Sozialkapital und soziale Schliessung
Vorlesung FS 2009
Prof. Dr. Beat Fux
Delia Pfyffer
Protokoll
Sitzung vom 02. April, Esser vs. Luhmann: Integration vs. Inklusion/Exklusion
In der heutigen Sitzung geht es um das Konzept der Integration und die Abgrenzung zur
Exklusion und schliesslich auch die Abgrenzung zum Begriff des Sozialkapitals.
Zuerst wird noch ein Nachtrag zur letzten Sitzung (Solidarität) gemacht.
Dabei geht es spezifisch um die Schwächen der angelsächsischen Kapitaltheorie
(insbesondere Putnam). Bei diesen erwähnten Schwächen handelt es sich einerseits um die
rein zirkuläre Argumentation. Andererseits wird nur auf der Makroebene angesetzt, was
theoretisch zu wenig untermauert ist. Und als letzte grosse Schwäche wird schliesslich eine
karikaturartige Idealisierung getätigt, die sehr unrealistisch anmutet. Man kann sich
beispielsweise nicht vorstellen, dass man als einzelnes Individuum in die Kirche gehen muss,
Freunde haben muss etc., damit die Gesellschaft gut funktioniert und somit alles in Ordnung
ist.
Im Gebiet des Sozialkapitals kann man nun eine Erweiterung in Richtung Solidarität
vornehmen. In diesem Kontext wird am Häufigsten auf das Modell von Bengtson
(amerikanischer Familienforscher) Bezug genommen. Dieser sieht Solidarität vor allem in
Kleingruppen und legt somit seinen Fokus auf Familien und Verwandtschaft.
In seiner Vorstellung bestimmen die staatliche Absicherung in Form einer öffentlichen
Altersversorgung und der familiale Austausch gemeinsam die Solidarität. Solidarität wird in
diesem Sinne als eine Menge von Austauschprozessen verstanden und besitzt reziproken
Charakter. Solidarität ist also ganz klar nicht als rein altruistisch aufzufassen.
Mit solidaristischen Austauschbeziehungen entstehen auch Erwartungshaltungen. Unter einer
solchen kann beispielsweise verstanden werden, dass von Kindern mit einer glücklich
verbrachten Kindheit erwartet wird, dass diese viele Jahre später für ihre Eltern im Alter
sorgen werden.
Die Ausweitung von solchen reziproken Austauschbeziehungen definiert nun bei Bengtson
die Ursache für gesellschaftliche Integration.
Wichtig ist nun, dass zwischen den Austauschbeziehungen auf der Familienebene und der
staatlichen Unterstützung auf der Makroebene der Grund für gesellschaftliche Veränderung
(Bsp. Verlagerung der Familienprojekte) zu suchen ist.
Bengtson unternimmt nun zwei Schritte. Er skizziert einerseits die Dimensionen von
solidarischem Verhalten und zählt anschliessend auch konkrete typische Handlungsmuster
auf.
Verschiedene Dimensionen von Solidarität hält er in seinem „intergenerational solidarity
model“ fest. Diese Dimensionen sind:
1. affektive Solidarität, stellt eine lockere Form dar, es finden eigentlich keine Transfers
statt, kann mit affektivem Handeln bei Max Weber verglichen werden.
2. konsensuelle Solidarität, Ziele, Wertvorstellungen, kann mit wertrationalem Handeln
bei Max Weber verglichen werden.
3. strukturelle Solidarität, begünstigende oder beeinträchtigende Faktoren, die das
Interagieren beeinflussen.
auf der konkreten Handlungsebene:
4. assoziative Solidarität
5. funktionelle Solidarität
6. normative Solidarität
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Vorlesung FS 2009
Prof. Dr. Beat Fux
Delia Pfyffer
Nach Bengtson als Vorbemerkung wird nun in der Sitzung vermehrt auf Bourdieu
eingegangen. Dieser eignet sich sehr gut, um die mikroanalytische, auf kleine Systeme
angepasste Solidarität zu erweitern.
So ist die funktionelle und strukturelle Solidarität sehr gut parallel zum ökonomischen Kapital
zu verstehen. Das soziale Kapital, welches bei Bourdieu stark in den Netzwerkstrukturen
fundiert ist, wird durch die assoziative und affektive Solidarität sehr gut repräsentiert. Das
kulturelle Kapital ist schliesslich durch die konsensuale und normative Solidarität vertreten.
Eine wichtige Randbemerkung an dieser Stelle ist zum Sozialkapital anzumerken. Dieses wird
durch ökonomische Transfers (bsp. Geldleistungen), Transmissionen (bsp. Weitergabe von
Teilnahmerechten) und Transaktionen (bsp. kulturelle Austauschbeziehungen) bestimmt.
An dieser Überlegung ist sicherlich sehr interessant, dass versucht wird, sowohl die Mikroals auch die Makroebene zu verbinden und auch eine Kategorisierung von Agieren und
Interagieren aufgestellt wird.
Auf der Seite der Folgen und Konsequenzen ist festzuhalten, dass die soziale Identität infolge
des kulturellen Kapitals entsteht. Die Positionierung des Individuums in der Gesellschaft
(sozio-ökonomische Lage) ist als Folge des ökonomischen Kapitals zu betrachten. Und als
Konsequenz des sozialen Kapitals entstehen Verpflichtungen und Reziprozitäten, die auf
Dauer gestellt sind. Im Hinblick auf das Thema der Integration lässt sich auf festhalten, dass
im Sinne Bourdieus generalisiertes Vertrauen nicht als Teilelement des Sozialkapitals zu
betrachten und verstehen ist.
Das Konzept der Integration ist bereits sehr oft untersucht und thematisiert worden. Einer der
Anväter ist Spencer. Dieser versteht Integration im soziobiologischen Sinne und sehr ähnlich
zum Konzept der Differenzierung. Von Wiese als Zeitgenosse von Simmel und Weber war
Begründer einer formalen Soziologie. Er hat die Integration vorwiegend prozessual gedeutet.
Bei diesen beiden Theoretikern werden in erster Linie Differenzierungselemente erwähnt.
Mechanistisches und funktionales Denken ist vorherrschend.
Durkheim argumentiert stärker strukturtheoretisch, nimmt dabei aber auch auf Spencer
Bezug. In seiner Vorstellung sind die sozialen Prozesse durch eine moralische Deutung
bestimmt. Er legt sein Primat auf Normen und die Kultur.
Auch Parsons nimmt in der Geschichte des Integrationsbegriffs eine wichtige Position ein. Er
betrachtet die Integration als eines der vier funktionalen Systemprobleme von
Handlungssystemen. Hier stellt sich vorwiegend die Frage, ob die beiden Konzepte
Integration und Differenzierung überhaupt miteinander verträglich sind.
Lockwood als Strukturfunktionalist stellt sich nun die grundlegende Frage, ob und wie
einzelne Menschen in ein System integriert werden (Sozialintegration; Mikroebene).
Ausserdem befasst er sich auch mit dem Zusammenfügen von grossen Teilsystemen zu einem
Ganzen (Systemintegration; Makroebene).
Systemintegration vs. Sozialintegration:
Beim systemischen Integrationsbegriff allgemein wird immer vom System her gedacht und
somit die systemische Optik gewählt. Somit handelt es sich auch um einen sozialen Prozess.
Daneben nimmt aber beispielsweise Bourdieu eine individualistische Sichtweise ein und stellt
den persönlichen Handlungsentscheid in den Vordergrund (wird natürlich auch bis zu einem
gewissen Grad durch die soziale Klasse, Habitus determiniert).
Mechanismen der Systemintegration bei Lockwood:
Systemintegration kommt durch gemeinsame Werte/Normen, Hierarchien (soziale
Unterschiede) und Interdependezen (wechselseitige Bezüge, Interaktionen) zustande.
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An dieser Stelle kann zwischen pluraler und funktionaler Differenzierung unterschieden
werden. Beispielsweise bei Luhmann ist zu Beginn nur die funktionale Integration relevant
(es existieren keine Subjekte mehr, sondern die Gesellschaft hat sich in funktional
differenzierte Subsysteme ausdifferenziert). Luhmann vertritt auch die Auffassung, dass eine
langfristige Exklusion eigentlich gar nicht existent und systeminkompatibel ist.
Doch gerade bei der wichtigen pluralen Differenzierung entsteht die
Integration/Desintegration, weil diese durch gemeinsame oder verschiedene Werte und
Normen bestimmt wird.
Die Sozialintegration kann nach Esser in die individuelle Sozialintegration und die kategoriale
Systemintegration unterteilt werden. Hier geht es einerseits um die Integration einzelner
Akteure oder einzelner Gruppen. Hier wird der Inklusionsbegriff also ganz anders als
beispielsweise bei Luhmann verwendet. Aus diesem Grund ist es in einer theoretischen
Debatte immer sehr wichtig, die Quelle und den Kontext eines Textes zu beachten.
Esser unterscheidet in seiner handlungstheoretischen Konzeption vier verschiedene Stufen der
Integration, die sich sehr leicht operationalisieren lassen:
1. Strukturelle Integration Æ strukturelle Anpassung, Situation mit
Integrationskontext/Integrationswille, keine Formen der Diskriminierung
2. Kulturelle Integration Æ Alltagspraktiken erlernen und verinnerlichen.
3. Soziale Integration ÆAssimilation, Grenzen zwischen dem Zukömmling und dem
Einheimischen werden aufgehoben, es sind gleiche Praktiken, gleiche Chancen etc.
vorhanden. Der gesamte Bereich der Verhaltensweisen wird identisch .
4. Identifikatorische Integration
Die soziale Integration wird durch Werte/Orientierungen, soziale Interaktionen und
Lebensbedingungen bestimmt. Als Folge davon ist zu schliessen, dass sich die
gesellschaftliche Integration durch ein fliessendes Gleichgewicht auszeichnet. Dieses
Gleichgewicht bewegt sich zwischen sozial kontrollierter Integration und
Ausschliessungsprozessen.
Esser liefert nun auch sehr spezifische und konkrete Dimensionen und Faktoren, aufgrund
derer eine Sozialintegration zustande kommt ( Kulturation, Platzierung, Interaktion und
Identifikation).
Am Ende der Sitzung wurde noch Esser’s Idee, die Herkunft und den Zielkontext in
Beziehung zu setzen, erwähnt.
Die Sitzung hat sehr klar und deutlich gezeigt, dass es sehr gut möglich ist, eine
mikrosoziologische Theorie mit der Sozialkapitaltheorie in Verbindung zu bringen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Zielgrösse soziale Integration auf drei Teilen
aufbaut.
a) geteilte Werte als kollektive Identität
b) soziale Interaktion als Sozialkaptial
c) Lebensbedingungen als materielles Kapital
Wichtig ist es hier auch, dass sich diese drei Faktoren stark überlappen. Genau diese
Schnittmengen werden sehr stark von Bourdieu thematisiert und als Habitus bezeichnet.