«Diese Rechnung geht nicht auf» (SonntagsZeitung vom 29.11.2015; http://www.sonntagszeitung.ch/read/sz_29_11_2015/nachrichten/Diese-Rechnung-geht-nicht-auf-50213) Nach der Kritik aus konservativen Kreisen kommt jetzt die Kampfansage der Linken: Für sie ist der Lehrplan 21 praxisfern, viel zu teuer und politisch nicht legitimiert Bern Jetzt wird sogar Remo Largo ungeduldig. Der berühmteste Schweizer Erziehungsratgeber, Kinderarzt und Buchautor sagt: «Es ist höchste Zeit für das Eingeständnis, dass wir einen kostspieligen und nicht kindgerechten pädagogischen Irrweg eingeschlagen haben.» Kam die Opposition gegen den Lehrplan 21, das neue Regelwerk für die Schulen der Deutschschweizer Kantone, bisher in erster Linie aus der SVP, formiert sich nun auch breiter Widerstand aus liberalen und linken Kreisen. Eine Gruppierung von SP-Politikern, linksliberalen Professoren und Lehrern schaltet sich mit einer 30-seitigen Streitschrift in die Debatte ein. «Einspruch!» lautet der Titel der Kampfbroschüre. Die Oppositionsgruppe agiert unter Federführung des Bieler Lehrers und GLP-Politikers Alain Pichard, der bereits das lehrplankritische Memorandum «550 gegen 550» initiierte. Zum rund 20köpfigen Autorenteam der Streitschrift gehören die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz, der ehemalige Parteipräsident der SP Basel, Roland Stark, sowie Walter Herzog, emeritierter Professor am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Bern, und Roland Reichenbach, Zürcher Uniprofessor und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung. Zu Wort melden sich auch die Politologin Regula Stämpfli, der Publizist Beat Kappeler, der Philosophieprofessor Peter Bieri, Autor des Bestsellerromans «Nachtzug nach Lissabon», sowie Bestsellerautor Remo Largo. Öffentliche Debatte wurde nie geführt Der neue Lehrplan werde durchgedrückt, «ohne dass irgendein Parlament oder eine demokratisch legitimierte Instanz dazu irgendetwas sagen konnten», lautet die Kritik. Der neue Bildungsentwurf sei politisch nicht legitimiert. Es handle sich um ein behördlich in die Welt gesetztes Dokument – eine öffentliche Debatte habe nie stattgefunden. Bisher war der Lehrplan 21 ein Expertenprojekt, das vor allem die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) interessierte. Die Zentralinstanz des Schweizer Bildungsföderalismus verordnet den Schulen mit dem neuen Regelwerk eine Radikalkur. In allen 21 Deutschschweizer Kantonen soll künftig ein einheitlicher Lehrplan gelten. Gleichzeitig hält in den Schulstuben ein neues Bildungssystem Einzug: Der Lehrplan beschreibt nicht mehr, welche Inhalte die Lehrer unterrichten sollen, sondern welche «Kompetenzen» die Schüler beherrschen müssen. Nach offizieller Zählung enthält der neue Lehrplan 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen. Dabei sollen nicht mehr Lösungen von Problemen gelehrt werden, sondern der Prozess des Problemlösens. Die Schüler sollen nicht Wissen lernen, sondern «reflektieren». Das Modewort findet sich im 480-seitigen Werk nicht weniger als 146-mal. Auch sonst zeigt sich der Lehrplan auf der Höhe des Zeitgeists: Der Begriff «nachhaltig» taucht 76-mal auf. Die Kritiker zweifeln, ob sich Kompetenzen überhaupt so aufbauen lassen, wie es der Lehrplan vorgibt. «Es gibt keine wissenschaftliche Untersuchung, die das belegt», sagt Alain Pichard. Der Bieler Lehrer und seine Mitstreiter fürchten vor allem, dass künftig «Standardisierung und Testerei» den Schulalltag prägen werden. Denn der Lehrplan schafft die Voraussetzung für nationale Leistungskontrollen. «Es ist absehbar, dass im Unterricht nur noch behandelt wird, was zum guten Abschneiden in den Tests nötig ist», sagt Pichard. Das sogenannte selbst gesteuerte Lernen sei im Lehrplan 21 Trumpf, kritisiert die Opposition weiter. Das benachteilige ausgerechnet die schwachen Schüler. Mit ihrer Streitschrift, die in einer Auflage von 1000 Exemplaren gedruckt wird, wollen die Lehrplankritiker eine «längst fällige öffentliche Diskussion» anstossen. Kein bisher bekannter Lehrplan mache «dermassen rigide Vorgaben» wie das neue Regelwerk, halten sie fest. Diese «überbordende Detailliertheit» zeige, dass der Lehrplan zu einem «Kontrollorgan» umfunktioniert werden solle, um Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung zu nehmen. Der Lehrplan 21 «ist Auswuchs einer Bildungspolitik, die sich masslos überschätzt, ihre Kompetenzen sträflich überschreitet und der Schule damit mehr Schaden als Nutzen zufügt», sagt der Erziehungswissenschaftler Walter Herzog. Es droht ein grosser Flickenteppich Bereits in 13 Kantonen laufen Volksinitiativen gegen den Lehrplan 21. Das jüngste Beispiel: Im Kanton Zürich wurde die Initiative am Freitag eingereicht. In den Komitees sitzen besorgte Eltern, skeptische Lehrer und Politiker mit SVP-Parteibuch. Die Argumente der Volkspartei gegen den Lehrplan sind teilweise die gleichen, wie sie jetzt linksliberale Kreise formulieren: praxisferne, umstrittene Kompetenzorientierung, massive Eingriffe in die Methodenfreiheit der Lehrer und steigende Kosten. Bereits heute leistet sich die Schweiz weltweit eines der teuersten Bildungssysteme. Der neue Lehrplan bringe einen weiteren Kostenschub, sagt Pichard: «Das Geld fliesst in Strukturreformen, Weiterbildungen, Testentwicklung und neue Lehrmittel. Es fliesst in die Taschen der Pädagogischen Hochschulen und von Bildungsexperten.» Die Schweizer Bevölkerung hat 2006 Ja gesagt zu einer Harmonisierung der Schulen. Eine Annäherung der Bildungssysteme sollte verhindern, dass in Zukunft ein Umzug von einem Kanton in den anderen für Eltern und Kinder in einem Bildungsfiasko endet. Die Schweizer stimmten einem Verfassungsartikel zu, der vorsieht, dass das Schuleintrittsalter, die Dauer der Schulstufen, deren Ziele und Übergänge einheitlich sein sollen. Von einem Reform-Lehrplan, der nicht mehr auf Inhalte, sondern auf Kompetenzen beruht, war nicht Rede. Bislang, so Pichard, werde jede Kritik am Lehrplan 21 «in die konservative Ecke gestellt» und als «konservative Meinungsmache schubladisiert». Die Kampfansage von links soll das nun ändern. Nadja Pastega, Armin Müller
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