Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern

Book Reviews / CHRC  () –
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Wolfram Brandes und Felicitas Schmieder (Hrsgs.), Antichrist. Konstruktionen von Feindbildern. Akademieverlag, Berlin ,  S. ISBN   
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Die johanneische Prophezeiung, der zufolge es in der Endzeit einen Antichristen, oder sogar mehrere, geben würde, fand erst etwa zwei Jahrhunderte später
ihre Anwendung auf die konkrete Geschichte. In den Johannesbriefen selbst (I
Joh. ,; ,; II Joh. ) steht es nicht deutlich, wie historisch diese Endzeitgestalt eigentlich gemeint ist, ob es einen oder mehrere Antichristen gäbe, ob
es sich um eine Person, um eine Gruppe oder sogar um ein ganzes Volk handelt usw. Aber die konkrete Glaubensnot anlässlich geschichtlicher Ereignisse
hat zu den verschiedensten Spekulationen geführt. Im ersten Beitrag dieses
Sammelbands, ‚L’ombra dell’anticristo‘ von Marco Rizzi, werden zwei Gründe
genannt, aufgrund deren erst Irenäus und dann Hippolytos der AntichristErwartung eine unerhörte historische Prägnanz zuschrieben: ) die Verzögerung der Parusie erforderte eine theologische Erklärung, und ) die breite
jüdisch-christliche apokalyptische Vorstellungswelt des zweiten Jahrhunderts
erforderte eine durchgehende Christianisierung. Das Bemühen der wachsenden christlichen Gemeinde, sich den aufkommenden ‚häretischen‘ Lehren zu
erwehren, bildet den Hintergrund dieser akuten Naherwartung. Dabei ist zu
bedenken, dass der Antichristgedanke im weströmischen viel gegenwärtiger als
im oströmischen Reich gewesen ist. Es ist übrigens interessant zu beobachten,
dass ausgerechnet die Einführung dieses Bandes auf Italienisch ist, während
alle anderen Beiträge auf Deutsch verfasst wurden.
Dass das Antichristmotiv von den Verfassern breiter als nur christlich aufgefasst wird, zeigt schon einigermaßen der Untertitel. Und tatsächlich, wir
haben Aufsätze sowohl über den Antichrist im Denken mittelalterlicher Autoren während des ersten Kreuzzugs, als auch über das ‚Feindmotiv‘ in jüdischen
und islamischen Kreisen. Sogar Nietzsches Kritik des Christentums in seinem
Antichrist oder philosophisch-literarische Deutungen im russischen Kontext
des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts bei Solov’ev bzw. in den Protokollen der Weisen von Zion, werden analysiert. Die Artikel sind chronologisch geordnet. Das von den Beiträgen gebotene Material ist umfangreich,
die unterschiedlichsten Quellen werden herangezogen: lateinische, hebräische,
syrische, griechische, aramäische, russische, arabische usw. Es wundert, dass
erst ein (übrigens schöner) Text wie derjenige Kristin Skottkis, ‚Der Antichrist
im Heiligen Land,‘ im Rahmen einer Beschreibung apokalyptischer Feindidentifizierungen während des ersten Kreuzzugs die unerlässlichen einleitenden Bemerkungen zum Antichristmotiv machen muss, obwohl man sie schon
© Koninklijke Brill NV, Leiden, 
DOI: 10.1163/187124112X621248
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früher im Band erwartet hätte. Die Einleitung der Herausgeber bezieht sich nur
beiläufig auf diese fundamentale Problematik; sie erläutert die verschiedenen
Beiträge, ohne die Gelegenheit zu nutzen, dem Leser einen allgemeinen Überblick über die Thematik zur Verfügung zu stellen. Eine Reflexion des Ganzen
bleibt leider auch aus. Es wundert auch, dass wir erst im Aufsatz Skottkis vom
wichtigen Traktat aus dem zehnten Jahrhundert des Abtes Adso von Montieren-Der hören (S. ). Dieses Traktat setzt sich mit der ‚Lebensgeschichte’ des
Antichristen auseinander und fasst alle bis dato verfügbaren, sei es biblische
sei es nicht-biblische, Dokumente und Legenden zusammen, die sich auf ihn
beziehen.
Anscheinend hat in diesem Sammelband das Chronologische über das Systematische gesiegt. Letzteres geht auch daraus hervor, dass einerseits an verschiedenen Orten die innerchristliche Herkunft des Antichristen betont wird
und andererseits dass dem Buchtitel zufolge ‚Antichrist’ und ‚Feindbild’ überhaupt mehr oder weniger gleichgestellt werden. Nicht umsonst wird öfters
hervorgehoben, dass jedenfalls im Mittelalter das Antichristmotiv kaum oder
gar nicht angewandt wird, um außerchristliche Feinde, wie etwa den Islam,
zu bezeichnen (S. , ). Der Antichrist soll eben aus christlichen Reihen
hervortreten, obwohl nach dem soeben genannten Adso von Montier-en-Der
eigentlich „alle Juden“ zu ihm strömen werden. Die Herausgeber wollten vermutlich eine aktuelle Thematik (der interreligiösen Polemik oder der Islamkritik) anhand eines herkömmlichen christlichen Themas aufgreifen. Es bleibt
allerdings die Frage, ob der Antichristbegriff diesem Zweck dienen kann.
Die Aufsätze laufen die Geschichte ab dem siebten Jahrhundert durch, als
im jüdischen Sefer Zerubbabel das jüdische Pendant zum christlichen Antichristmotiv in der Gestalt des Armilos hervortrat, über das Mittelalter, bis in
die Neuzeit des Nietzscheschen, Solov’evschen und sogar Carl Schmittschen
Antichrist hinein. Obwohl in einem Buch über den Antichrist Nietzsche vielleicht nicht fehlen dürfte, ist es jedoch fraglich, inwieweit eine Erörterung
der Selbstbestimmung Nietzsches als Antichrist nicht ebenso beiträgt an eine
Inkommensurabilität in Bezug auf das Zentralmotiv. Während in allen sonstigen angeführten historischen Dokumenten die Antichristgestalt als eschatologischer Feind der christlichen Gemeinde erscheint, zieht Nietzsche sie geradezu zur Selbstbezeichnung und zur Kundgebung seiner radikalen Gegnerschaft zum Christentum heran. Da ‚Antichrist‘ schon immer eine Kennzeichnung des Erzfeindes, also eines Anderen, gewesen, ist es die Frage, inwieweit
Nietzsches Inanspruchnahme dieses Terminus für sich selbst nicht ein historisches Oxymoron wäre. Ähnliche Problemstellungen finden in diesem Buch
keine Lösung. Sie werden nicht einmal erwähnt.
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Man muss trotzdem zugeben, dass das Buch an sich ein technisch gelungenes Projekt darstellt. Es reicht hier, z. B. auf die eindrucksvollen farbigen Abbildungen hinzuweisen. Als solches bietet der Sammelband reiches und anregendes Material zum weiteren Studium und zur engeren Auseinandersetzung mit
dem Antichristmotiv.
Rico Sneller
[email protected]
Universität Leiden