Rezension Stegemann, Bernd (2015): Lob des Realismus. Berlin

List, Volker (2015): Stegemann, Bernd (2015): Lob des Realismus. – Rezension. PDF. Hüttenberg
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Rezension
Stegemann, Bernd (2015): Lob des Realismus. Berlin: Verlag Theater der Zeit.
211 Seiten
Die sogenannte Postdramatik ist am Ende.
Das ist Stegemanns bekannte Botschaft zu einer von vielen Spielweisen, die gern
nicht ganz zutreffend als DAS zeitgenössische bzw. Gegenwarts-Theater bezeichnet
wird (vgl. auch die beiden Rezensionen zu den 2015 erschienenen Büchern "Vielfalt
im Theater" und "Kinder- und Jugendtheater - Jahrbuch 2015 der ASSITEJ"). Dabei
ist diese dekonstruierende Spielweise gerade erst außerhalb eines relativ kleinen
Zirkels von professionellen Theater-Machern und Theater-Besprechern
angekommen, z.B. im Schultheater. [1]
Man mag ergänzen: Auch in sogenannten Bürgerbühnen scheint sie eine erneute
(erneuerte?) Daseinsberechtigung zu suchen. Bürgerbühnen, eine vermeintlich
demokratische Kunstbewegung von Experten des Alltags?
Stegemann rechnet erneut ab, nachdem er es bereits in „Kritik des Theaters“ getan
hatte, und er erinnert daran, „dass die Kunst in früheren Zeiten nicht nur an der
Verrätselung der Welt gearbeitet hat, sondern mindestens in gleichem Maße auch an
ihrer Sichtbarkeit und Verstehbarkeit. Alle künstlerischen Realismen waren sich in
zwei Punkten einig: Es gibt eine Realität, und wir können versuchen, sie zu
verstehen. Und es gibt eine künstlerische Erfahrung, die den Menschen ein
gemeinsames Erleben ermöglicht, das sie momentweise davon befreit, ihr eigenes
Leben als unverständliche Folge von Zufällen zu erleiden. Eine realistische
Darstellung hilft, die Welt begreifen und sich ihre Veränderbarkeit vorstellen zu
können.“ (8)
Stegemann beschreibt in vier leider wenig aussagekräftig formulierten
Kapitelüberschriften
1. Die Debatte um den Realismus
2. Realismus der bürgerlichen Klasse
3. Realismus der Situation
4. Berichte aus der Arbeitswelt
die Anknüpfungspunkte und Chancen eines Realismus in der theatralen Kunst.
Beispielhaft untersucht er Stücke von Ibsen, Hacks, Röggla, Jelinek und Pollesch auf
ihren Rätsel- und Realitätsgehalt hin und kommt zu einem erwartbaren Ergebnis.
Gleich in dem vorangestellten Zitat von Fernand Léger korrigiert Stegemann die
irrige Annahme, eine Darstellung des Realismus ginge nur als realistische
Darstellung: „Der realistische Wert eines Werkes ist vollkommen unabhängig von
allen imitativen Eigenschaften.“ (7)
In der Einleitung zu seinem Buch bringt Stegemann sein Anliegen schnell auf den
Punkt, ausgehend von der Annahme, dass „immer weniger Menschen (...) ein
kompliziertes Spiel akzeptieren wollen, dessen Regeln sie nicht durchschauen
dürfen“ (7). [2]
Stegemann beklagt, dass „am Ende des langen Jahrhunderts der Avantgarden“ der
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Begriff des Realismus so weit aufgelöst sei, dass mit ihm entweder „das polemische
Feindbild einer naiven Abbildung“ (wie des sozialistischen Realismus) gemeint sei,
„oder eben alles, was irgendwie in der Realität vorkomm(e)“ (wie die performativen
Künste). (10)
Der Dekonstruktivismus der Postmoderne zeige in seinem Relativismus nicht „eine
Kunst, die darstelle, dass die Realität eine von Menschen gemachte ist und sie
darum auch von Menschen dargestellt, verstanden und verändert werden kann,
sondern nun sind alle Realitätseffekte damit gemeint, die ein einzelner Betrachter als
realistisch empfinden kann“. (11) Damit entspreche die Postdramatik der Ideologie
des Neoliberalismus (vgl. Stegemann 2013).
Realistische theatrale Kunst habe in dialektischer Weise zu zeigen, dass die
Widersprüche des Lebens „nicht nur Probleme des Individuums sind, sondern sie
sind immer auch der Ausdruck für die gesellschaftlichen Widersprüche, in denen
man zu leben gezwungen ist.“ (11)
Diese systemischen Verhältnisse habe die Theaterkunst in Dramaturgie und
Darstellung so zu bearbeiten, dass die Verstrickungen des Individuums in Welt nicht
als schicksalhaft erscheinen, sondern als systemkonformes Verhalten, die an
entsprechenden Handlungen (nicht Tätigkeiten) erkennbar sei.
Henry James definierte die Aufgabe der Kunst einmal wie folgt: „Das Leben ist ganz
Beliebigkeit und Wirrnis; die Kunst ganz Unterscheidung und Auswahl.“
Damit gäbe die Kunst ihre ureigenste Kompetenz und Daseinsberechtigung ab, wenn
sie vor dem Relativismus der Gegenwart in die Knie ging, gar ihn nachbete, wie es
die Postdramatik in der Spiegelung des Neoliberalismus tue. Als theatral-politisches
Statement formuliert Stegemann: „Nur wenn das Kunstwerk, seine Umwelt und ihre
Betrachter in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, dass aufgrund der
künstlerischen Formung die Umwelt neu verstehbar wird, handelt es sich um
Realismus. Die pure Widerspiegelung ist ebenso realistisch wie die formale
Verfremdung. Die eine bestätigt das naive Verständnis der Welt, während die andere
die postmoderne Zersplitterung wiederholt. Erst wenn die Details erkannt werden und
zugleich einen Zusammenhang begreifen lassen, der mehr ist als die Details, wird
die Realität wieder realistisch gesehen.“ (12)
In Anlehnung an die Aussage „’Putting the Urinal back in the Restroom’“ (18) ließe
sich formulieren: Lasst die Ready-made-Kirche im Dorf und benutzt wieder die
theatralen Mittel, Techniken und Methoden aus der Dramaturgie-Schauspiel-RegieWerkzeugkiste gelernter und damit kompetenter Theater-Macher!
Was ist nun laut Stegemann die Aufgabe von Kunst: „Realismus ist, wenn er eine
kritische Kunst ist, immer der Versuch, die Produktionsverhältnisse so sichtbar zu
machen, dass ihre Auswirkungen auf die Arbeit und das Eigentum sichtbar werden
können.“ (31) Die Postdramatik helfe jedoch „die Ideologie des Marktes immer tiefer
in die Seelen (zu treiben), je freier sich der Einzelne fühlt.“ (31)
Wir erkennen das daran, dass erwirtschaftetes Kapital bzw. Ersparnisse beim
Durchschnittsmenschen immer weniger in die Wertschöpfungskette (re-)investiert
wird, sondern mit diesem Geld spekuliert wird. Die Telekom-Volksaktie und ihr
desaströses Scheitern geben ein Beispiel von dieser Haltung. Der Gedanke, nichts
mehr arbeiten zu müssen und von seiner Rendite leben zu können, ist doch allzu
verführerisch für uns Menschen und hat viele Klein- und Mittelstandsbürger und
Gemeindekämmerer zum Glauben(!) verleitet, sie könnten es professionellen
Spielern (Banken, Konzernen usw.), die mit fremdem Geld spielen, gleichtun. Ich will
nicht verschweigen: Ich habe mitgemacht. Und auch verloren. Ganz so, als ob unser
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Glaubensbekenntnis aus dem Gedanken gespeist war: Man müsse nur alle Armen
beseitigen, dann gebe es nur noch Reiche. Wer hier eine gewisse Nähe zu
faschistischem Gedankenschlecht (nicht -gut) sieht, liegt wohl eher richtig als falsch.
Wem das politisch zu direkt formuliert ist, der gehe bitte den Umweg über die Lektüre
des Lalen-Buches, lese die Erfahrungen der Schildbürger nach oder betrachte sich
einfach Bilder zum Schlaraffenland.
An dieser Stelle setzt die Ethik ein. Und welche Chance die bisher hatte, muss man
nicht weiter analysieren bei einem Blick auf die Konflikte in der Welt.
Stegemann zeigt beispielhaft auf, wie auch die zerfallende Sowjetunion mit Hilfe der
„neoliberalen Schockstrategie“ dekonstruiert wurde und sich wenige Oligarchen in
kürzester Zeit das Volkseigentum zu Spottpreisen aneignete. Dabei laufe der
gewaltsame Umbau der Volkswirtschaften immer nach dem gleichen Muster von
Staatskrise, Intervention des IWF und Schwächung von sozialen Verbänden ab. Der
langjährige Chefökonom der Weltbank und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph
Stieglitz formuliert das so: „Nur ein Blitzkrieg während eines ‚Gelegenheitsfensters’,
für das ein ‚Übergangsnebel’ sorgt, kann die Veränderungen herbeiführen, ehe die
Bevölkerung eine Chance hat, sich zu organisieren und ihre zuvor als berechtigt
angesehen Interessen zu verteidigen.“ (Klein: 36)
Dem aufmerksamen Zeitgenossen werden sofort Ähnlichkeiten zu den Vorgängen
um TTIP, CETA, TISA usw. auffallen.
Stegemann will mit einer realistischen Kunstbearbeitung und Darstellung die durch
die Postmoderne verlorene Kraft des Theaters zur Bearbeitung gesellschaftlichpolitischer Themen zurückgewinnen. Er kritisiert die verengte Perspektive des
sogenannten postdramatischen Theaters auf die Welt, die als selbstbezüglich –
sprich: selbstreferenziell – die realen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr
wahr(!) nehme, geschweige so bearbeite und darstelle, dass sie von einem Publikum
entschlüsselt werden könnten.
Es gibt keine Kunst an sich und die Angst von Theatermachern, wenn Theater in der
Schule unterrichtet würde, dass dabei die Kunst auf der Strecke bliebe, folgt nur der
bürgerlichen (Angst-)Ideologie, es gäbe im Zeitalter des absoluten Individualismus
auch so etwas wie absolute Kunst. Verschließt doch diese unbegründete Angst auch
die Augen vor dem Fakt, dass Musik und bildende Kunst auch an Schulen und(!)
Universitäten unterrichtet werden, damit die angehenden Künstler überhaupt erst
einmal das Handwerkzeug ihrer Künste erlernen, bevor sie mit dem Anspruch in die
Welt treten, Künstler zu sein. Das ist anders z.B. bei den Absolventen des
Fachbereichs der Angewandten Theaterwissenschaftler in Gießen. Sie haben keine
Schauspiel-, keine Dramaturgie- und keine Regieausbildung; sind Wissenschaftler. –
Der Genie-Kult war schon immer Ideologie, und die Preise, die beispielsweise
aktuelle Kunstwerke auf dem Anlegermarkt erzielen, haben bestenfalls etwas mit der
Kunst (besser: Kompetenz) des Geldanlegens zu tun, liefern also auch keine
Rückschlüsse auf die Qualität dieser Kunst.
Stegemann zeigt auf, dass die „Wahrnehmungsspiele“ postmoderner Paradigmen,
die Unterbrechung, das Re-entry (‚Experten des Alltags’) und die Selbstreferenz –
die Beschäftigung der Kunst mit sich selbst – ihre Grenzen findet im mangelnden
Sinn (62), der physischen Dimension, in der Schwere der Körper beim Tanz, der
zeitlichen Dauer, z.B. überlanger Pausen oder in der Wahrnehmungskapazität der
Zuschauer, die sich über- oder unterfordert fühlen. Die „geheimnisvolle Wahrheit der
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Kunst“ läge darin, dass sich am Ende nur die „gesteigerte Gegenwart während der
Beobachtung ereignet hat.“ (73) Mehr nicht.
Dennoch sucht Stegemann eine Antwort auf die Frage: Was kann „der Realismus
von den Experimenten mit der Sensibilität anderes lernen, wenn er sie aus der reinen
Lehre der Sinnverweigerung befreit?“ (63) Was passiert, wenn man
die „Aktivierungsabsicht der Avantgarden, Kunst und Leben ineinander zu
führen“ (73) nicht akzeptiert als ein „Programm zur Selbstoptimierung, zu der alle
Mitglieder und alle Kunstwerke spätmoderner Gesellschaften aufgerufen sind“,
sprich: der „allzeit reaktionsbereiten Service- und Kunsumkraft, die der neoliberale
Markt dringend braucht.“? (73) [3]
An Henrik Ibsens „Volksfeind“ (Inszenierung Thomas Ostermeier an der Berliner
Schaubühne) erläutert Stegemann theatrale Formen, die ein neuer Realismus
aufgreifen soll. Er rekurriert dabei auf Brechts episches Theater, das die Zuschauer
in eine Haltung bringe, in dem sie „die privaten Muster des Verhaltens probeweise
durchbrechen und dadurch zu neuen Haltungen zur Welt kommen.“ (153) Dadurch,
dass die Zuschauer durch lautstarke Kommentare von Darstellern im Zuschauerraum
„selbst hinter die Vierte Wand geraten“ und somit die Fiktion entsteht, selbst Teil der
Volksversammlung zu sein, „können sie sich nun beteiligen. Und sie sind ein wenig
entlastet von der Scham der öffentlichen Sprechens und der Angst, etwas vielleicht
politisch Folgenreiches zu sagen, und können nun ernsthaft und doch innerhalb des
Spiels eine Haltung beziehen.“ (154) Das sei ganz und gar das Gegenteil des
Dilemmas einer theatral gerahmten und damit nur behaupteten Authentizität
sogenannter Experten des Alltags (Rimini Protokoll, Bürgerbühnen) – sprich: Laien –
die doch nur für Zwecke des Theaterapparats benutzt würden und eher
Vorführcharakter besäßen als die Kraft für eine Inspiration zu Veränderungen. „Das
Verfahren des Realismus müsse die hypothetischen Realitäten der dramatischen
Situation (nützen), um einen gemeinsamen Erfahrungshorizont zu erzeugen, auf
dessen Grundlage ein Konflikt zwischen den verschiedenen Realitäten der
Zuschauenden stattfinden kann.“ (156)
In der Fußnote 62 bringt Stegemann die Sprengkraft dieser realistischen
Theaterkonzeption auf den Punkt, wenn er den Einwand eines
Zuschauerkommentars aufgreift, es sei doch alles ‚nur’ Theater, also bedeutungslos,
und diesem attestiert, aus seinem Bewusstsein ein folgenloses ästhetisches Spiel
gemacht zu haben. Wie die Postdramatik, möchte man ergänzen.
Ein entscheidender Knackpunkt in Stegemanns ansonsten präziser Kapitalismuskritik
und der Bearbeitung durch das Theater bleibt die Frage: Ist die individuelle Gier der
meisten Menschen, wenn sie eine Gelegenheit wittern, sich einen Vorteil zu
verschaffen oder zu bereichern, die Ursache der desaströsen Verhältnisse und
verstellt sie den Blick auf die Ursachen in den systemischen Zusammenhängen des
Wirtschaftssystems (Produktionsmittelbesitzer eigenen sich den Mehrwert an und
induzieren eine unendliche – neuerdings digitale – Geld-/Reichtumsvermehrung
gegenüber den Nicht-Produktionsmittelbesitzern, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen
können)?
Das scheint wieder die Frage nach Huhn und Ei.
Denn ohne die Fähigkeit des Menschen, sein Potenzial auch der Vorteilsnutzung
kreativ zur Methode zu machen und damit zu systematisieren, gibt es auch kein
System der institutionalisierten Vorteilsnahme mit seinem ideologischen
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Verschleierungsüberbau (jeder kann reich werden; vom Tellerwäscher – heute AppEntwickler – zum Millionär; ersatzweise Lotto für Menschen mit geringen
Kompetenzen).
Wo genau will Stegemann mit seinem neuen alten realistischen Theater ansetzen,
wenn nicht bei der aufklärerischen für die Zuschauer nachvollziehbaren theatralen
Darstellung der von Menschen gemachten Systemzusammenhänge?
Dass Jelinek das mit ihren ‚Kontrakten des Kaufmanns“ nicht macht, beschreibt er
überzeugend. Stegemann fordert letztlich vom Einzelnen – vom System mit der
falschen Ideologie indoktrinierten – er möge doch bitte sein falsches Bewusstsein
ablegen und sich das richtige zulegen. Darüber, wo das aufklärerische Moment
ansetzen soll, haben wir uns schon lange den Kopf zerbrochen.
Warum leckt sich der Rottweiler die Eier? Weil er’s kann.
Warum nutzt der Mensch einen Vorteil? Weil er’s kann.
Warum produziert der Mensch Waffen? Weil er’s kann.
Warum benutzt er sie? Weil er’s kann.
Warum ist der Mensch gierig? Weil er’s kann.
Warum baut der Mensch Systeme und Ideologien drumherum? Weil er’s kann; und
um seine wahren Absichten zu verschleiern.
Warum hilft der Mensch dem Menschen (nicht)? –
Das ist Evolutionsbiologie.
Die auf die Biologie aufgesetzte Ethik hat Alfred Grosser bereits sehr zutreffend in
Bezug auf die politischen Systeme als Schönwetter-Demokratie bezeichnet oder mit
anderen Worten: Nur wenn es dem Menschen (wirtschaftlich) recht gut geht, dann ist
er auch bereit zu teilen. Wenn er das Gefühl hat, seine Interessen und Bedürfnisse
weitgehend befriedigen zu können, ist er friedfertig und solidarfähig, andernfalls
übernimmt wieder das Reptilienhirn die Regie.
Wir kennen die Diskussion aus der Neurowissenschaft, die sich mittlerweile ziemlich
sicher ist, das der Verstand tatsächlich nur eine Hure ist und die im Menschen
angelegten Bedürfnisse und Wünsche im Nachhinein rechtfertigt und ihnen eine
entsprechende versprachlichte Ideologie verpasst.
Was kann auf diesem Hintergrund eine Schönwetter-Kunst wie das Theater
überhaupt bewirken; oder gegen einen Block-Buster wie „Tribute von
Panem“ ausrichten?
Was haben nun Stegemanns teilweise tiefgründigen geschichtlich-philosophischen
Exkurse, seine zutreffenden Beschreibungen der aktuellen Machenschaften im
sogenannten Finanzsektor und seine detailgenauen Aufführungsanalysen aktuell
gespielter Stücke mit Schultheater und Theaterunterricht zu tun?
So viel ist klar. Wir müssen beim Menschen anfangen. Weil es nicht anders geht.
Und zwar da, wo der Mensch zum Menschen wird. Bei der Kultur. Und da sind wir
neben vielen anderen Probehandelntrainings (Erziehung zu Hause, Betriebspraktika
usw.) auch beim Theater und beim Theaterunterricht (u.a. auch mit dem von den
Postdramatikern verhassten Rollenspiel). Was spräche dagegen einmal mit Schülern
ein Rollenspiel zu inszenieren, das es als realistische Vorlage wirklich 2009 gegeben
hat, zwischen einem Menschen, der laut Gesetz, die Richtlinien der Politik des
Landes bestimmt, und einem Menschen, der großen Einfluss darauf hat, wie
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Menschen miteinander umgehen, also auf die Kultur eines Landes. Das sind zwei
system-schaffende Menschen (Tête-à-tête). Nebenbei: Sie benutzen den Begriff
'System' auch, wenn sie der Meinung sind, dass etwas 'systemrelevant' ist. [4]
Mir fallen Beispiele aus meiner Schultheaterarbeit ein, wie bedeutsam Theater und
das ästhetische Spiel als Erfahrungs-Probenraum fungieren können. Einmal ist es
die Äußerung eines Schülers vor vielen Jahren, er habe bei der Theaterarbeit in der
Schule mehr über Politik und Gesellschaft gelernt als in den Fächern Sozialkunde,
Gemeinschaftskunde und Politik und Wirtschaft zusammen.
Einen anderen Schüler inspirierte das theatrale Spiel beispielsweise kürzlich dazu
eine Schülerbefragung mit anschließender Petition und Leserbriefen zu unhaltbaren
schulischen Verhältnissen in Gang zu setzen und das konfliktreiche
Öffentlichmachen von Misständen kurz vor seinem Abitur auch zu verantworten.
Theaterarbeit bietet die Möglichkeit entweder zu folgenloser(?) ästhetischer
Selbstbespiegelung – Ah! Die Kunst an sich! – oder sie hat das Potenzial zu
kritischer Reflektion, wenn sie versucht die treibenden Interessen und Machtgefüge
hinter dem, was wir als Wirklichkeit erleben, in darstellendem Spiel, auszuleuchten
und ihre Veränderbarkeit sichtbar zu machen. Und das kann Folgen haben für das
Verhalten in der wirklichen Wirklichkeit.
Ist das die Kontingenz im neuen Realismus? Ja, das ist Teil der Wirklichkeit und Teil
der Wahrheit. Die Folgen? Wir sind Opfer und Täter in einem. Und dass die
Mächtigen gebildete Menschen nicht grundlos fürchten zeigt z.B. die Äußerung des
ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Alfred Dregger (recht rechtskonservativ)
bei seiner Bestrebung zur Einführung einer Regelstudienzeit an Universitäten, dass,
wer lange studiere, sich mit Revolution beschäftige. Nun haben wir auch einen
kleinen Hinweis darauf, warum Frau Merkel in ihrem Antrittsstatement als
Bundeskanzlerin die Förderung der Bildung als ihr oberstes und wichtiges Arbeitsziel
benannte, sich aber dann nicht dementsprechend verhielt. Sie ist cleverer als
Dregger. Nun mag man darüber spekulieren, ob Merkels Beliebtheitswerte in der
Bevölkerung – ähnlich wie bei Berlusconi – deswegen oder obwohl so hoch sind.
Ist das die Kontingenz im neuen Realismus? Ja, das ist Teil der Wirklichkeit und Teil
der Wahrheit. Die Folgen? Wir sind Opfer und Täter in einem. [5]
Prozessmuster stabilisieren Systeme und Mustererkennung sind zentrale
Kompetenzen für eine Orientierung in einer Welt der Vielfalt und der Beliebigkeit. Es
sei nur am Rande vermerkt, dass ein zentraler Wirkungsmechanismus von
Propaganda die stumpfsinnige Wiederholung ist.
Die Verführung zur Beherrschung dieses durch die zunehmende Digitalisierung der
Welt sich verschärfende Phänomen durch das Hexenwerk der Algorithmen habe ich
versucht in meinem Artikel „Theater 4.0 - Grenzenlose Vielfalt“ etwas anzudeuten.
„'Bildung', die traditionelle deutsche Generalformel für die Erwartungen an
(lebenslange, nicht allein schulische) Lernprozesse, bezeichnet bereits exakt die
Fähigkeit von Subjekten, unter den Bedingungen der Unentscheidbarkeit und
Unbestimmtheit, Offenheit und Pluralität handlungsfähig zu sein; die Erwartung an
den Bildungsprozess war es, für ein Handeln unter solchen Bedingungen mündig zu
werden, und zwar in einem Prozess, der die Selbstkonstruktion des Subjekts
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angesichts gesellschaftlich unausweichlicher Erwartungen ermöglicht, Gleichheit und
Individualisierung also zugleich eröffnen soll." (Klieme: 65)
„Das Theater der Gegenwart [Stegemann meint die Postdramatik; Anm.v.V.List] ist
allzu oft wie ein Greis, der sich kindisch verhält. Er glaubt, alles schon gesehen zu
haben und bemerkt dabei nicht, wie er am Gängelband fremder Interessen läuft. Sein
Schritt ist ängstlich bedacht, keinen Fehltritt zu tun. Sein Blick ist dabei fest auf die
eigenen Füße geheftet.
Das Theater könnte wie ein Kind sein, das untrüglich auf sich und die Welt vertraut,
und sich dabei eben nichts von der Realität vormachen lässt, da es alles im Spielen
wahr erkennt.“ (Stegemann 2013: 291f)
Wir könnten mal ein Rollenspiel im Schultheater machen – in Unternehmen nennt
man dieses Theaterspielen einen Piloten; sprich Pilotprojekt – indem wir in den
Rollen von gierigen Einzelmenschen – Experten des Alltags –, die alle gerne von
möglichst hohen Renditen ihres Ersparten leben möchten (kindisch gedacht),
anschließend die Rollen von Menschen spielen, die Ideen entwickeln müssen wie
Banker und Unternehmer – Experten der wundersamen Geldvermehrung –, wie man
beispielsweise eine Rendite von 25% erwirtschaftet (das war z.B. Ackermanns Ziel Experte für Profitmaximierung).
Früher wurden 3% als gesunde Rendite angestrebt (das Pendant zu 3% Zinsen auf
dem Sparbuch; wer sich noch erinnern kann).
Dann staunen wir greisenhaft und kindisch in den Rollen der Menschen, die ihre
Arbeitskraft verkaufen müssen, dass die Arbeitsintensität irrsinnig überall zunimmt,
die Arbeitsbelastung enorm ansteigt, immer mehr Menschen krank und sinnentleert
werden und wundern uns, dass wir nicht verstanden haben, dass wir in diesen Rollen
– Experten für Verdummte – genau die Rendite erarbeiten müssen – Experten für
Betroffenheit –, von der wir als Anleger eigentlich sorgenfrei leben wollten.
So schließt sich der Kreis zwischen Einzelmensch und System.
Nun können wir von einem neuen Standpunkt aus versuchen zu beurteilen, was
systemrelevant ist und wem das nützt?
Und: Wer hat's erfunden?
Viel Spaß beim kindlichen (Rollen-)Spielen, in dem wir uns nichts von der Realität
vormachen lassen und das die Chance birgt, "alles im Spielen wahr" zu erkennen.
-----------------------------------------------[1] Ca. neun von zehn spielpraktischen Abiturprüfungsaufgaben lauten zur
Zeit sinngemäß und etwas verkürzt: Übertrage den folgenden Text in
postdramatisches Theater. Warum die postdramatische Spielweise bei
Theaterlehrern in der Oberstufe so beliebt ist, liegt vermutlich an der Beliebigkeit und
der Leichtigkeit der isoliert (dekonstruiert) einsetzbaren Mittel und Techniken im
weiteren Sinne – zum Kraus vieler sich als Postdramatiker bezeichnender
Theaterprofis. Zusammenhänge auch zur mangelnden Ausbildung in den
Kernfächern des Theaterspielens von Wortführern der Postdramatik, insbesondere
des Fachbereichs Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, mögen so manchen
Theaterlehrer inspirieren, diese Spielweise, die wenig Theaterspielfachkompetenzen
voraussetzt, mit ihren Schutzbefohlenen zu praktizieren. Gespräche mit zahlreichen
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Schülern, was sie denn da auf der Bühne genau tun und warum, zeigten mir
zumeist wenig oder gar kein Verständnis für Motive und geschichtlich bedeutsame
Entwicklungslinien der postdramatischen Spielweise.
[2] Und in gleicher Weise kritisiert Stegemann die bewusst unverständlich und
verkomplizierende Sprache und Sprechweise in postdramatischen Stücken und von
Postdramatikern über ihre Spielweise. (199f)
[3] Noch so ein neues Mantra-Dogma auf dem Überbietungs-Markt der Postdramatik:
Neuerdings häufen sich explosionsartig die Forderungen „radikal“ die Zuschauer zu
„überfordern“. Nur das ermögliche tiefgreifende ästhetische Erfahrungen. Ob soviel
Unkenntnis über Lernprozesse schauderts den kompetenten Pädagogen.
[4] Party im Kanzleramt: Ackermann (der mit der 25%-Rendite-Forderung) feierte auf
Staatskosten. Der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, hat seinen 60.
Geburtstag im Bundeskanzleramt gefeiert. Bezahlt wurde das exklusive Abendessen
nach einem Bericht des ARD-Magazins "Report Mainz" von Steuergeldern Opposition und SPD schäumen.> http://www.spiegel.de/politik/deutschland/party-imkanzleramt-ackermann-feierte-auf-staatskosten-a-644659.html (23.05.2015) 2014
musste die Deutsche Bank 2,3 Mrd € Strafe für Finanz-/Zinsmanipulationen zahlen
und zahlte Boni von 2 Mrd € an ihre Broker, davon 6,66 Mio € an die
Verantwortlichen Jain und Fitchen >
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/deutsche-bank-niedrige-gewinnehohe-gehaelter-a-1024801.html
[5] Vgl. auch Mauch, Siegfried (2011): Nichts ist praktischer als eine gute Theorie Systemtheorie und Konstruktivismus >
https://www.bw21.de/Bildung21_Aktuell/Managementwissen/Fuehren%20und%20St
euerung/Seiten/Nichts-ist-praktischer%20als%20eine-gute-Theorie---Systemtheorieund-Konstruktivismus.aspx (23.05.2015)
Quellen und Weiterführendes
•
Klein, Naomi (2009): Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des KatastrophenKapitalismus. Frankfurt/M: Fischer
•
Klieme, Eckhard u.a. (2007) (herausgegeben vom Bundesministerium für
Bildung und Forschung, Referat Bildungsforschung): Zur Entwicklung nationaler
Bildungsstandards. Bonn, Berlin
•
Ruge, Eugen (2015): Die andere Art des Wissens. Ein Plädoyer für das
Erzählen. In: Theater der Zeit. Heft 6, Juni 2015. Berlin: Theater der Zeit: 29ff
•
Stegemann, Bernd (2013): Kritik des Theaters. Berlin: Theater der Zeit
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