Die innere Nacht Lars von Triers Film „Antichrist“ ist ein drastisches Horrorstück, das die Tiefen menschlicher Ängste und Abgründe auslotet. Was ist Horror? Was ist Schmerz? Wie tief reichen die Abgründe der menschlichen Seele, oder anders gefragt: Wenn man davon ausgeht, dass sie bodenlos sind, was fin det sich an jenen Orten, an die kein Licht mehr dringt? Welche Bilder lassen sich von dort unten mitbringen? Lars von Triers Film „Antichrist“ inszeniert eine radikale Erkundung solcher Fragen. Schon die Namen der drei Hauptkapitel „Schmerz“, „Trauer“ und „Verzweiflung“ lassen ahnen, dass der dänische Regisseur hier das Tor zur Finsternis recht weit aufstößt. Am Beginn steht der Tod eines Kindes, das aus dem Fenster fällt, während die Eltern sich lieben – eine Freudsche Urszene schuldhaften Verlangens. Um seine Trauer zu verarbeiten, fährt das Paar (Charlotte Gainsbourg, Willem Dafoe) in eine einsame Waldhütte, die den Namen „Eden“ trägt. Dort aber geraten die beiden in einen Strudel aus gegenseitigem Misstrauen, Gewalt und Wahnsinn, aus dem kein Weg mehr zurück ins Leben führt. In Interviews bezeichnete Lars von Trier „Antichrist“ immer wieder als den wichtigsten Film seiner Karriere, eine filmische Therapie, die ihm aus einer schweren Depression half. Charlotte Gainsbourg, die in Cannes für ihre Leistung (und rückhaltlose Selbst entblößung) in diesem Film die Silberne Palme als beste Schauspielerin erhielt, erzählte ihrerseits davon, wie schwach und wenig zurechnungsfähig der Großmeister des dänischen Kinos während der Arbeit an diesem Film gewesen sei. Und so ist „Antichrist“ die Überführung der persönlichen, alptraumhaften Bilderlandschaft des Lars von Trier in den Kosmos des Horrorfilms – kein Genrefilm, wohl aber ein Spiel mit des sen Mitteln. Denn „Chaos regiert“, heißt es, und: „Die Natur ist Satans Kirche.“ Eicheln fallen aufs Dach der Waldhütte wie kleine Bomben oder ein perfider biblischer Hagel. Lars von Trier greift zu klassischen Horror-Stilmitteln, eine enge, verwackelte Kameraführung sugge riert immer wieder Desorientiertheit und Beklemmung. Trauer wird gezeigt als Sturz in die Negativität, die Symptome der leidenden Mutter ähneln denen eines Entzugs: Verzerrtes Hören, Schwindel, Zittern, ein trockener Mund – früh im Film geht die Seele den Weg über die Körperlichkeit, um aus ihrem Gefängnis in die Sichtbarkeit zu drängen. Der äußere Schmerz ist dabei nie genug, den Qualen der Seele niemals angemessen, so grausam er scheinen mag: Vor Trauer zusammengekrümmt schlägt die Mutter des toten Kindes die Stirn gegen die Kloschüssel, bis der Vater sie bändigt und gewissermaßen in den Wald verschleppt, um sie dort zu therapieren. Willem Dafoe spielt diesen gutmütig scheinenden Psychiater, unter dessen Oberfläche ein sadistischer Zug schlummert, mit gnadenloser Väterlichkeit. Er zeichnet eine Pyramide auf ein Blatt Papier, in die er die Hierarchie der Ängste seiner Patientin ein trägt, immer auf der Suche nach ihrer Spitze: Was steht ganz oben in der Pyramide? Der Teufel? Das Ich? Wo verlaufen überhaupt die Grenzen zwischen diesen beiden? Die Behandlung seiner privatesten Patientin nimmt die Gestalt eines Exorzismus an, in wun derschöne, oft märchenhafte Bilder gekleidet. Die Wälder sind ein Sinnbild der Angst, und auch sonst plündert Lars von Trier munter den Grimmschen Themenpark: Die Nacht, die Brücke, der Farn. Der Fuchs, die Krähe, das Reh: Hänsel und Gretel auf der Couch. „Eden“ ist ein Katalysator dafür, dass die Protagonisten ihre Grenzen und ihre Moral abwerfen, die kranke Einbildungskraft der Figuren entstellt die Idylle der Natur: Arme, Leiber und Beine ragen im Wald zwischen den Baumstümpfen hervor. Es sind Bilder wie von Hieronymus Bosch, Szenen der Apokalypse, die hier nichts anderes ist als die unauf haltsame Dynamik eines inneren Zusammenbruchs, die schließlich in logischer Folge in eine Marter der Körper mündet. Lars von Triers erzählerisches Genie liegt darin, wie er den kürzesten Weg zu den letz ten Dingen findet, zum existentiellen Wesen des menschlichen Schlamassels. Wie immer bei ihm sind auch hier alle Facetten des Daseins metaphysisch aufgeladen, doch „Antichrist“ bezieht seine Kraft noch mehr als von Triers frühere Filme aus der Konsequenz einer eklatanten künstlerischen Grenzüberschreitung. Ist das pathetisch? Unglaublich. Lässt sich der Von-Triersche Symbolismus überhaupt noch ertragen? Die Antwort ist seltsamerweise ein entschiedenes „Ja“. Denn was von diesem Film bleibt, sind nicht die Bilder von Verstümmelung und auch nicht die der Masturbation oder der Ejakulation von Blut. Es ist das einer menschlichen Befindlichkeit, der jeder Schutz abhanden gekommen ist und die daher nichts anderes sein kann als nackt. Aus dem selben Grund greift auch die gerne wiederholte Kritik an von Triers „Frauenbild“ zu kurz: Denn hier geht es nicht um Weiblichkeit, sondern um Leid, nicht um Abhängigkeit, sondern um Einsamkeit, und nicht um Rollenmuster im Kampf der Geschlechter, sondern um eine zutiefst menschliche Sehnsucht nach Erlösung und damit dem Tod. Auch formal versucht „Antichrist“ immer wieder, Grenzen zu überschreiten: Die Verzweiflung verursacht Klänge aus den Abgründen einer technoiden Hölle, Geräusche dringen aus dem Inneren des Kopfes. Wie bei Edgar Allan Poe perpetuiert der Alptraum sich selbst, wie bei David Cronenberg führt die Marter über das gewaltsame Zusammenfügen von Fleisch und Metall. Trotz allem: Was als beängstigender Trip in die dunklen Schächte menschlicher Verirrungen angelegt ist, findet sein erlösendes Prinzip in einem aus Splatter-Filmen hinlänglich bekannten Effekt: „Antichrist“ findet den Punkt, wo der Horror umschlägt in Lachen, wo die Misshandlung der Körper letztendlich komisch empfunden werden muss und beim Zuschauen Heiterkeit auslöst. Wer sich vor „Antichrist“ fürchtet, dem sei mit Nietzsche gesagt, dass dieser Film den „Geist der Schwere“ so zuspitzt, dass er letzt lich ins Gegenteil umschlägt und eine große Befreiung verkündet.
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