14 MEINUNG & DEBATTE Neuö Zürcör Zäitung Samstag, 17. Oktober 2015 b-msne-oe-50-xM Fototable 211.8*146.9 mm FLÜCHTLINGSDEBATTE IN DEUTSCHLAND NZZ 17.10.15, S. 14 Putin und China Anforderungen der Wissensgesellschaft Das chinesische Phantom Träges Bildungswesen Gastkommentar von SÖREN URBANSKY Seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts und der Verhängung westlicher Sanktionen sucht der Kreml politisch, ökonomisch und militärisch stärker denn je den Schulterschluss mit China. Diesem geopolitischen Bündnis begegnen viele Russen mit Angst vor einer demografischen Überfremdung ihrer fernöstlichen Landesteile. Dort sind seit dem Ende der Sowjetunion vielerorts Chinesen anzutreffen. Ganz gleich, ob die Chinesen zu einem der vermeintlich «traditionellen» Typen von Immigranten, Wanderarbeitern, Geschäftsmännern gehören oder nicht – allenthalben schlägt ihnen neben Bewunderung auch Verachtung entgegen, die sich aus einem historisch kultivierten Misstrauen speist. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts rang Russland China ein grosses Territorium am Amur und am Pazifik ab. Dies bedeutete jedoch keineswegs das Ende chinesischer Einflüsse. Knapp eine Viertelmillion Chinesen siedelten vor dem Ersten Weltkrieg im Fernen Osten Russlands – rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung der Region. Doch verstärkte Grenz- und Migrationskontrollen, die Verschlechterung der ökonomischen Rahmenbedingungen und schliesslich die umfassende Repatriierung unter Stalin liessen die Zahl der in der Sowjetunion lebenden Chinesen auf wenige tausend schrumpfen. Auf eine lange Eiszeit folgten 1989 die Normalisierung der bilateralen Beziehungen und die Öffnung der Grenze. Importe von Konsumgütern und Lebensmitteln aus China retteten die Menschen der von Moskau im Stich gelassenen Region. In den folgenden Jahren strömten immer mehr Chinesen in den Fernen Osten Russlands. Sie fanden Beschäftigung als Gemüsearbeiter, Holzfäller, Händler oder Bauarbeiter. Viele blieben für eine Saison, manche länger, als ihr Visum gültig war. Erstaunlich wenige heirateten oder schlugen anderweitig Wurzeln. Wissenschafter beziffern, je nach statistischer Methode, die Zahl der heute in Russland länger als einen Monat verweilenden Chinesen auf weniger als eine halbe Million Menschen – rund die Hälfte davon im Fernen Osten. Seit Russlands Wirtschaft in die Rezession abgerutscht ist, steigt die Zahl der chinesischen Touristen sprunghaft. Hingegen ist die Zahl der Händler und Saisonarbeiter aus dem Nachbarland rückläufig. Die Einwanderung von Chinesen nach Russland zu spätzaristischer und zu postsowjetischer Zeit weist demnach sowohl Parallelen als auch Unterschiede auf: Die Zahl der Migranten ist absolut gesehen relativ ähnlich, heute aber, bedingt durch eine insgesamt höhere Einwohnerzahl, im Verhältnis gesehen weitaus geringer als vor 1917. Chinatowns, die es im asiatischen Russ- land einstmals gab, haben keine Renaissance erlebt. Der Durchschnittsimmigrant der spätzaristischen Welle war ein für mehrere Jahre oder permanent auf russländischem Territorium lebender Arbeiter. Seit dem Ende der Sowjetunion überwiegen hingegen Händler und Arbeiter aller Art, die sich nur relativ kurzzeitig in Russland aufhalten bzw. zwischen China und Russland hin und her pendeln. So ist es kaum verwunderlich, dass trotz den strukturellen Unterschieden die russische Furcht vor der «Überfremdung» durch chinesische Migranten ihren Ursprung im ausgehenden 19. Jahrhundert hat. Während der Perestroika verbesserte sich das sowjetische China-Bild vorübergehend. Die Euphorie der Umbruchszeit war indes von kurzer Dauer. Die politische und die ökonomische Umwälzung führten in Russland zu einer Unsicherheit, auf deren Boden die alte Schreckensvision einer Sinisierung des Fernen Ostens wieder aufblühte und den Blick für Chancen der Nachbarschaft verstellte. Insbesondere der angeblich unkontrollierte Zustrom von Chinesen belebte alte Feindbilder. Politiker und Journalisten stellten Chinesen als Schmuggler, Wilderer und Mafiosi, vor allem aber als eine amorphe Masse dar, die wie Ungeziefer über das hilflose Russland herfällt. Seit Ende der 1990er Jahre ist die sinophobe Stimmungsmache in den russischen Medien zurückgegangen. Wichtige Gründe hierfür sind die stärkere zentrale Kontrolle der Presse und die zunehmend engere Verflechtung der beiden Staaten auf politischer und ökonomischer Ebene. Die Einsicht des beiderseitigen Nutzens einer grenzüberschreitenden Kooperation hat sich in den bilateralen Handelsvolumina und in der von Moskau und Peking propagierten Freundschaftsrhetorik niedergeschlagen. Sie setzt sich auch in bestimmten Kreisen der russischen Bevölkerung immer stärker durch. Junge Russen aus den Grenzgebieten studieren in Harbin oder Peking. Der Erwerb chinesischer Sprachkenntnisse macht sich heute eher bezahlt als ein Soziologiestudium. Sie kommen auf diese Weise in Kontakt mit einem Land, das weniger von negativen Stereotypen belastet ist, da es nicht mehr nur aus Grenzbasarhändlern und Wanderarbeitern besteht. Eine demografische Überfremdung seiner asiatischen Territorien muss der Kreml nicht fürchten. Doch dank seinem wirtschaftlichen wie militärischen Aufstieg hat Peking Moskau geopolitisch längst den Rang abgelaufen. Die Zeit wird zeigen, ob diese Entwicklung Chance oder Gefahr für die Zukunft des Fernen Ostens Russlands ist. Sören Urbansky ist Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gastkommentar von HANS ZBINDEN 1798 war es, in der kurzen Zeitspanne der Helvetik. Da mahnte der damalige Minister für Erziehung und Kultur, Philippe Albert Stapfer, bei der Ausarbeitung des ersten Volksschulgesetzes: «Primär muss die Sicht aufs grosse Ganze Vorrang haben – im Geiste eines zu schaffenden Esprit public, eines Gemeinsinns der ganzen Bürgergesellschaft.» Diese Forderung von damals ist angesichts des verstärkten Standortföderalismus und des komplexer gewordenen Bildungswesens inzwischen noch dringlicher geworden. Zwar zählt die Schweiz laut internationalen Vergleichsstudien seit Jahren zur Spitzengruppe der innovativsten Länder der Erde. Sie verdankt diese Position nicht zuletzt auch ihrem gut ausgebauten Bildungswesen. Doch dieser erste Blick übersieht oft, dass unser Bildungsnetzwerk zugleich auch zu den teuersten weltweit gehört. Nicht zuletzt als Folgen seiner luxuriösen Infrastrukturen und seines professionellen und gesellschaftlich geschätzten Lehrpersonals. Aber auch merklich bedingt durch seine komplexen demokratisch-föderalen Strukturen, Gremiengeflechte und administrativen Mehrspurigkeiten. Sie machen das Ganze schwerfällig und kaum steuerbar. Und nicht zuletzt: Die letztlich damit erbrachten Schülerleistungen fallen im internationalen Vergleich durchzogen aus, meist ordentlich gut, aber nie spitzenmässig. Im Weiteren fällt dabei auf, wie sich bei uns die sozialen, ethnischen und regionalen Ungleichheiten bei den Bildungschancen weiterhin verfestigt haben. Auch die Ausschöpfung des Begabungspotenzials ausländischer Zuwanderer ist unzureichend geblieben. Und der inländische Fachkräftemangel ist mittlerweile chronisch geworden. Diese zwiespältige Bilanz hinderte den Staatssekretär des SBFI, Mauro dell’Ambrogio, jedoch nicht, den Forderungen nach einer gemeinsam durchdachten und breit abgestützten nationalen Bildungsstrategie selbstgefällig eine Absage zu erteilen. Im Zeitalter der Wissensgesellschaft leisten wir uns den Luxus, den Bildungsföderalismus mit seinem kollektiven Wissen und seinen vielfältigen Erfahrungen zu wenig für das ganze Bildungswesen zu nutzen. So weiss es denn heute gar nicht, was es eigentlich wissen könnte! Es gibt weder ein gemeinsames Organisationsgedächtnis noch ein Wissensmanagement von Bund und Kantonen. So fehlt etwa ein gemeinsam betriebener «Bildungsradar». Mit ihm würden die vielerorts praktizierten Neuerungen der Bildungsbereiche gezielt gesammelt und geordnet, um sie anschliessend als Good-and-best-practice-Modelle allen interessierten Kreisen zugänglich zu machen. Doch die- ses kollektive Lernen im Zeitalter der Wissensteilung widerspricht diametral dem gängigen Motto: «Jeder lernt für sich und gegen die andern!» Als hätte der verstärkte Standortföderalismus die verfasste bundesstaatliche Kantonsgemeinschaft in eine Konkurrenzveranstaltung unter eigensinnigen Mitgliedern umgewandelt! So bauten alle Kantone auf kostspielige Weise immer mehr Vollangebote an Diensten und Leistungen auf. Von der Bildungsverwaltung über Planungsabteilungen, Beratungsdienste und Reformprojekte bis hin zu 18 kantonalen pädagogischen Hochschulen. Ausgeprägtes Gegenwartsdenken und verstärkter Standortföderalismus verleiteten die bestehende Bildungspolitik dazu, den Blick in die Zukunft des schweizerischen Bildungswesens zu verkürzen und zu verengen. Entgrenzung der institutionalisierten Lern- und Bildungsräume: Die bisherigen Lern- und Bildungsprozesse in abgegrenzten, stationären, stabilen und strukturierten Schul- und Lernräumen verschwimmen. Die Schule wird so immer mehr nur noch als ein zwar wichtiges Lernumfeld neben anderen wahrgenommen. Ergänzt wird es durch informelle Lern- und Bildungsräume im familiären, nachbarschaftlichen und urbanen Alltagskontext der Menschen. Die Zukunft gehört deshalb integralen Bildungslandschaften mit koordinierten formalen, non-formalen und informellen Bildungsangeboten. Digitalisierungskonzept für das Bildungswesen: Neueste Studien belegen, dass das Bildungswesen mit seinen Institutionen und Mitgliedern heute der am weitesten fortgeschrittene Gesellschaftsbereich auf dem Weg zur «digitalen Reife» im Umgang mit digitalen Werkzeugen ist. Doch die Möglichkeiten und Grenzen der damit verbundenen Herausforderungen pädagogischer, kultureller, politischer und finanzieller Art sind noch nicht ausreichend konzeptionell durchdacht und in praktikable Programme gegossen. Ermöglichung von Hybridmodellen (duale und triale Komponenten, Kombinationen von Ausbildung und Arbeit) auf den Stufen der nachobligatorischen Bildung: Die in der Schweiz politisch vorgegebene Aufteilung auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe in zwei strikt getrennte binäre institutionelle Pfeiler (Allgemeinbildung und Berufsbildung) ist angesichts der real stattfindenden wechselseitigen Imitationen prospektiv zu überwinden. Mittels Projekten mit intelligenten Kooperations- und Hybridmodellen (Kombinationen Ausbildung und Arbeit, duale Hochschulen und Maturitätsschulen, triale Modelle von Betrieb, Berufsfachschule, Hochschule). Hans Zbinden ist Bildungswissenschafter und Präsident der Eidgenössischen Fachhochschulkommission. Er war Initiant der neuen Bildungsverfassung von 2006.
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