Warum die Frenzelbrille unverzichtbar ist

fortbildung
Schwindel-diagnostik
Warum die Frenzelbrille
unverzichtbar ist
Mayer
Abb. 2: Klassische „Frenzelbrille“: Durch Beleuchtung
und bikonvexe Linsen sind
die Augen des Patienten
deutlich besser erkennbar.
Unser Fall
Die 69-jährige Emma M. hat schon vor Jahren einen Hörsturz
erlitten und ist deswegen jetzt über ein Schwindelgefühl beunruhigt, das sie in wechselnder Ausprägung seit Monaten
begleitet. Sie beschreibt ihren Schwindel als eine allgemeine
Unsicherheit beim Gehen, manchmal auch beim Fahrradfahren, insbesondere bei schlechtem Licht, aber ohne konkrete
Auslösesituation. Häufiger habe sie eine schwer beschreibbare Benommenheit im Kopf, jedoch kein Drehgefühl wie im
Karussell oder eine schwindelbegleitende Übelkeit. Sie möchte wissen, ob diese Symptome mit dem Ohr und dem Gleichgewichtsorgan oder gar dem durchgemachten Hörsturz zu
tun haben könnten.
Ihre Beschwerden sind aber nicht gerade typisch für ein peripher-vestibuläres Geschehen, das subjektiv durch Drehschwindel und eine oft erhebliche vegetative Begleitsymptomatik charakterisiert ist. Zudem sollte sich objektiv dann
32
auch ein Nystagmus (Kasten 1) nachweisen lassen, der aber
unter der Nystagmusbrille nach Frenzel („Frenzelbrille“) weder als Spontan- noch als Provokationsnystagmus (Kasten 2
und 3) erkennbar ist.
Auffällig wird es allerdings bei den Stehversuchen: Während
der gewöhnliche Rombergversuch auch mit geschlossenen Augen einigermaßen sicher durchgeführt werden kann, kommt
es bei der verschärften Variante (Kasten 4) sowohl mit offenen wie auch mit geschlossenen Augen zu einer auffallenden
Unsicherheit mit wechselnder Fallneigung.
Der Neurologe bestätigt: Ein vestibuläres Geschehen kann
ausgeschlossen werden. Weil sich jedoch bei MRT-Untersuchungen verschiedene Marklagerläsionen nachweisen ließen,
müssen entzündliche oder vaskulär bedingte zerebrale Schäden als mögliche Ursachen der Gangunsicherheit vermutet
und noch weitergehend abgeklärt werden.
Der Allgemeinarzt 1/2016www.allgemeinarzt-online.de
fortbildung
Nystagmen
Fritz Meyer
Eine Frenzelbrille oder Nystagmusbrille gehört nicht zur Standardausrüstung eines jeden Allgemeinarztes.
Sollte sie aber. Denn mit „SchwindelPatienten“ hat der Hausarzt vergleichsweise häufig zu tun. Und mit
Hilfe dieses Instruments lässt sich ein
Spontannystagmus als Zeichen einer
Schädigung von Gleichgewichtsorgan
oder N. vestibularis viel besser erkennen als mit bloßem Auge.
sind unwillkürliche, ruckartige Hin- und-her-Bewegungen der Augäpfel,
die sich aus einer langsamen Bewegung in eine Richtung und einer raschen Rückführung der Bulbi in die andere Richtung zusammensetzen.
Die langsame Phase eines pathologischen Nystagmus ist Folge einer erzwungenen Augenbewegung aus der Fixationsposition heraus bei peripheren vestibulären Dysbalancen oder zentral-vestibulären Störungen.
Die folgende schnelle Phase führt das Auge mit dem Ziel einer Blickfeldstabilisierung wieder in die Ausgangsposition zurück. Wegen der besseren Erkennbarkeit wird die Nystagmusrichtung nach der schnellen Phase benannt, obwohl sie den zugrunde liegenden pathophysiologischen
Sachverhalt eigentlich nicht korrekt beschreibt.
Kasten 1: Kernwissen zum Nystagmus
S
chwindel war bei der Analyse eines
hausärztlichen, alle Altersklassen umfassenden Patientengutes in einem zehnjährigen Beobachtungszeitraum auf Rangplatz
12 der zwanzig häufigsten Beratungsanlässe
zu finden, hinter Fieber, Hypertonie, Infekten,
Rücken-, Gelenk- und Muskelschmerzen sowie
Diabetes mellitus [1]. Diese Feststellung gilt
aber nur mit Einschränkung, denn Schwindel
korreliert besonders eng mit dem Lebensalter.
Bei Menschen ab dem 65. Lebensjahr gehört
Schwindel zum vordersten Drittel, ab dem 75.
Lebensjahr zum ersten Fünftel der am meisten thematisierten 20 Beratungsanlässe [2].
Bei einem weiteren Blick auf das Schwindelkollektiv differieren die angeschuldigten Ursachen (vestibulär, zentral-vestibulär, nicht
vestibulär) vor allem in Abhängigkeit von der
institutionsbedingten Erkrankungsprävalenz
des untersuchten Patientengutes erheblich.
Während in einer auf Schwindelerkrankungen spezialisierten Abteilung mehr als zwei
Drittel aller Schwindelpatienten an einer Störung des vestibulären oder zentral-vestibulären Systems litten, waren in der allgemeinen
Notambulanz eines Universitätsklinikums nur
knappe 8 % der über Schwindel klagenden Pawww.allgemeinarzt-online.de Mayer
Abb. 1: Schon in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts wies Frenzel auf
die Notwendigkeit hin, bei
einer vermuteten vestibulären Störung die visuelle Fixation mittels einer Leuchtbrille auszuschalten [8].
Spontannystagmen
Hausärztlich relevante, peripher-vestibulär verursachte Spontanny­
stagmen werden durch eine akute, einseitige Erkrankung des Gleichgewichtsorganes oder des N. vestibularis ausgelöst. Es sind Horizontalnystagmen mit unterschiedlich starker torsioneller Komponente, deren
schnelle Phase zum dominierenden Vestibularorgan hin ausgerichtet ist.
Durch Fixation mit den Augen sind sie in der Regel unterdrückbar („visuelle Fixationssuppression“).
Zentral ausgelöste Spontannystagmen sind im hausärztlichen Bereich
selten und kommen bei Blutungen oder Infarzierungen im Hirnstammund Kleinhirnbereich, Tumoren der hinteren Schädelgrube, aber auch bei
Encephalitis disseminata, Intoxikationen und weiteren selteneren zen­
tralen Erkrankungen vor. Sie weisen meist eine unregelmäßige, wechselnde vertikale, aber auch horizontale Schlagrichtung auf und können
in der Regel nicht supprimiert werden.
Kasten 2: Unter der „Frenzelbrille“ identifizierbar: der Spontannystagmus
tienten von einer Störung des Gleichgewichtssystems betroffen [3, 4]. Eine weitere Studie am
Patientenkollektiv einer hausärztlichen Routinedatenbank ließ bei etwas mehr als 20 %
der über Schwindel klagenden Patienten eine
vestibuläre oder zentral-vestibuläre Ursache
→
wahrscheinlich erscheinen [5].
Der Allgemeinarzt 1/2016
33
Abb. 3: Eine Modifikation der Leuchtbrille stammt von
R. Blessing. Durch Einführung einer indirekten Beleuchtung und Verwendung einer weißen Linsenhalterung
soll ein willkürlich generierbarer Leuchtbrillennystagmus verhindert werden [9].
Mayer
Mayer
fortbildung
Abb. 4: Leichter, handlicher und dadurch vielleicht auch für den Hausbesuch brauchbarer ist eine Nystagmusbrille, die von M. Strupp [13] inauguriert wurde. Anstelle der schweren Bikonvexlinsen wurden wesentlich leichtere Fresnelsche Stufenlinsen aus Kunststoff verwendet,
auf Beleuchtung und Gestell verzichtet. Zumindest unter idealisierten
Laborbedingungen kann diese Brille die gleiche Nystagmuserkennbarkeit ermöglichen wie die klassische Frenzelbrille.
Provokationsnystagmen
Wie gehen Hausärzte bei Schwindelpatienten vor?
können schon durch übliche Alltagsreize wie Blickrichtungsänderungen, eine veränderte Körperlage oder durch Kopfschütteln ausgelöst werden. Bestes Beispiel des häufigsten Provokationsnystagmus im hausärztlichen Alltag ist
der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel, der durch verschiedene Lagerungsmanöver (Semont- oder Dix-Hallpike-Manöver) direkt im Sprechzimmer
nachgewiesen werden kann.
In der für den Hausarzt praktischer durchführbaren Variation nach Semont sitzt
der Patient mit herabbaumelnden Beinen auf der Liegenlängsseite. Der Kopf
wird in der Transversalebene um 45° zum anamnestisch gesunden Ohr gedreht.
Dadurch wird der hintere Bogengang des als krank angenommenen Ohres in
die Querachse des Körpers und damit in die Bewegungsrichtung eingestellt. Mit
einer raschen Bewegung wird der Rumpf des Patienten dann zur Seite des erkrankten Ohres auf die Liege gekippt, der Kopf liegt mit dem lateralen Okziput
auf. In dieser Position tritt ein für etwa 30 Sekunden anhaltender, horizontal-torsioneller Nystagmus in Richtung des erkrankten Ohres auf. Im Unterschied dazu ist beim einseitigen Labyrinthausfall aufgrund der länger anhaltenden vestibulären Dysbalance ein nicht erschöpflicher Nystagmus zum gesunden Ohr hin
vorhanden, der auch bei unterschiedlichen Lagen und Lagerungen seine Schlagrichtung wechselnder Intensität beibehält.
Eine andere Form des Provokationsnystagmus kann durch den Kopfschütteltest
(KST) generiert werden. Mit ihm ist der Nachweis einer einseitigen peripheren
vestibulären Unterfunktion möglich (z. B. Kompensationsphase einer Neuronitis
vestibularis). Beim KST wird der um 30° zur Kinnspitze geneigte Kopf des Patienten in der Horizontalebene bei geschlossenen Augen sehr schnell, etwa 20-mal,
durch den Untersucher oder die untersuchte Person selbst hin und her gedreht.
Beim Vorliegen einer unilateralen vestibulären Dysfunktion entsteht sehr kurzfristig ein horizontal-torsioneller Nystagmus zur Seite des nicht betroffenen Labyrinths. Zu beachten ist, dass bei zentralen Störungen horizontales Kopfschütteln allerdings auch einen vertikalen Nystagmus auslösen kann.
Geht man von den zuletzt genannten Zahlen
aus, hat immerhin ein Fünftel der hausärztlichen Schwindelpatienten eine mutmaßlich vestibuläre Genese. Trotzdem scheinen Hausärzte
für diese Zielgruppe nicht spezifisch gerüstet
zu sein. Sczepanek und Kollegen [6] stellten jedenfalls in einer 2011 publizierten Studie fest,
dass Hausärzte bei schwindelkranken Senioren diagnostisch zuallererst mit Blutdruckmessung, Auskultation des Herzens, EKG, neurologischer Basisuntersuchung und Blutentnahme
Kasten 3: Zwei wichtige Provokationsmanöver für die hausärztliche Diagnostik einer einseitigen Vestibularisstörung.
34
▪▪▪▪▪▪▪▪▪
Bei ca. 20 % der hausärztlichen
Schwindelpatienten ist der
Schwindel vestibulär bedingt.
▪▪▪▪▪▪▪▪▪
reagierten. Fast drei Viertel von ihnen berichteten über eine zusätzliche Durchführung der
Versuche nach Romberg und Unterberger. Aber
nur weniger als die Hälfte (41,5 %) der befragten Kollegen gaben an, eine Nystagmusprüfung durchzuführen, deren Modalitäten (z. B.
Verwendung einer Nystagmusbrille) allerdings
nicht explizit hinterfragt wurden. Genau da
liegt aber das Problem [7].
Seit Frenzel vor 90 Jahren die Urform der heute
gebräuchlichen Nystagmusbrille in der Fach- →
Der Allgemeinarzt 1/2016www.allgemeinarzt-online.de
fortbildung
welt vorstellte [9, 11], gehört die Suche nach einem Spontan- oder durch definierte Manöver
auslösbaren Provokationsnystagmus unter der
nach ihm benannten Leuchtbrille bei der Untersuchung einer Schwindelerkrankung (Abb. 1)
zum otoneurologischen Mindeststandard.
Allerdings muss vermutet werden, dass tatsächlich nur wenige Hausärzte im Besitz einer solchen Brille sind. 2011 wurde in Der Allgemeinarzt eine Leserumfrage zum gerätetechnischen
Equipment hausärztlicher Praxen durchgeführt.
Danach gaben in 367 rücklaufenden Fragebögen nur 17 Kollegen (4,6 %) an, eine Frenzelbrille zu besitzen. Dazu gab es zwei vielsagende
Bemerkungen: Einer schrieb „nicht im Einsatz,
obwohl vorhanden“, der andere „kein Einsatz,
da Nutzen gering“ [3].
Was hat die Nystagmusbrille dem
bloßen Auge voraus?
Der „Blick in die Augen“ stellt die Weichen zwischen einem vestibulären oder nicht vestibulären Geschehen [10]. Obwohl ein sehr grobschlägiger, insbesondere torsioneller Nystagmus
(> 3 – 4°/sec) auch mit freiem Auge gesehen
werden kann, sind feinere Nystagmen (0,5 – 4°/
sec) so nicht erkennbar [10]. Noch entscheidender ist aber, dass ein peripher-vestibulär ausgelöster Spontannystagmus vom Patienten visuell supprimiert werden kann und damit der
Untersuchung entgeht.
Zur Lösung dieses Problems gelangte Frenzel,
indem er eine aus der Ophthalmologie bekann-
te Nystagmusbrille („Bartelsbrille“) [9, 12] zur
Leuchtbrille weiterentwickelte. Einer Taucherbrille ähnelnd (Abb. 2) ist die Halterung mit Bikonvexgläsern (15 – 20 Dioptrien) ausgestattet.
Diese machen den Patienten künstlich myop und erschweren dadurch die Blickfixation.
Gleichzeitig werden die Augäpfel für den Beobachter vergrößert sichtbar. Der Haupt­effekt
besteht aber in der Innenbeleuchtung: Mit
Schwachstromlämpchen wird die Beobachtung weiter verbessert und der Untersuchte vor
allem geblendet, was eine mögliche Fixation
beim Blick vom Hellen ins Dunkle verhindert.
Das macht nachvollziehbar, dass die Nutzung
der „Frenzelbrille“ im abgedunkelten Raum
optimal ist. Weil die vorgesetzten Brillengläser wie eine Lupe wirken, sollte der Beobachtungsabstand zwischen „Frenzelbrille“ und
Untersucher mindestens 30 cm betragen (gestreckter Untersucherarm), um dennoch mögliche, schemenhafte Seheindrücke des Untersuchten zu verhindern.
Trotz Veränderungen und Modifikationen der
Urform (Abb. 3 und 4) hat sich an der prinzipiellen Einsatzindikation der Nystagmusbrille seit
der Zeit von Hermann Frenzel nichts geändert.
 online
Diesen Beitrag sowie die vollständige
Literaturliste finden Sie auch unter
www.allgemeinarzt-online.de
 practica 2015 Bad Orb
Kurs Nr. 253
Dr. med. Fritz Meyer:
Hausärztliche Otoneurologie: Schwerhörigkeit und Schwindel bei älteren
Menschen
Gerade beim Verdacht auf das Vorliegen eines
vestibulären Schwindels ist die Erstbeobachtung unter der Nystagmusbrille wichtig, weil
im Akutfall häufig nur der primär versorgende Arzt den Nystagmus in seiner originären
Form zu Gesicht bekommt und so richtungsweisende kausale und damit auch therapeutische Hinweise geben kann.
▪
Beim Stehversuch nach Romberg
steht der Patient mit unbeschuhten, berührungsfrei, parallel aneinandergestellten Füßen und mit horizontal ausgestreckten Armen, Handflächen nach oben, für etwa 1 min
frei im Untersuchungsraum. Bewertet wird das Ausmaß einer reproduzierbaren Abweichreaktion oder Fallneigung zu einer Seite, nach vorne, hinten oder diagonal. Bei peripheren Störungen geht die Falltendenz zur Seite der labyrinthären Unterfunktion, bei
zentraler Schwindelursache ist die Abweichung eher regellos. Eine Forcierung des Manövers ist durch Varianten wie den „verschärften Romberg“ (auch: „Tandem-Romberg“,
„Romberg sensibilisé“, d. h. die Füße leicht versetzt hintereinander) oder durch Kopfreklination möglich, was die Gefahr falsch pathologischer Befunde allerdings erhöht. Beim
Verdacht auf eine psychogene Gleichgewichtsstörung wird das Testergebnis durch eine
Ablenkung des Patienten während der Durchführung (zählen lassen, Jendrassik-Handgriff) verbessert.
Dr. med. Fritz Meyer
Facharzt für Allgemeinmedizin
Facharzt für Hals-NasenOhrenheilkunde
Sportmedizin – Ernährungsmedizin (KÄB)
86732 Oettingen/Bayern
interessenkonflikte:
Der Autor hat keine deklariert.
Kasten 4: Der Romberg-Test und seine verschärfte Variante dienen zur einfachen Überprüfung der
vestibulo-spinalen Funktionsachse.
www.allgemeinarzt-online.de Der Allgemeinarzt 1/2016
37