Flüchtlings-Krise Die Hilfe

12 Flüchtlings-Krise Die Hilfe
AKTUELL
6. September 2015
Mehr
Helfer als
Flüchtlinge unterstützen –
das wollen Tausende Schweizer.
Jetzt erst recht. Doch der
erfreuliche Boom überfordert
die Hilfsorganisationen.
VON CYRILL PINTO
D
as Flüchtlingsdrama
in Osteuropa bewegt
viele Schweizer. Sie
wollen helfen – nicht nur
mit Spenden, sondern auch
durch Freiwilligenarbeit.
Von einem wahren «Boom»
spricht Oliver Lüthi von
Caritas Bern: «Wir hatten
in den letzten Wochen so
viele Anfragen von Freiwilligen, dass wir einen Stopp
verfügen mussten.» Die
Caritas musste eine Warte­
liste für Helfer einrichten.
Beim Verein Netzwerk
Asyl Aargau und bei Flücht­
lingsorganisationen in Zü­
rich läuten die Telefone
Sturm. «Bei uns melden
sich so viele Freiwillige wie
noch nie», sagt Séverine Vi­
tali (48) vom Solinetz. «Wir
laden die Leute zur Vollver­
sammlung am 10. Novem­
ber ein. Denn wir haben
keine Jobs, für die man sich
anmelden kann.»
Die Konferenzdolmet­
scherin, Mutter von vier
Kindern, engagiert sich seit
2008 im Solinetz: «Helfen
macht glücklich.» Regelmässig besucht Vitali eine
vierköpfige Familie aus der
Mongolei, die in der Nähe
von Adliswil ZH in einem
Durchgangszentrum lebt.
Luja (14), dem ältesten
Sohn der Familie, half
Séverine Vitali
bei Schulprob­
lemen. Die be­
gannen, als die
Schulgemeinde
beschloss, alle
Flüchtlingskin­
der im Alter von
6 bis 16 Jahren
in einer einzigen
Klasse zu unter­
richten. «Manche von ihnen
konnten nicht
einmal richtig
Deutsch», sagt
Vitali. «Luja, der
sehr gut Deutsch
spricht, lernte in
dieser Klasse nichts.» Sie in­
tervenierte bei der Schule
und half ihm, in seine alte
Klasse zurückzukommen.
«Dutzende Briefe waren
nötig.» Jetzt hilft sie Luja,
eine Lehrstelle zu finden.
Fabian Liechti (29) un­
terstützt einen anderen
Flüchtling bei der Stellen­
suche: Seit einem Jahr
kümmert sich der Polito­
loge aus Bern um Yohannes
Negassi (29) aus Eritrea.
Der Postangestellte hatte
sich bei der Caritas gemel­
det. «Ich wollte helfen,
weil ich als Schweizer
privilegiert bin und etwas
zurückgeben möchte.»
Sehr zur Freude von Ne­
gassi: «Es ist nicht einfach,
wenn man als Flüchtling
Séverine Vitali
stand Luja aus
der Mongolei bei
Schulproblemen
zur Seite.
Fabian Liechti
unterstützt
Yohannes
Negassi aus
Eritrea bei der
Jobsuche.
Isabella
Günthardt gibt
dem Somalier
Mahad Ali
Deutschunterricht.
alleine in die Schweiz
kommt.» Was den Eritreer
jedoch bedrückt: Trotz Be­
rufserfahrung im Rahmen
eines Praktikums als Pflege­
helfer beim Roten Kreuz
und anderer Praktika findet
er einfach keinen Job.
«Auch für mich ist das frust­
rierend», sagt Liechti.
Hilfe leistet auch Isabella
Günthardt aus Obersig­
genthal AG. Seit sieben Jah­
ren gibt sie Flüchtlingen
Deutschunterricht, jeden
Mittwochnachmittag zwei
Klassen mit je 20 Schülern
im katholischen Kirchge­
meindezentrum in Nuss­
baumen AG – unentgeltlich.
Derzeit besuchen vor allem Eritreer, Afghanen
und Syrer den Unterricht,
der vom Verein Netzwerk
Asyl Aargau organisiert
wird.
Günthardt, die als Lehre­
rin im Kanton Zürich arbei­
tet, schätzt den Austausch:
«Die Flüchtlinge sind sehr
respektvoll.» Sie unterrich­
tet nicht nur, sondern küm­
mert sich auch um die Sor­
gen der Migranten. Beson­
ders in den ersten Monaten
kämen sich die Leute ver­
loren vor und seien mit
Behördenschreiben häufig
überfordert. «Ich helfe ih­
nen dann bei den Briefen.»
Manche Schüler sind für
sie inzwischen gute Freun­
de geworden, wie der So­
malier Mahad Ali (25).
Günthardt unterstützte den
anerkannten Flüchtling bei
der Lehrstellensuche.
Der junge Mann fand
eine Stelle bei der Migros.
Mittlerweile hat er seine
Lehre abgeschlossen und
sucht nun eine Stelle im
Detailhandel. l
Fotos: Siggi Bucher, Peter Gerber
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