Chinesisches Neujahr im Bruderhaus

Aus der Dieselgeschichten-Sammlung
der Dieselpensionierten Winterthur
Eine Dieselgeschichte geschrieben von Albert Sennhauser im 2015
Chinesisches Neujahr im Bruderhaus
Ende der siebziger Jahre und anfangs 1980 kamen verschiedene Delegationen aus China
zur Ausbildung nach Winterthur, um für den Lizenzbau unserer Dieselmotoren gerüstet zu
sein. Diese Gruppen umfassten zwischen 20 und 30 Personen. Sie wurden von drei Werken, die schon Motoren bauten, also Schanghai, Dalian und Yichang (wo inzwischen der
bekannte Dreischluchtendamm gebaut wurde) abgeordnet und immer von mindestens einem Leiter und einem Übersetzer begleitet. Diese Instruktionsphasen dauerten mehrere
Wochen, sogar bis drei Monate, und stellten grosse Anforderungen an das Personal von
Sulzer Winterthur. Untergebracht waren sie meistens im sogenannten Hegihaus, einer einfachen Unterkunft zwischen Oberwinterthur und eben Hegi gelegen.
Speziell die erste Gruppe bedeutete für beide Seiten eine grosse Herausforderung. Die
Chinesen waren noch in der bekannten Uniform mit den auffallenden Schirmmützen bekleidet. Sie traten immer geschlossen auf, nur ein „Kassier“ hatte einen Geldbeutel und
bestritt alle Ausgaben. Während den Ausflügen wurden auch die Ansichtskarten von ihm
eingekauft und verteilt.
Die ersten Tage waren ein gegenseitiges Abtasten und dies konnte zu speziellen Situationen führen. Zum Beispiel fehlte am Abend das sulzerinterne, umfangreiche Telefonbuch.
Am nächsten Morgen war es wieder an seinem Platz. Mitglieder der Delegation mussten
es während der Nacht von Hand kopieren. Sie hätten es einfacher haben können, denn
ein Exemplar gehörte zur Dokumentation, die wir ihnen an diesem Tag übereichten.
Langsam aber sicher herrschte Tauwetters und man kam sich etwas näher. Das war auch
ein Verdienst der verschiedensten Sulzer Mitarbeiter, welche die fachliche Ausbildung
durchführten oder durchführen mussten. Der Delegationsleiter blieb aber lange auf Distanz, auch wenn er sich zum Liebhaber von „Livella“ (Rivella) entwickelte.
Auch ich kam zu immer besseren, individuelleren Kontakten. Meine Frau und ich durften
sogar ein typisches, chinesisches Bankett in ihrer Unterkunft im Hegifeld geniessen. Die
ganz Gruppe war mit einkaufen, kochen und dekorieren beschäftigt sowie dem Aufsetzen
von Trinksprüchen die dazu gehörten. Das nahm den ganzen Samstag in Anspruch.
Eine schwierige Aufgabe war, die Gruppe an Abenden und Wochenenden zu beschäftigen.
Wir versuchten, den „Unterhaltungsteil“ so zu gestalten, dass wir in der Lage waren, die
Einladungen über die gesamte Aufenthaltsdauer zu verteilen. Die Gefahr bestand, am Anfang zu übertreiben und gegen Schluss abzubauen. Kein guter Aufbau für eine lange dauernde Beziehung!
Da natürlich sprachliche Probleme bestanden, versuchten wir sie, mit Spielen oder Ausflügen zu unterhalten. Das hatte aber auch seine Tücken. Einmal waren wir zum Kegeln in
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Trüllikon. Unsere Gäste hatten keine Ahnung davon, und schon gar nicht was ein „Sandhase“ war (Abgabe der Kugel ausserhalb des Leitstreifens). Sie schmissen die Kugeln etwas gar rassig und unkontrolliert auf die Kegel los. Der Wirt hatte deshalb gar keine Freude
an unserem Auftreten und komplimentierte uns bald einmal zum Ausgang.
Eine weitere Abwechslung organisierten wir in und um die alkoholfreie Waldschenke auf
dem Brühlberg, oberhalb von Wülflingen. Das beliebte Rivella floss in Strömen. Ein Spielparcours, eine Art Olympiade, etwa zehn Posten umfassend, war eingerichtet mit Postenchefs von Sulzer besetzt. Wieder einmal möchte ich sagen, opferten, immer etwa dieselben, ihre Freizeit. Alle hatten den Plausch. Mit grossem Einsatz wurde um Punkte gekämpft, das Sprachproblem war beseitigt und nichts deutete auf Probleme hin. Das Siegerpodest mit Medaillenverteilung, einem Goldvreneli für den Sieger, ein Grosserfolg.
Nun kam noch mein Auftritt mit dem Verleihen des bei uns üblichen Trostpreises. Der letzte
Wettkämpfer war aber der kein Wort englisch sprechende Direktor von Shanghai Shipyard,
ein vollkommen humorloser und von den Delegationsmitgliedern eher gefürchteter Mann.
Derart vorgeführt zu werden, bedeutete für diese stolze Persönlichkeit den totalen Gesichtsverlust und für mich das Begehen des ersten grossen Fehlers in meiner langen „Chinalaufbahn“. Er war am nächsten Tag noch etwas distanzierter als sonst und liess es mich
auch später spüren. Zu meinem Glück verlor der Preisträger und Herrscher der Werft urplötzlich seinen Posten und die Sache war für mich bereinigt.
Auch heitere Begebenheiten waren nicht selten. Spätere Delegationen waren nicht mehr
so strikte geführt und es kam vor, dass sie paarweise in den Ausgang gingen. So ein
Grüppchen wollte meinen Rat, weil die Auswahl des Essens ab deutschsprachiger Speisekarte nicht einfach war. Ich erlaubte mir, meinen „Trick“ bei Auslandreisen weiterzugeben. Augen zu und mit dem Zeigefinger auf irgendeine aufgeführte Mahlzeit tippen. Das
leuchtete ihnen ein, und sie nahmen das Wochenende in Angriff. Am Montagmorgen kamen sie, schon von weitem grinsend, auf mich zu. Sie hatten meinen Rat befolgt. Serviert
wurden diesen beiden Abstinenten zwei Flaschen Wein!
Nun aber zum Chinesischen Neujahr hier in Winterthur, und zwar gefeiert im einsamen,
winterlichen Bruderhaus. Eine fröhliche, illustre Gesellschaft von Chinesen und Sulzeranern hatte sich versammelt, um das Jahr des Ochsen zu verabschieden und das des
Schweines zu begrüssen. Unsere Gäste wollten uns zeigen, wie so eine Feier bei ihnen
abläuft und es wurde, je länger der Abend dauerte, eine feuchte, laute Angelegenheit. Die
üblichen drei Gläser, gefüllt mit Bier, einer Art Malaga sowie dem unverzichtbaren Maotai
(siehe Bemerkung), hatte jeder Teilnehmer vor sich stehen. Besonders dem Maotai, dem
hochprozentigen Schnaps aus Hirse und Weizen destilliert, sollte zugesprochen werden.
Das obwohl die Chinesen ihr Stargetränk eigentlich gar nicht lieben, übrigens von den
Amerikanern gerne als Raketentreibstoff bezeichnet, und am nächsten Tag petrolähnlich
aufstossend, wurde beidseitig kräftig, mit Sprüchen und Gesang begleitet, zugeprostet und
konsumiert.
Die toleranten Wirtsleute waren sicher nicht unglücklich, als Mitternacht sowie das neue
Jahr der Chinesen erreicht waren. Wir verzogen uns nach draussen und plötzlich zauberten die Chinesen eine stattliche Anzahl von Feuerwerkskörpern hervor. Besonders ihre
kurzstieligen, kaum kontrollierbaren Raketen kamen zum Zug. Speziell gefeiert wurde eine
Rakete, die nach dem Knall, durch ein unter dem First liegendes Fenster in das Zimmer
eines weiblichen Wesens flog, welches uns sehr kurz darauf, leicht bekleidet, ihr Missfallen
kundtat.
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Weil ich wusste, dass es die Chinesen lieben, ihr Neujahr mit einer grossen Knallerei zu
feiern, hatte ich auf meiner vorhergehenden Reise vorgesorgt. Ich erstand in China eine
Knallkörperkette („Schwärmer“) von etwa 2 Meter Länge, jeder 5. Schuss davon ein dickeres Kaliber. Ob ich den Transport per Handgepäck oder Koffer wagte, weiss ich nicht mehr.
Eines ist aber sicher, dass das heute zu einem Zwischenfall beim Einchecken führen
würde.
Da ich nicht informiert war, dass sich auch unsere Gäste mit Feuerwerk eingedeckt hatten,
glaubte ich die grosse Überraschung nicht mehr bieten zu müssen und wollte meine Salve
bei einer anderen Gelegenheit einsetzen. Auf Wunsch aller Anwesenden schritt ich jedoch
zur Tat, hängte die Kette über einen Ast und gab das Feuer frei. Maschinengewehrartig
dröhnte es durch die Nacht, es wollte kein Ende nehmen. Grosser Applaus. Ein schöner
Abschluss. Die Chinesen zu Tränen gerührt. Mich aber beschlich ein ungutes Gefühl. Werden wir nun mit Reklamationen überrannt? Sie blieben aus! Ende gut, alles gut?!
Leider nein! Als ich am nächsten Morgen meinen Wagen benützen wollte, stellte ich fest,
dass er übersäht war mit kleinen Kügelchen, welche sich in den Lack gebrannt hatten.
Fazit: Strafe muss sein, da es ja auch kein Versicherungsfall war!
Bemerkung zu Maotai nach Wikipedia:
Chinesischer Schnaps welcher auf Getreidebasis hergestellt wird und deshalb mit Kornbrand und Wodka
verwandt ist. Hauptsächlich wird Hirse und Weizen verwendet. Die Alkoholkonzentration beträgt zwischen
50 und 65 Vol. %. Für die meisten Westler sind der starke Geruch und Geschmack gewöhnungsbedürftig.
Kissinger verglich angeblich Maotai mit Kerosin, als er an Banketten mit diesem Getränk konfrontiert wurde.
Teil der Trinkkultur sind vielfach Trinkspiele bei denen der Verlierer ein Glas zu leeren hat.
Der Verfasser ALBERT SENNHAUSER, Jahrgang 1932, trat 1975, als 43-jähriger, in die Lizenz-Abteilung
von Sulzer Diesel ein. Das nach Auslandaufenthalten für internationale Organisationen, wie die UNESCO in
Pakistan, Indien, Korea und Swisscontact in Peru. Er unterstützte den Leiter des Lizenzwesens bei der Evaluation, Planung sowie der Ausbildung von potentiellen und neuen Lizenznehmern. Nach dem Rücktritt seines Chefs übernahm er weitgehend dessen Aufgaben unter Beförderung zum Vizedirektor. Nach der Gründung von New Sulzer Diesel wurde er Mitglied der siebenköpfigen Geschäftsleitung als stellvertretender
Direktor. Ende 1998 trat er in den Ruhestand.
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