, die nunmehr mit eigenem Strafbarkeitsrisiko die „Pseudoabstimmung“18 mit der Staatsanwaltschaft suchen. Ermittlungsressourcen werden durch Aktentransfers und Übernahmegespräche gebunden. Der Staatsanwaltschaft fehlen ihrerseits die fachlichen und personellen Ressourcen, angesichts der Vielzahl von Fällen eine Ermittlungsübernahme stets sachgerecht zu prüfen. In einigen Staatsanwaltschaften ist das bislang wohl austarierte Verhältnis zwischen Steuerfahndung und Staatsanwaltschaft bereits ins Wanken geraten. nnnnn Der BGH knüpft in seiner Entscheidung vom 30. 4. 2009 nahtlos an seine vorangegangenen Bestrebungen an, das Steuerstrafverfahren in Strafzumessung und Verfahrensablauf zu verschärfen: Steuerstraftäter sollen konsequent und einheitlich einer (i. d. R. härteren) Bestrafung zugeführt werden. Die Finanzbehörden werden in Steuerstrafsachen verpflichtet, die Staatsanwaltschaft über alle bei der Steuerfahndung anhängigen Ermittlungsverfahren, bei denen eine Übernahme „nicht fern liegt“, frühzeitig zu unterrichten. Dies führt zu Unsicherheiten in der Fahndungspraxis, eröffnet aber auch Verteidigungschancen. Der Steuerstrafverteidiger wird das pro und contra einer Verfahrensübernahme durch die Staatsanwaltschaft in jedem Einzelfall sorgsam abwägen. Das steuerstrafrechtliche Klima wird rauer, der Verteidiger aber nicht machtlos. 17 18 19 BGH vom 30. 4. 2009, 1 StR 90/09, NJW 2009 S. 2319. So ein Sachgebietsleiter der Steuerfahndung gegenüber dem Verfasser wörtlich. Grundlegend BGH vom 17. 1. 2008, GSSt 1/07, NJW 2008 S. 860. Neue Grundsatzentscheidungen des BGH zum Steuerstrafrecht RA Prof. Dr. Jürgen Weidemann, Dortmund/Bochum* I. Steuerhinterziehung. Das Urteil enthält, wie es Salditt ausdrückt, ein Repetitorium der Strafzumessungsprinzipien, 2 womit offenbar einer allzu flexiblen und kreativen * 1 E i n Re p e t i t o r i um zu r S t r a f z u m es s u n g Das BGH-Urteil vom 2. 12. 20081 betrifft neben der Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge grundsätzliche Fragen der Strafzumessung bei 2 Der Autor ist Partner der Kanzlei Weidemann & Pigorsch in Dortmund und lehrt an der Ruhr-Universität Bochum Straf- und Strafprozessrecht, zurzeit Steuerstrafrecht. BGH vom 2. 12. 2008, 1 StR 416/08, BGHSt 53 S. 71 = wistra 2009 S. 107, mit Bespr. Salditt, Steuern, Strafen, Stufenleiter (Teil I und II), PStR 2009 S. 15 ff. und 25 ff.; Joecks, Berechnung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge/Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, JZ 2009 S. 531; Mack, Steuerhinterzieher hinter Gitter? – Die neue Entscheidung des BGH vom 2. 12. 2008 zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, Stbg 2009 S. 270; Bilsdorfer, Klare Strafzumessungsregeln bei Steuerhinterziehung, NJW 2009 S. 476; Rolletschke/Jope, Konsequenzen auf Grund der Änderung der Verjährungsvorschrift des § 376 Abs. 1 AO im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2009 (JStG 2009), Stbg 2009 S. 213; Rolletschke/Jope, Rechtsprechung zur Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, wistra 2009 S. 219; Wulf, Die Verschärfung des Steuerstrafrechts zum Jahreswechsel 2008/2009, DStR 2009 S. 459; Voßmeyer/Hammes, Nie war sie so wertvoll wie heute: Die Selbstanzeige – Bemerkungen zur Sanktionsverschärfung im Steuerstrafrecht, Stbg 2009 S. 62. Salditt, Steuern, Strafen, Stufenleiter (Teil II), PStR 2009 S. 25, 29; von einer „Segelanweisung“ spricht Joecks, Berechnung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge/Strafzumessung bei Steuerhinterziehung, JZ 2009 S. 531, 532. 559 Stbg 12|09 Seitdem die Zuständigkeit für Steuerstrafsachen beim 1. Strafsenat liegt, ist die Gangart des BGH gegenüber Steuerhinterziehern härter. Das zeigt sich exemplarisch nicht nur an dem Grundsatzurteil zur Strafzumessung, sondern auch an weiteren Entscheidungen. So hat der BGH in bestimmten Fällen die Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung (§ 370 AO) von der eigentlichen Festsetzungsverkürzung auf die Erschleichung eines Steuervorteils gleichsam vorverlegt, die strafbewehrte Anzeige- und Berichtigungspflicht erweitert, den Untergerichten konkrete Vorgaben für die Berechnung des Hinterziehungsschadens und die Festsetzung des Strafmaßes geliefert und sich unter gewissen Voraussetzungen für die Vollstreckung auch kurzer Freiheitsstrafen ausgesprochen. Im Einzelnen:
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