Showroom Gesicht. Bühne des Lebens und

Sonntag, 6. März 2016 (20:05-21:00 Uhr) KW 09
Deutschlandfunk Abt. Feature/ Hörspiel/ Hintergrund Kultur
FREISTIL
Showroom Gesicht
Bühne des Lebens und Tarnkappe
Von Burkhard Reinartz
Regie: der Autor
Redaktion: Klaus Pilger
Produktion: DLF 2016
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1
Musik 1: Eivind Aarset: Jukai (sea of trees)
tr 3 ab 1.25
Frau als Zitatorin:
Mein Vater kannte ein Spiel, ein wunderbares, ein schreckliches Spiel.
Es fing so an: Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf sein Gesicht, ein gutmütiges,
kinderfreundliches Pyknikergesicht. Dann hob er die rechte Hand und hielt sie sich wie
einen Schirm vor sein Gesicht. Im nächsten Moment hatte er sie weggezogen und ein
ganz anderes Gesicht war zu sehen. Blitzschnell durchlief es eine Folge seltsamer
Veränderungen. Die Hand deckte zu, löschte aus, immer wieder, und zum Vorschein
kamen andere, unvorhergesehene, unvorhersehbare Züge. Ein fremder Vater. Ein Wesen,
das nur aus Gesicht bestand. Zu diesem Vater waren alle menschlichen Beziehungen
abgebrochen.
Das Gesicht schleuderte mit einer unerhörten Gewalt andere Gesichter aus seinem Innern
hervor. Satanische, fröhliche, verängstigte, verschlafene, dämonische, neugierige, sich
dumm stellende Wesenheiten, verschämte, andächtige, tierhaft brutale, kranke,
verdorbene, liebenswürdige, leichtsinnige Gestalten.
Wie war es möglich, dass sich diese unzähligen Gesichter in nur einem Menschen
befanden?
Gisela von Wysocki hier keine Absage
O-Ton 1 Hans Belting
26.03 Wir fühlen uns als eine Existenz, die ein Innenleben hat und sehen ein Gesicht,
dass eine Außenform ist.
Zitator:
Das Spiegelbild ist für uns das absolut andere, eine Höllenvorstellung, gefährlich wie
Antimaterie
Clemens J. Setz
keine Absage
Mann:
Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das/ reißt
Musik aus
Sprecherin:
Showroom Gesicht – Bühne des Lebens und Tarnkappe - Feature von Burkhard Reinartz
Musik 2: John Zorn: Pole tr 48
Frau:
Gesichter: Immer an vorderster Front, vom Leben gezeichnet.
2
Mann;
Eine Hieroglyphe, schwer entzifferbar und nie ganz zu Ende codiert.
Frau:
Für den einen eine Fläche aus Muskeln und Haut, für den anderen Spiegel der
Individualität, für den Dritten eine Schutzmaske.
Mann:
Die Schnittstelle, an der persönliche Züge und die Ansprüche der Gesellschaft
zusammentreffen.
Frau:
Es ist nicht immer leicht, sich in seinem eigenen Gesicht aufzuhalten.
Mann:
Im Gesicht stülpt sich das Leben rücksichtslos nach außen.
Frau:
Vielleicht wäre das Leben anders gelaufen mit einem anderen Gesicht:
grünen Augen, prallen Lippen oder einem kecken Kinn.
Musik 3: Einvind Aarset: Active tr 5 ab 1.35
O-Ton 2 Alex H.
31 Ich habe ein schmales Gesicht, ich hab enganliegende blaue Augen. Ich hab einen
Schmollmund, sagt meine Freundin
O-Ton 3 Iris M.
34 Im Groben und Ganzen bin ich mit meinem Gesicht zufrieden. Es gibt natürlich
manchmal Tage, wo ich denke: was hast du gemacht??
O-Ton 4 Valentin Groebner
28.25 Das ist mir zu persönlich
O-Ton 5 Petra B.
55 Ich glaube, dass es bei den meisten Menschen so ist, dass sie in die Augen gucken.
Das ist sicher, wo man am meisten Emotionen ablesen kann.
O-Ton 6 Roman T.
38 Wenn ich morgens in den Spiegel schaue, bin ich manchmal überrascht wie ich
aussehe. In der Regel zwinker‘ ich mir selber zu und begrüße mich.
3
Frau als Zitatorin:
Wer will nicht im Spiegel
heute das Gesicht
von gestern sehen.
Wie beständig die vergänglichen Dinge,
eine Mütze oder eine Uhr,
die du wiedererkennst.
Du musst es sein,
der diese Mütze trägt,
und wirklich,
du bist es.
Du findest dich wieder
in der Farbe
einer Baskenmütze
Sprecherin:
Hilde Domin: „Identität“
Musik aus
O-Ton 7 Hans Belting
21.00 Foto und Spiegel sind ähnliche Orte, wo man keine Selbstdarstellung treibt,
sondern eine Selbsterforschung und alle Selbstportraits von Künstlern, da kann man das
am besten sehen, zum Beispiel bei Rembrandt, der über sechzig Selbstportraits gemalt
hat, sind im Grund eine Konfliktsituation. Man kennt sich so, wie man sich nicht sehen
kann. Und kämpft eigentlich mit dem eigenen Gesicht, um es dorthin zu bringen, wie man
sich selber fühlt.
Sprecherin:
Der Kulturwissenschaftler Hans Belting
O-Ton 8 Hans Belting
6.28 Da ich ja Bildforscher bin, hat mich immer interessiert: wie kommt es, dass Menschen
Bilder machen und eines der ältesten Bilder, die ich fand, entstand im Totenkult: die
Maske, die man dem Toten aufgesetzt hat. Die Maske ist hier Gesichtsersatz und ist
insofern ein uraltes Bild. 7.45 Die Kunstmaske und die lebende Maske sind zwei Dinge,
die vielleicht in Beziehung zueinander stehen, aber trotzdem ganz verschieden sind.
Musik/Sound 4: Eivind Aarset: Close (Variation II) tr 6. 0.00 – 0.18 oder ab 1.13
4
Frau:
Alles tun, um das Gesicht zu wahren
Mann:
Sich dezent aus dem eigenen Gesicht zurückziehen
Frau:
Zeigen und Offenbaren, Täuschen und Verhüllen sind die Lieblingsrollen des Gesichts
Musik aus
O-Ton 9 Hans Belting
3.24 Im Grund ist unsere Auffassung von Maske als falsch oder Lüge noch ein Erbe des
18. Jahrhunderts, als die Aufklärer der höfischen Gesellschaft die Masken, die sie auf
ihren Gesichtern eingeübt hatten, runterreißen wollten. 17.02 Da sagte man, man befreit
sich von den höfischen Masken und zeigt sein wahres Gesicht. Man glaubt also, dass es
das wahre Gesicht gibt. Und dieses wahre Gesicht, das echte Gesicht, das drückt den
Charakter eines Menschen aus. 9.00 Der Kontrast: da ist das Gesicht und da ist die
Maske, das gibt es im lebenden Gesicht nicht. 12.20 Das Gesicht ist kein Spiegel für einen
Ausdruck, sondern eine Bühne für einen Ausdruck, das heißt, sehr oft benutzen wir das
Gesicht, um einen Ausdruck zu formen, der nicht unbedingt dahinter stehen muss, aber
gespielt wird, um mit dem Betrachter zu kommunizieren.
Musik 5: John Zorn: Edge Train tr 40
Frau:
Manchmal taucht der Gedanke auf, einen Abdruck des eigenen Gesichts herstellen zu
lassen. Wie eine Totenmaske. Das Gesicht verliert dann zwar seine Bewegtheit, ab dafür
sieht man sich als sein eigenes Gegenüber.
Mann:
Ein schizophrener Gedanke: Man selbst zu sein in der Form einer Maske.
Frau:
In die Essenz seines eigenen Gesichts hineinschauen.
Mann
Sterben in eigener Regie. Tot sein, aber im Zustand der eigenen Bewusstheit.
Buchstäblich sehenden Auges.
5
Frau:
Was für eine Belastung! Vom Gefühl her ist das Gesicht wie eine Wunde.
Mann:
Es ist das schlechthin verborgene am Menschen. Das Gesicht ist die Maske.
Frau:
In einer Kultur, in der das Tragen von Masken selbstverständlich wäre, würde man
sich mehr zu Hause fühlen.
Ausschnitt aus einer Sendung des Autors vom 17.11.2007 0.00 -1.14
Sprecher 1:
Als sie sich kennerlernten, war es dunkel gewesen. Dann hatte sie ihn eingeladen
und nun war er da. Sie hatte ihm ihre Wohnung gezeigt und die Tischtücher und die
Bettbezüge und auch die Teller und Gabeln, die sie hatte. Aber als sie sich dann
zum ersten mal bei hellem Tageslicht gegenübersaßen, da sah er ihre Nase.
Die Nase sieht aus, als ob sie angenäht ist, dachte er. Und sie sieht überhaupt
nicht wie andere Nasen aus. Mehr wie eine Gartenfrucht. Um Himmels willen!
dachte er, und diese Nasenlöcher! Die sind ja vollkommen unsymmetrisch
angeordnet. Die sind ja ohne jede Harmonie zueinander. Das eine ist eng und oval.
Aber das andere gähnt geradezu wie ein Abgrund. Dunkel und rund und
unergründlich. Er griff nach seinem Taschentuch und tupfte sich die Stirn. Unsicher begann sie zu sprechen.
Musik aus
Sprecherin 1:
Es ist so warm, nicht wahr?
Sprecher 2:
O ja
Sprecher 1:
Er hörte sich antworten und sah nur ihre Nase. Sie muss angenäht sein, dachte er
wieder. Sie kommt sich so fremd vor im Gesicht. Und sie hat eine ganz andere
Tönung als die übrige Haut. Viel intensiver. Und die Nasenlöcher sind wirklich ohne
Harmonie. Oder von einer ganz neuartigen Harmonie, fiel ihm ein, wie bei Picasso,
weshalb er sagte:
6
Sprecher 2:
Meinen Sie nicht auch, dass Picasso auf dem richtigen Wege ist?
Sprecherin 1:
Wer denn? Pi - ca - -?
Sprecher 1:
Ohne Übergang fuhr er fort:
Sprecher 2:
Sie haben wohl mal einen Unfall gehabt?
Sprecherin 1:
Wieso?
Sprecher 2:
Na ja,
Sprecherin 1:
Ach, wegen der Nase?
Sprecher 2:
Ja, wegen ihr.
Sprecherin 1:
Nein, sie war gleich so.
Sprecher 1:
Sie sagte das ganz geduldig. Donnerwetter! hätte er da fast gesagt. Aber er sagte
nur:
Sprecher 2:
Ach, wirklich?
Sprecherin 1: halb flüsternd
Und dabei bin ich ein ausgesprochen harmonischer Mensch. Und wie ich gerade
die Symmetrie liebe! Sehen Sie nur meine beiden Geranien am Fenster. Links
steht eine und rechts steht eine. Ganz symmetrisch. Nein, glauben Sie mir,
innerlich bin ich ganz anders. Ganz anders.
Wolfgang Borchert: Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlass
Rowohlt Verlag Hamburg 30.a. 2006 ISBN 3 49910975 1 Seite 7-9
7
O-Ton 10 Selma Madaluno
4 Immer wenn mich im Profil betrachtet habe, im Spiegel, hab ich einfach nur noch Nase
gesehen. 7 7 S Proportional fand ich die einfach zu groß und auch zu höckrig, zu lang, zu
spitz. Das hat mir nie gefallen. Ich habe das auch nie gemocht, wenn man Fotos von mir
gemacht hat. Ganz schlimm war das aus dem Profil. Und das wollt ich schon ewig ändern.
Sprecherin:
Selma Madaluno, Jahrgang 1977, sitzt im Sprechzimmer der Privatklinik „S-Thetics First“
des plastischen Chirurgen Dr. Thomas Galla. Eine attraktive Frau, bei der man sich sofort
fragt, warum Sie ihr Gesicht hat operieren lassen.
O-Ton 11 Dr. Thomas Galla
3 Da hab ich genau das gleiche gedacht: Als die Frau Maddaluno bei mir rein kam, hab ich
gedacht: was soll ich denn für die hübsche Frau tun?
Atmo/Musik: Ausschnitt aus einem Promotion-Video der Praxis 0.00 - 0.18
„Praxisklinik Dr. Galla für alle Fragen rund ums Thema Schönheit und Ästhetische
Chirurgie“.
O-Ton 12 Dr. Thomas Galla
17 2 S. Man sieht jetzt hier auf dem Bild, dass die Frau Madaluno eine sogenannte
Höcker-Spannungsnase hat, das heißt, die Nase angefangen bei den Augen bis runter zur
Nasenspitze spannt sich nach oben auf. 11 Als es früher diese Computerprogramme noch
nicht gab, das sogenannte Morphing, haben wir die Nasen abzeichnet und wenn wir
Menschen operieren, machen wir natürlich eine Fotodokumentation und auch ne
Nachherdokumentation.
Atmo/Musik: Ausschnitt aus einem PromotionVideo 0.50 -0.64
„Maßgeschneiderte Behandlungsmethoden und innovativste Lösungen. Schonend, sanft
und sicher. Für einen sinnlichen Körper von Kopf bis Fuß“.
O-Ton 13 Dr. Thomas Galla
15 Die Frau Maddaluno hat ja gesagt, dass im Prinzip vor allem ihr selbst ihre Nase
aufgefallen ist. Wenn sie auf der Straße war, wird sie niemand angesprochen haben und
gesagt haben:
8
Also Ihre Nase, die müssen Sie mal bitte operieren, Sie können so hier nicht rumlaufen.
O-Ton 14 Selma Maddaluno
19/20 Lachen – Wenn ich mir jetzt meine Vorher-Nase anschaue, dann bin ich sehr froh,
dass ich das gemacht habe, weil für meine Empfinden meine Nase sehr viel niedlicher
aussieht, sehr viel weiblicher, femininer und nicht mehr so hart. Für mich psychisch hat
das einen Unterscheid gemacht, weil ich selber mich besser akzeptiere, optisch, und mich
deshalb auch wohler fühle und das, denk ich, strahl ich auch aus.
Atmo/Musik: Ausschnitt PromotionVideo 2.00 -2.14
„Für eine gesunde Balance für Körper, Geist und Seele. Ihre Schönheit ist unsere
Passion.“
Musik 6: Heiner Goebbels: The Fog tr 1
Mann:
Es gibt Momente, wo das Gesicht innen grau wird. Als ob die Haut ungenügend mit Blut
versorgt wird..
Frau:
Um die Knochen herum saugt etwas, zieht nach innen, eine bestimmte Anspannung.
Mann:
Dann die Notwendigkeit der Fassadenarbeit, das Bestreben, zu stützen, wo es Einbrüche
gegen könnte. Der Versuch, verräterische Spuren zu verwischen.
Frau:
Sich jeden Morgen im Spiegel neu aufbauen, das ist Schwerstarbeit.
Mann:
Die Brille schirmt ein wenig ab, hinter den Gläsern lässt sich etwas Ruhe finden.
Und doch passiert es immer wieder, dass die Gesichtszüge sich selbstständig machen.
Frau:
Scham ist das mächtigste Gesichtsgefühl.
Mann:
Peinliche Schweißausbrüche, verbunden mit dem Wunsch weit weg zu sein.
9
Frau:
Alles umsonst. Die Einrichtung des Gesichts gelingt nur von vorn.
Mann:
Das Gesicht - entgleist.
Musik aus
O-Ton 15 Selma Madaluno
12 Vor neun Wochen war die OP. 21 Der Eingriff war unter Vollnarkose. Ich habe danach
keinerlei Schmerzen gehabt. Ich war nur sehr lange mit Hämatomen im Gesicht, ja,
gesegnet. lacht Aber das ging dann letztlich auch weg und das Ergebnis spricht ja für
sich.
O-Ton 16 Dr. Thomas Galla
33 18 S Wenn jemand kommt mit abstehenden Ohren, die Psychologen vor fünfzehn
Jahren haben gesagt: kein Problem, da muss der Jungen mit leben, da muss er durch.
Heutzutage haben wir auf unseren Kongressen mehr und mehr Psychologen, die sagen:
Super, von diesem Operieren geht auch ein positiver Effekt auf die Psyche der Patienten
über. Das heißt, das kleine Kind mit den abstehenden Ohren, muss nicht mehr gefallen
lassen, dass es ständig gehänselt wird. Wir legen die Ohren an, das Kind kriegt ein
normales Selbstvertrauen.
Atmo/Musik: Ausschnitt PromotionVideo der Praxis check timing
„Bei uns sind Sie und ihre Träume gut aufgehoben, egal ob Frau oder Mann.“
O-Ton 17 Dr. Thomas Galla
43 Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen hat sich vor zehn Jahren ein bisschen
zugunsten der Männer verschoben. 45 Aufs Gesicht bezogen wollen Männer eigentlich
immer Oberlidstraffungen, Nasenkorrekturen und Faltenbehandlungen. 39 Die Tatsache,
dass die Patienten versuchen, immer jünger zu werden, ist ganz gefährlich. Das erste Mal,
wo das aus Amerika rüber geschnappt ist, war, wo so 16jährige zum College-Abschluss
einen Nosejob bekommen haben, wo dann ihre Nase gerichtet wurde. Wir hatten in
Deutschland in den einschlägigen Fachkreisen die Diskussion, ob wir Minderjährige
operieren sollen. Und wir haben uns dagegen entschlossen und setzten ganz klar die
Grenze bei achtzehn Jahren, damit wir nicht anfangen, 15jährige zu operieren.
10
Musik 7: Michael Jackson: Billie Jean - tr 4 Instrumentalintro
O-Ton 18 Dr. Thomas Galla
40 In der Presse werden natürlich vor allem solche Extreme ausgeschlachtet, die
irrationale Schönheitsidole haben. Da gibt's die Barbie, die sich 25mal hat operieren
lassen, da gibt’s Michael Jackson, der immer ne kleinere Nase haben wollte. Das Ende
vom Lied war das Ableben von Michael Jackson mit Propophol.
O-Ton 19 Hans Belting
14.30 Der alte Sachverhalt besteht darin, dass wir Mimesis betreiben, dass wir den
bewunderten Menschen nachahmen. Der zweite Sachverhalt besteht darin, dass wir die
Mimesis soweit treiben wollen, dass wir die Form unseres Gesichts operieren lassen
wollen, um uns von uns zu befreien und stattdessen aussehen wollen wie unser Vorbild
aussieht.
Sprecherin:
Der Kulturwissenschaftler Hans Belting,
Musik aus
O-Ton 20 Valentin Groebner
0.15 Wenn Sie in einer beliebigen deutschen Stadt durch die Fußgängerzone laufen,
sehen sie ein großes vervielfältigtes Druckerzeugnis in drei mal fünf oder zwei mal drei
Meter Größe, das behauptet, es sei eine Person und würde zu Ihnen sprechen, denn es
benutzt die erste Person Singular und wendet sich an Sie und schaut Ihnen in die Augen.
Sprecherin:
Und das schlimmste: Fast alle dieser Gesichter lachen. Der Schriftsteller Wilhelm
Genazino hat das Diktat der hemmungslosen Fröhlichkeit so beschrieben:
Musik 8: Enders Room: So Ro tr 2 start: 0.00 oder 0.36
Zitator:
In früheren Zeiten war es den Menschen leichter möglich, ihren abwartenden und das hieß
immer auch: im Zweifelsfall ernsthafteren Gesichtsausdruck (als den wahreren)
beizubehalten. Wer in alten Fotoalben blättert, sieht die Menschen kaum lächeln oder
lachen. Ihre Ernsthaftigkeit war der angemessene Ausdruck für die Unklarheit dessen, was
ihnen bevorstand. Heute dagegen wollen die Menschen jeden Anhauch von Schicksal
schon im Ansatz nieder grinsen.
Musik aus
11
O-Ton 21 a Valentin Groebner
2.36 Gesichter werden im 20. Jahrhundert zu Markenartikeln und umgekehrt:
Markenartikel streben danach, mit einem Gesicht fest verkoppelt zu werden. Das heißt, die
Ware bekommt ein Gesicht oder mehrere.
Sprecherin:
Der Historiker Valentin Groebner hat sich in seinem Buch „Ich-Plakate – eine Geschichte
des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine“ ausführlich mit dem Thema beschäftigt.
O-Ton 21b Valentin Groebner
3.38 Bilder von Gesichtern ziehen im Normalfall darauf ab, durch extrem starke, leicht zu
entschlüsselnde Merkmale auf den Betrachter zu wirken. Normalerweise durch den Blick
in die Augen, durch Lächeln, durch simulierte Interaktion. Das Bild sagt an der Stelle: Ich
bin eigentlich mehr als ein Bild, ich bin ein fast lebendiges Gesicht. Beim Lächeln ist das
besonders stark, weil Lächeln eine Spiegelreaktion hervorrufen soll. Das Bild möchte dem
Betrachter suggerieren: ich bin nett zu dir und ich mag dich.
Atmo: Säuglingsgeschrei
Sprecherin:
Die Säuglingsforscherin Mechthild Papousek arbeitet im Münchener Universitäts-Klinikum:
O-Ton 22 Mechthild Papousek
4 15 S Eltern haben eine angeborene Bereitschaft, ganz intuitiv den mimischen Ausdruck
ihres Babies widerzuspiegeln, nachzuahmen. 7 Zum einen ist das so, dass das
Neugeborene der Stimme der Mutter folgt, die hilft ihm, das Gesicht zu lokalisieren,
aufzufinden. Und das Baby schaut die Mutter an und … sie reagiert mit einer mimischen
Bewegung.
Atmo aus
Zitator:
Wenn ich sehe und gesehen werde, so bin ich,
Sprecherin:
schrieb der englische Psychoanalytiker Donald D. Winnicott
O-Ton 23 Mechthild Papousek
18 Gerade in der frühen Kommunikation ist die Blickzuwendung der wichtigste sinnlich
erfahrbare Ausdruck der Zuwendung, neben dem körperlichen Kontakt. 11 8 S .
Das Besondere daran ist, dass das Baby von den ersten Kontakten an im Moment des
12
Blickkontaktes erkennt, was es an dem gegenüber an Gemeinsamen hat. Und zwar im
Ausdrucksverhalten des Gesichts, im mimischen Ausdrucksverhalten ganz besonders.
Musik 9: Luigi archetti&Bo Wiget: „Stück 5“ tr 5
Frau als Zitatorin:
Dein Ort ist,
wo Augen dich ansehen,
wo sich die Augen treffen
entstehst du
Von einem Ruf gehalten
immer die gleiche Stimme
es scheint nur eine zu geben
mit der alle rufen
Du fielest,
aber du fällst nicht.
Augen fangen dich auf.
Es gibt dich,
weil Augen dich wollen,
dich ansehen und sagen,
dass es dich gibt.
Sprecherin:
Hilde Domin
weiter Musik
O-Ton 24 Roman T.
41 5 S Ich versuche immer Augenkontakt zu bekommen. Und wenn es gelingt, ist es ne
besonders intensive Begegnung.
O-Ton 25 Claudia W.
52 Ich glaube meine attrakt / mein attraktives Gesicht ist sehr attraktiv - Kichern
O-Ton 26 Hans Belting
34.40 Ich beobachte zum Beispiel beim Zugfahren mit größtem Interesse und Faszination,
was Gesichter miteinander machen, wie sie die face-to-face-Situation bewältigen und wie
sie dabei miteinander kommunizieren
13
O-Ton 27 Claudia W.
47 Mein Gesicht ist oval, ich habe eine hohe Stirn, ich habe relativ kleine Augen, ne kleine
Nase, nen tollen Mund und schiefe Zähne
O-Ton 28 Petra B.
48 Ich hab volle Lippen, große Augen, eine Breitwurzelnase, dicke Augenbrauen.
O-Ton 29 Claudia W.
5 Es gibt ein Erschrecken über das eigene Gesicht, wenn ich mich im Spiegel betrachte
und aussehe wie meine Mutter.
Musikwechsel bei 1.09
Mann:
Das Gesicht ist eine Nacktheit. Es muss versteckt werden.
Ohne Versteck ist es unmöglich, mit einem Gesicht zu leben
Frau :
Um zu leben, muss es lügen. Das ist sein Beruf. Es muss sagen,
dass es einem gut geht und dass es in der Welt einen Platz gefunden hat.
Mann:
Man hat in dieser Welt ein Gesicht zu haben, ein möglichst gleichbleibendes.
Frau:
Es wird dressiert wie ein Pferd. Es macht nur eingeübte Schritte.
O-Ton 30 Hans Belting
16.08 Die Verhaltensmuster wie das Gesicht sich aufführt und benimmt, das ist auch
gesellschaftlich codiert. 4.38 Welche Bilder erzeugen wir im Gesicht und welche Bilder
verweigern wir mit dem Gesicht? 5.40 Der Ausdruck des Selbst kann auch darin bestehen,
einen Ausdruck zu verweigern, das heißt, einen Ausdruck zu fingieren oder das Gesicht zu
schließen gegenüber einem anderen.
Frau:
Die Frage ist doch, ob man vielleicht eines Tages gar kein Gesicht mehr besitzt.
Ob es nicht weggegangen ist von uns.
Mann:
Vielleicht sind die Menschen schon lange nicht mehr Bewohner ihres Gesichts?
Längst schon Monster?
Musik aus
14
Frau:
Vielleicht gehört den Menschen nur eine bestimmte Art von Gesicht. Dasjenige, das hinter
dem bekannten Gesicht liegt. Das, mit dem man seine Nächte verbringt.
Musik 10: Food: First Sorrow tr 1 bis max 1.28
Zitator:
Es gibt eine Menge Menschen und noch mehr Gesichter. Da sind Leute, die tragen ein
Gesicht jahrelang. Natürlich nutzt es sich ab und weitet sich wie Handschuhe, die man
lange getragen hat. Nun fragt es sich, was tun sie mit den anderen Gesichtern? Sie heben
sie auf, sollen ihre Kinder sie doch tragen. Vielleicht geht auch der Hund damit aus.
Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzten unheimlich schnell ihre
Gesichter auf, eins nach dem anderen. Mit kaum vierzig sind sie schon beim letzten. Sie
sind nicht gewohnt, sie zu schonen. Ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat schon Löcher.
Und dann kommt nach und nach die Unterlage durch, das Nichtgesicht und dann gehen
sie damit herum.
O-Ton 31 Hans Belting
19.40 Dieses Misstrauen setzt bei Rilke mit einem Ausdruck der Enttäuschung ein. Man
ist enttäuscht, man vermisst das tiefe, expressive Gesicht, das unvergängliche Gesicht,
das das Wesen des Menschen ausdrückt.
Frau:
Vielleicht bekommt jeder im Leben eine bestimmte Anzahl von Gesichtern zugewiesen,
rationiert wie Lebensmittelgutscheine im Nachkriegsdeutschland oder in der DDR.
Mann:
Vielleicht hat jedes Gesicht sein eigenes persönliches Verfallsdatum?
Musik aus
O-Ton 32 Valentin Groebner
25.00 Das Gesicht auf dem Plakat, wenn es nicht das Gesicht eines berühmten
Schauspielers oder einer Schauspielerin ist, sagt ja in gewisser Weise: Ich könnte du sein,
ich spreche in deinem Namen. Das ist genau dieser Effekt, dass die Gesichter einer oder
eines einzelnen plötzlich für ganze imaginierte Kollektive stehen sollen, nämlich für das
Gesicht der Konsumenten. Das, was für uns alle am einzigartigsten ist, denn
selbstverständlich sieht nur Valentin Groebner wie Valentin Groebner aus, wird plötzlich
zum Code, zu Chiffre für maximale Übertragbarkeit. Die Gesichter werden
Sammelgesichter.
15
Sprecherin:
Gesichter von Prominenten wie Steve Jobs, George Clooney oder Barak Obama gelten
dagegen als Ausdruck von Individualität und Chiffre für Kompetenz oder Attraktivität.
Die Politgrößen Marx, Engels, Lenin, Mao Tse-tung wurden überlebensgroß aufgeblasen.
Das Rote Buch, innen mit dem Foto des „Großen Vorsitzenden“ Mao Tse-tung: Fast so
bekannt wie die Bibel.
O-Ton 33 Hans Belting
30.58 Auf der einen Seite repräsentiert das Gesicht auf dem himmlischen Platz in Peking
nicht nur Mao selber, sondern das Volk. Das ist ein Individualgesicht des Kollektivs China.
Auf der anderen Seite hat Andy Warhol, als er das in den Massenmedien abgebildet
gesehen hat, daraus einen Markenartikel gemacht, indem er das Gesicht Maos als
Klischee genommen hat für ein Massenidol 32.10 Im Cyberspace passiert jetzt etwas
neues und interessantes und schwieriges, in dem man Gesichter herstellt, für die es im
Leben gar kein Äquivalent gibt. Das berühmte echte Gesicht, von dem man ein Bild macht,
wird endgültig in Frage gestellt.
O-Ton 34 Valentin Groebner
22.10 Wir neigen dazu, Bildern von Gesichtern in eine besondere Klasse psychisch
aufgeladener Gegenstände zu sortieren. Wenn sie sich umschauen in Büros, auf den
Armaturenbrettern von Autos, in Taxis, in Wohnzimmern. Überall sind Bilder von
Gesichtern. Es ist wie eine Art psychischer Möbel, die bewegt, umgestellt, besonders
arrangiert werden, aber mit denen man nicht alles machen kann.
Musik/Sound 11: Einvind Aarset: Close tr 1
start 6.08 auf Ende
Frau:
Das Bild eines ehemaligen Partners vernichten, es zerreißen und wegwerfen:
Mann:
Vom Gefühl her fast ein Mord. Mildernde Umstände allenfalls als Tötungsdelikt im Affekt.
Frau:
Die Angst, den Schmerz des Bildsubjekts im Augenblick des Zerreißens im eigenen Körper
wahrzunehmen.
Sound aus
16
Zitator:
Es sind nur 43 Muskeln, mit denen wir mehr als 10.000 Gesichtsausdrücke erzeugen
können - und ich habe alle gesehen. Ich bin bis nach Papua-Neuguinea und auf alle
Kontinente gereist. Es gibt keinen Ausdruck, den ich nicht kenne. Ich habe mit einem
Kollegen fast acht Jahre damit zugebracht, jeden einzelnen dieser Gesichtsausdrücke zu
fotografieren und zu codieren.
O-Ton 35 Valentin Groebner
6.50 Paul Ekman ist der Herausgeber der Schriften von Charles Darwin im späten 20.
Jahrhundert und Ekman bemüht sich, den praktischen Inhalt der sechs, bei ihm sieben
Grundausdrücke des Gesichts ganz praktisch zu verorten. Er sagt, wir können alles, die
geheimen Regungen eines Menschen aus kleinsten Bewegungen seines Gesichts
ablesen. Er sagt, das Gesicht verrät alles. Das ist ein Optimismus, der direkt aus dem 19.
Jahrhundert kommt.
Musik/Sound 12: Eivind Aarset: The Beauty of Decay tr 11
Mann:
Ich sehe ein Gesicht
Frau/Mann abwechselnd:
Nasenflügel, Wimpernschlag, Mundwinkelzucken, Kinngrübchen, Augenzwinkern
Wangenknochen, Nasenbeben,
Mann:
Augen, grün wie ein Bergsee
Musik aus
O-Ton 36 Valentin Groebner
26.08 Es gibt Gesichtermoden. Alle fünf bis zehn Jahren verändern sich die Gesichter, die
in deutschen Werbeanzeigen, vor allem auf Plakaten auftauchen. Manchmal sind mehr
symmetrische klassisch schöne Durchschnittsgesichter gefragt und mal mehr
asymmetrische, die wir eher mit auffälliger Typ verbinden. Offenkundig sind die Gesichter
eben nicht einzigartig, sondern sehr stark von den Wünschen der Macher und Betrachter
abhängig. 11.22 Vom Gesicht auf dem Bild führen starke, mit Identifikationsmechanismen
aufgeladene Kabel zurück zu dem, der das Bild anschaut.
17
O-Ton 36a Laurie Anderson:
I was sitting in a restaurant with a friend, and she was waiting for a new boyfriend to
arrive....
What makes the most ordinary face transform into an endless fascinating mysterious
landscape?
Sprecherin (Voice Over Laurie Anderson)
Ich saß mit einer Freundin in einem Restaurant. Sie wartete auf ihren neuen Freund. Wie
sie ihn beschrieb, schien er wie eine Art griechischer Gott auszusehen. Dann öffnete sich
die Tür und sie rief: “Das ist er“. Ich konnte es kaum glauben. Er sah so normal und
durchschnittlich aus. Warum werden wir blind, wenn wir uns in ein menschliches Wesen
verlieben? Was verwandelt selbst das gewöhnlichste Gesicht in eine mysteriöse unendlich
faszinierende Landschaft?
http://www.bbc.co.uk/programmes/p01lkylt
Zitator:
Die amerikanische Performancekünstlerin Laurie Andersen
O-Ton 37 Valentin Groebner
29.30 Die begehrte Person sieht, nachdem man sie geküsst hat und erst recht nachdem
man eine Nacht mit ihr verbracht hat, anders aus als vorher. Wenn das schon bei einer
anderen Person so ist, dass ich mich auf meine eigene Wahrnehmung nicht verlassen
kann, um wie viel stärker ist das mit der Person, die ich jeden Morgen im Spiegel sehe!
Musik und atmo des O-Tons aus bei 0.59
O-Ton 38 Ute Berendt
4 „Portrait“ ist ja ein Oberbegriff für relativ viel Arten von Abbildungen, wo Menschen drauf
sind. Das fängt ja an beim Selbstportrait, dann geht’s weiter zum Bewerbungsfoto, zum
journalistischen Portrait oder auch das künstlerische Portrait. 8 Bei mir in meiner
künstlerischen Arbeit ist ein Portrait dann gelungen, wenn ich nicht nur das Gefühl habe,
dass es mir was sagt, sondern auch den Betrachter mitreißen kann, wenn das Gefühl, das
ich habe, auch beim Betrachter ankommt.
Sprecherin:
Die Kölner Fotografin und Fotografiedozentin Ute Berendt
O-Ton 39 Ute Berendt
26 10 S Wenn ich Menschen fotografiere, dann muss ich versuchen, alle Dinge
gleichzeitig zu verstehen und in das Bild integrieren und das Bestmöglichste in relativ
kurzer Zeit heraus zu holen. Das heißt, ich muss sehr sensibel sein, mit den Menschen
Kontakt aufnehmen, mit denen spielen, ich nenn das immer „tanzen“, dass man wirklich
18
versucht, sich wie diese Leute zu bewegen und so ein Vertrauen aufzubauen, sodass man
es schafft, dass die Menschen sich öffnen, sich zeigen.
O-Ton 40 Ute Berendt:
54 Kameraverschluss etc - Kannst du mal in die Kamera gucken, jetzt ein bisschen mehr
zur Seite drehen. Ja und jetzt ganz ernst etc. Kannst du mal die Jacke ausziehen!?
Sprecherin:
Freitagnachmittag: Schools out. Im Atelier der Fotografin Ute Berend warten Lilly, Tara und
Lotte auf ihre Portraitsession. Die jungen Frauen sind siebzehn und achtzehn Jahre alt.
Sie haben schon öfter mit der Fotografin zusammen gearbeitet.
O-Ton 41 Aufnahmesession II
55 Und jetzt ein bisschen zu mir gucken. Ein kleines bisschen lächeln, aus dem Bild raus
gucken, ein bisschen über die Kamera rüber. o.k. Ja ein bisschen zur Seite drehen. Mach
mal die Augen zu – entspannen- ganz locker lassen ja, Danke.
Sprecherin:
Lilly bewegt sich vor der Kamera als hätte sie in ihrem Leben nie etwas anderes gemacht.
O-Ton 42 Lilly :
56 Ich hab nur das Gefühl, weil ich mich ja nicht von außen sehe, weil ich guck ja nicht in
nen Spiegel, ich weiß ja nicht wie das jetzt aussieht, was ich mache und ob es das ist, was
ich machen soll lacht
O-Ton 43 Aufnahmesession III
57 Dreh dich mal zur Seite. Ja so ist super - Mal nicht lachen. o.k.
O-Ton 44 a Ute Berendt
62 Lilly, ich zeig dir mal die Bilder. Das finde ich eigentlich ganz gut. Das können wir
vielleicht nehmen.
O-Ton 44 b Lilly
66 Ich find mich generell auf Bildern nicht besonders schön oder so. 73 6 S Man sieht sich
ja nicht selbst, sondern auf Fotos und im Spiegel und es ist irgendwie ein komisches
Gefühl und man fragt sich, ob ich immer so aussehe oder ob ich nur auf dem Foto so
aussehe. 76 Ich überleg grad, ob es ein Foto gibt, wo ich sagen kann, ja das bin ich, aber
ich würde eher sagen, dass es kein Foto gibt, wo man direkt sagen kann, dass bin ich, das
spiegelt mich komplett wieder.
19
O-Ton 44 c Lotte
77 Ich glaube, wenn man die Menschen fotografiert und die das nicht mit bekommen und
die so total in ihren Gedanken sind, dann kann man sagen, das ist ein Foto, das bist du,
das bin ich. Aber ich glaube, so eingestelltes Portrait, da ist das meistens eher so: das ist
jetzt so gestellt, weil ich das extra mache.
O -Ton rhythmischer Kameraverschluss 100 oder Ausschnitt Session
O-Ton 44 d Ute Berendt
13 5 S Wenn man den Menschen kennt, der auf dem Foto abgebildet ist, dann ist es
durchaus möglich, Wesenszüge zu erkennen. Das funktioniert über Erinnerung. 14 Wenn
der Mensch direkt vor einem steht, dann funktioniert da viel mehr. Bei einer ersten
Begegnung, kann man einen Menschen in Sekundenschnelle sehr präzise erfassen, auf
einer Fotografie aber nicht. 8 Man kann nur das fotografieren, was man sieht.
O-Ton 45 Valentin Groebner
16.45 Die Geschichte des fotografischen Portraits ist von Anfang an eine des Abscheus,
plötzlich etwas, was man an sich selber nicht sehen möchte, auf Glasplatte oder Papier
wieder zu finden: 18.50 „Das bin nicht ich“. Das Gesicht ist etwas, was man offensichtlich
nicht selbst kontrollieren kann.
O-Ton 46 Ute Berendt
34 Ich arbeite sehr oft mit Gegenüberstellungen oder auch Bildpaaren... Das mach ich
schon sehr lange so, weil mir das einzelne Bild immer ein bisschen zu wenig war. Wenn
man zwei Bilder nebeneinander hängt, dann passiert beim Betrachter noch mehr. Ich hab
das dann in meinen Buchkonzepten weiter ausgearbeitet O-Ton 48 Ute Berendt
31 Im Moment arbeite ich an einem Projekt, das heißt Bärenmädchen. Da geht es um
Mädchen in der Pubertät. Ich hab das Ganze an einer Geschichte aufgehängt. Da geht es
um einen Indianerstamm, in dem, wenn die Mädchen in die Pubertät kommen, sie isoliert
werden.
Musik 13: Indianische fieldrecordings
Frau als Zitatorin:
Die Mädchen leben etwas abseits vom Indianerdorf mit anderen Gleichaltrigen zusammen
und sind durch das Tragen der Felle vor den Blicken der Erwachsenen und der Jungs
geschützt. Es wird Ihnen sogar geraten sich besonders plump, eben wie ein Bär, zu
bewegen. In dieser behüteten Atmosphäre können sie sich ungestört entwickeln. Den
Zeitpunkt, an dem sie Ihr Fell ablegen, bestimmen sie selbst.
20
Ab da gehören sie zur Gemeinschaft der erwachsenen Indianerinnen.
Als ich dies neulich einer Freundin erzählte, meinte sie sich daran zu erinnern, von diesem
Stamm schon einmal gehört zu haben. Tatsächlich habe ich die Geschichte jedoch frei
erfunden.
Musik aus
O-Ton 49 Lotte
78 Wenn man so hört, die Geschichte von den Bärenmädchen, dann ist das schon so ein
bisschen komisch: Ja wie? was? So mit 'nem Bärenkostüm, das kann ich nicht ganz
verstehen. Aber wenn man sich so ein bisschen in die Geschichte hinein versetzt und
dann selbst im Wald ist, dann kann man sich das wirklich ganz gut vorstellen. Man
versteht auch die Idee dahinter.
Sprecherin:
Die Mädchen haben die Geschichte für das Projekt von Ute Berendt fotografisch
nachgestellt. Lotte beschreibt ein Bild aus dem Zyklus, das ihr besonders gut gefällt:
O-Ton 50 Lotte
82 Einmal ist der Kontrast in den Farben, weil das eine Foto schwarz-weiß, das andere
farbig ist. Und ich finde, beide Fotos strahlen so eine spezielle Ruhe aus. 84 48 S Neben
der Ruhe sehe ich da auch ein Stück Verletzlichkeit, weil es ist ja schon ein bisschen
merkwürdig, wenn da ein Mädchen alleine im Wald rumliegt auf einem Baumstamm. Auf
diesem Foto sehe ich, auch wenn ich im Vordergrund bin, relativ klein aus und auf dem
Foto daneben ist da auch so eine minikleine Feder auf einem endlosen Boden.
Sprecherin:
In der Gegenüberstellung von Portrait und Naturszene setzt Ute Berendt den heiklen
Übergang vom Mädchen zur Frau vorsichtig ins Bild. Die stillen oder verschlossenen
Gesichter der unterschiedlichen Mädchen spiegeln kombiniert mit den Szenen in den
Bärenkostümen diesen zerbrechlichen Reifungsprozess.
98 Atmo Atelier still 91 Atmo Gehen im Raum 96 Atmo Kamera mit Blitz-Piep
Atmo Kameraverschluss rhythmisch 100
Musik/Sound 14: Amon Tobin: Horsefish tr 6 ab 4.22
Frau:
Die Röntgenaufnahme des eigenen Kopfes anschauen. Die leeren Augenlöcher, den Kopf
als Knochen, die Zahnreihen. Wo plötzlich ein Gesicht war, ist plötzlich der Tod.
21
Mann:
Wenn sich der Tod so deutlich im Gesicht zeigt, zeigt sich das Leben genauso deutlich?
Frau:
Manchmal sieht man beim Blick in uneitle Gesichter von nicht besonders hübschen
Menschen in Augen von großer Tiefe. Fast ein Sich Entfernen aus der Welt.
Mann:
Durch die Welt gehen ohne gesehen zu werden...
Am schönsten wäre es, eine Form der Unsichtbarkeit einzunehmen
Frau:
Vielleicht könnte das Wort Stille das Gesicht am besten beschreiben.
Ein gewissermaßen lautloses Gesicht.
Sprecherin:
Donnerstagnachmittag. Auf der Probebühne des Kölner Schauspielhauses. Keine
Requisiten, kein Bühnenbild. Ein großer schwarzer Kubus mit einem schwarzen Podest in
der Mitte. Nicola Gründel und Robert Dölle spielen Szenen aus dem Stück „Im Kopf von
Bruno Schulz“, nach einer Novelle von Maxim Biller. Die Geschichte des 1943 ermordeten
jüdischen Zeichners und Schriftstellers Bruno Schulz.
Musik aus
O-Ton 51 Robert Dölle/Nicola Gründel:
91 Robert: Die Szene fängt damit an, dass Bruno über die Angst redet, mit der er quasi
den ganzen Tag verbringt und in die Schule mit ihr geht und sie ihm ständig über die
Schulter schaut und dann geht er zu den Nutten. Nicola: Und nur in dem Moment ist die
Angst weg. Robert: Und wenn er bei den Nutten ist und geschlagen und misshandelt wird,
wo der normale Mensch sagt, das ist ganz furchtbar, so misshandelt zu werden, aber
diese körperliche Erniedrigung ist für ihn ein erträglicherer Zustand als die normale
Situation, die ihn immer begleitet, Nicola: die qualvoll ist.
O-Ton 52 Szene 1 Probenbühne: „Im Kopf von Bruno Schulz“ tr 78 0.00 bis 1.30
„Die Angst und ich gingen zusammen in Sisofskys Teestube, sie begleitete mich ins
Gymnasium und schaute mir über die Schulter, während mir die Jungen niedergeschlagen
ihre misslungenen Tierzeichnungen und die schwarzen Gipsmodelle ihrer kleinen
niedlichen Köpfe zeigten. ...“
O-Ton 53 Robert Dölle/Nicola Gründel:
88 kurzer sechs Sek-Atmovorlauf 89 Nicola: Wir haben einen Turnsaal, an dem sich die
beiden schon zehn Minuten abgearbeitet haben und ich als dominante Sportlehrerin, die
22
sie ein bisschen quälen kann und da, wo wir jetzt eingestiegen sind, das ist die
personifizierte Angst, die mit Bruno Schulz spricht. 89 Robert: Das Ziel war in die
komplette Erschöpfung zu kommen und aus der Erschöpfung heraus zu spielen. Schon zu
diesem Zeitpunkt auf nem Level zu sei, wo sich die Figur ständig befindet. Auch durch das
Lied, wo ich jedes Mal, wenn ich das gesungen haben, an so nen Punkt komme im
Gesicht, wo es anfängt, weh zu tun und es ne Überwindung kostet, so an der Rampe zu
stehen und das Lied zu singen. Das hat auch mit ner Überwindung von Scham zu tun, wo
man aber trotzdem sagt: Schaut mich an, schaut mein Gesicht an!
O-Ton 54 Nicola Gründel:
90 Diese Wechsel der Figuren, die man ja auch in dem Fall sehr klar künstlich mit dem
Gesicht herstellt, sind sehr lustvoll, die Wechsel zwischen dominanter Geliebten,
verrückter Schwester, Schüler, der frech mit dem Lehrer umgeht oder der personifizierten
Angst.
O-Ton 55 Szene 2 Probenbühne: „Im Kopf von Bruno Schulz“ tr 82 0.00 - 0.29
Sie sagte: 'Du warst heute nicht in der Schule. Deine Schüler haben in deiner Abwesenheit
die ausgestopften Tiere zerstört und in den Lichthof geworfen. Deshalb sollst du heute
noch vorbeikommen und dir deine Strafe abholen...
O-Ton 56 Robert Dölle
44 Der mimische Ausdruck oder die Dynamik des Gesichts entsteht natürlich in der
Auseinandersetzung mit dem Text und wenn der Text gut geschrieben ist, dann entsteht
der Ausdruck beim Sprechen aus dem körperlichen Ausdruck und der Konzentration, den
man nicht am Spiegel üben kann, wo man sagt, da reiß ich die Augen auf und da fang ich
an, zu lächeln. Es kommt aus der Spannung zwischen der Gehirnleistung, diesen Text zu
meistern und dem Gefühl.
O-Ton 57 Nicola Gründel
46 Für mich hat Verwandlung im Schauspiel ganz viel zu tun mit den Gedanken. Und der
macht was mit dem Körper und dadurch auch mit dem Gesicht. Es braucht eine große
Durchlässigkeit der Emotionen, die Situation mit dem Spielpartner oder die Situation in der
Szene.
O-Ton 58 Hans Belting
10.23 Die Griechen hatten sogar den gleichen Begriff für Gesicht und Maske, nämlich
prosopon. 10.06 Es gibt immer drei Schauspieler, die wechselnde Masken aufsetzen. Die
Maske ist ein Typ, der auf der Bühne gespielt wird. Es gibt kein Theater ohne Masken.
Sprecherin:
Der Bildforscher Hans Belting
23
O-Ton 59 Hans Belting
10.20 Wenn wir jetzt in die Neuzeit gehen, ändert sich etwas grundsätzlich. Das antike
Theater kommt auf die Bühne zurück, aber ohne Kunstmaske, ohne vergrößernde,
vergröbernde, typologische Maske. Das heißt, das echte Gesicht des Schauspielers muss
die Rolle der Maske übernehmen, die in der Antike die getragene Maske, die Kunstmaske
ausgeübt hat. Und damit ändert sich der Ausdruck des Gesichts.
O-Ton 60 Nicola Gründel
51 Ich hab mal Onkel Wanja gespielt. Wir waren nur drei Spieler und hatten jeweils
sozusagen eine menschliche Figur und eine Maskenfigur. Ich war einmal die Jélèna und
die alte Njànja. Die alte alte Njànja war eine riesige Maske mit ner großen Nase, einer
riesigen wallenden weißen Mähne und hatte so was von ner kleinen Hexe fast. Und der
ständige Wechsel von der Jéléna, der schönen Frau, die alle wollen, die aber sehr
unglücklich ist und der alten Frau, die dieses Haus beherrscht, war sehr spannend.
O-Ton 61 Nicola Gründel/Robert Dölle
52 atmo Lachen Robert: 'Das würd'st du gern raus finden, wie das funktioniert mit der
Schauspielerei!' Nicola: 'wenn das so einfach wäre, mit einem Manual zu erlernen':
Zitator :
Denke daran, dass auf der Theater-Bühne alles übertrieben ist. All die Emotionen in
deinem Gesicht müssen noch deutlicher sichtbar sein als normalerweise. Wenn du das
Gefühl hast zu übertrieben zu spielen, ist es wahrscheinlich gerade genug, um beim
Publikum anzukommen. Die Augen, ein Lächeln und verschiedene Gesichtsausdrücke
müssen größer und dramatischer sein.
Sprecherin:
Görges Schauspielmanual
O-Ton 62 Robert Dölle/Nicola Gründel
55 Robert: Ja, das ist die Frage, ob man alles wahnsinnig übertreiben muss. Und dass
man natürlich viele Dinge vergrößern muss, gerade im Theater, aber eigentlich versucht
man die ganze Zeit, nicht zu viel zu machen, weil der Zuschauer ja mitarbeiten muss und
wenn du zu viel machst, nimmst du dem Zuschauer die Arbeit ab und dann sitzt er da und
interessiert sich nicht. Man muss an diese Linie gehen und dann sagen: Der Rest gehört
jetzt euch. Nicola : Es ist auch unterschiedlich in welchem Raum man spielt. Wenn man
zum Beispiel im kleinen Container, der „Grotte“, hier bei uns im Schauspiel Köln, spielt,
kann man so reduziert wie im Film spielen und die große Bühne im Depot 1 braucht eine
ganz andere Mimik. 56 Bei Bruno Schulz ist das so, dass wir mit der Groteske, dem
Surrealen und dem Absurden sehr stark gearbeitet haben und dadurch auch der mimische
Ausdruck viel, viel größer ist als normalerweise.
24
Musik/Sound15 : Amon Tobin: Horsefish
tr 3 3.45 evtl. erst ab 1.23
Frau:
Das Gesicht, das ich habe und das Gesicht, das ich mache
.
Mann:
Zeigen und Offenbaren, Täuschen und Verhüllen. Das sind die Lieblingsrollen des
Gesichts
Frau:
Erst Blick und Stimme erwecken ein Gesicht zum Leben. Es setzt sich i n S z e n e .
Mann:
Auch stumme Gesichter können sprechen.
Sound aus
O-ton/Atmo 62 b: Bergmans „Persona“ in Schwedisch ab 48.35
O-Ton 63 Nicola Gründel
58 Wenn man keinen Text hat, ist man genauso aktiv wie wenn man Text hat. Das läuft viel
übers Zuhören. Man hat ja trotzdem ein Leben auf der Bühne in dem Moment und das ist
genauso lebendig, wenn man nicht spricht.
O-Ton 64 Hans Belting
29.20 Bei Ingmar Bergmann hat mich fasziniert, dass seine Gesichter fast nur aus
Großaufnahmen bestehen und dass er damit ein bestimmtes Thema anspricht: dass das
stumme Gesicht im Vergleich mühelos siegt über das redende zweite Gesicht.
Atmo aus
Musik 64 b: Bernard Hermann: Taxi Main Theme start 0.38
Sprecherin::
Gesichter haben eine enorme Suggestivkraft. Besonders Im Kino: Der müde
Augenaufschlag der großen Filmdiven im Cinéma noir, das freche Augenblinzeln einer
Shirley McLaine, der dämonische Blick eines Warren Bates, der unschuldige
Augenaufschlag Audrey Hepburns.
O-Ton 65 Robert Dölle/Nicola Gründel
25
59 Robert: Wenn du gute Schauspieler siehst, sind sie, obwohl sie nur stehen, in der
Lage, dir einen Close up zu suggerieren, den es im Theater nicht gibt. Aber richtig gute
Schauspieler können dafür sorgen, dass Sie das Gefühl haben, dieser Schauspieler ist
ganz groß im Bild. Vielleicht ist einem das selber mal gelungen, jetzt habe ich das Gefühl,
dass ich alles auf mich bündel ohne dass ich viel mache über eine Spannung und ein
inneres Aufgeladen Sein. Musik 16 aus 60 30 Nikola Es ist sehr schwer zu
beschreiben. Es hat auch viel mit Intuition zu tun. Wenn man zu sehr von außen guckt,
dann spielt man nicht mehr, das geht auch nicht. Robert: Dieser Moment, wo man zu der
Figur wird, wo einem Dinge passieren, die man nicht geplant hat: wo kommt das denn her,
warum hab ich das plötzlich anders gespielt als letzte Woche Montag? Das sind eigentlich
die Momente, auf die man hin arbeitet, die man aber nicht planen kann. 62 Man kann an
sich üben, das Stück probieren und dann aber im freien Fall, wo man aber trotzdem weiß,
wohin man fliegen möchte, hofft, dass was es dann übernimmt , dass es dann
spielt.
O-Ton 66 Szene 3 Probenbühne: „Im Kopf von Bruno Schulz“ tr 79 0.00 – 1.24
„Doch kaum war er draußen, setzte sich die Angst erneut in seinem Bauch fest. Ja, dort
saß sie am liebsten, ein großer grauer warmer Klumpen, der sich unaufhörlich rasselnd
drehte ...“
O-Ton 67 Nicola Gründel/Robert Dölle
64 Nicola: Ich kann's nur so formulieren, dass ich wenig über mein Gesicht nachdenke,
wenn ich spiele, weil es geht um viel Inneres, was dann über das Gesicht nach außen
getragen wird. Robert: Und man sollte im allerbesten Fall auch immer beim Partner sein,
mit dem man spielt. Spielen auf der Bühne und im Film hat sehr viel damit zu tun, dass ich
gucke, wie Nicola mich jetzt anschaut, ob sie lächelt oder nicht, wie sie reagiert darauf und
man nicht die ganze Zeit seine Ausdrücke verwaltet, sondern beim anderen bleibt und
versucht diese Energie miteinander zu behalten im Spiel. 65 Nicola: Schauspielen auf der
Bühne ist einfach eine konkrete Version des Lebens. Darum geht es ja, wir erzählen
Geschichten aus dem Leben, wir versuchen das eben zu bündeln auf die Bühne und was
jetzt hier zwischen Ihnen und mir, zwischen Robert und mir passiert, das ist eigentlich
auch schon Schauspiel, wenn man's auf die Bühne setzen würde. Von daher ist es wie
eine kleine Lebensbühne.
Musik 17: Food: Earthly Carriage tr 8
Frau:
Das Gesicht bleibt im Laufe des Lebens dasselbe, aber es ist nicht mehr das gleiche.
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Mann:
Es ist der nackteste Ort und der maskierteste. Es liegt im toten Winkel der eigenen
Wahrnehmung.
Frau:
Das Gesicht ist ein Paradox. Es gehört uns und gleichzeitig den anderen. Ohne deren
Blick existiert es nicht.
Mann:
Diese Empfindung, der einzige unter sieben Milliarden Menschen zu sein mit diesem
Gesicht, diesem Körper, mit dieser Stimme.
Frau als Zitatorin:
Wir bleiben lebenslang Kinder und legen bis zum Tod die Köpfe in den Nacken, um den
Ausdruck auf den Gesichtern der Erwachsenen zu entziffern.
Harold Brodkey nur Manuskript
Zitator:
Abends auf dem Marktplatz glühten Gesichter
von Menschen, die ich nicht kannte. Gierig
betrachtete ich die menschlichen Gesichter:
Jedes war anders, jedes sagte etwas,
versuchte zu überzeugen, lachte, litt.
Ich dachte – nicht die Häuser bilden die Stadt,
nicht Plätze, Boulevards, Parks, breite Straßen,
sondern die Gesichter, leuchtend wie Lampen,
wie die Brenner von Schweißern, die in der Nacht
in Wolken von Funken Eisen reparieren.
Adam Zagajewski nur Manuskript
Musik 18: Amon Tobin: tr 1
Sprecherin:
Showroom Gesicht – Bühne des Lebens und Tarnkappe
von Burkhard Reinartz
Zitator:
mit der Fotografin Ute Berendt, dem Schönheitschirurgen Thomas Galla, dem
Kulturwissenschaftler Hans Belting, der Performance-Künstlerin Laurie Anderson, den
Schauspielern Nicola Gründel und Robert Dölle, dem Historiker Valentin Groebner, der
Säuglingsforscherin Mechthild Papoussek und vielen anderen.
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Sprecherin:
mit Zitaten aus dem Buch „Fremde Bühnen“ von Gisela von Wysocki sowie Texten und
Gedichten von Adam Zagajewsksi, Paul Ekman, Rainer Maria Rilke, Wolfgang Borchert,
Maxim Biller und Hilde Domin,
Zitator: Es sprachen: Anja Lais, Guido Lambrecht, Sigrid Burkholder und Bruno Winzen
Sprecherin: Ton und Technik: Eva Poepplein und Roman Weingardt.
Zitator: Regie: der Autor
Sprecherin: Redaktion: Klaus Pilger
Zitator: Produktion: Deutschlandfunk 2016
ENDE
Literatur:
Gisela von Wysocki: „Fremde Bühnen. Mitteilungen über das menschliche Gesicht“
Europäische Verlagsanstalt Hamburg 1995
Hans Belting: Faces – Eine Geschichte des Gesichts
C.H Beck Verlag München 2013
Valentin Groebner: Ich-Plakate – eine Geschichte des Gesichts als
Aufmerksamkeitsmaschine Fischer Verlag 2015
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