Erziehung zwischen Abstinenz und Überdosis

Gerald Koller
Erziehung zwischen Abstinenz und Überdosis
Eine Landkarte für die Begleitung von Kindern und Jugendlichen
durch den Dschungel der Pubertät
Wieviel Unterstützung brauchen Jugendliche, um den Umgang mit Alkohol und
anderen Drogen, mit Risiken im Straßenverkehr und beim Umgang mit Geld zu
lernen? Wieviel an Unterstützung wünschen sie sich? Und wie weit können Eltern
und PädagogInnen darauf vertrauen, dass sich Jugendliche in Gruppen sehr viel an
Unterstützung selbst geben?
Fragen, die nie generell zu beantworten sind – denn was heute hilft, kann morgen
schaden; Und wie Sie wissen, wenn Sie mehrere Kinder haben: Jeder Mensch ist
eine einmalige Persönlichkeit. Sie müssen sich also, daran führt kein Weg vorbei, mit
jedem Ihrer Kinder immer wieder aufs Neue auseinandersetzen. Mit nur einem Gespräch allein ist da gar nichts getan.
Eine Mutter fragte mich einmal an einem Elternabend: „Wie kann ich wissen, ob mein
Kind etwas getrunken hat, wenn es am Abend nach Hause kommt?“ Meine Antwort:
Wenn Sie ihm auf ganz natürliche Weise nahe kommen! Jede Begrüßung von
Menschen, die einander wirklich wahr- und ernstnehmen, lässt in der Regel eine
Nähe entstehen, die uns auch hilft zu bemerken, wie es dem anderen geht.
Begegnung und Beziehung sind also die wichtigsten Helfer in der Vorbeugung von
Problemen – nicht umsonst haben Erziehung und Beziehung viel miteinander zu tun.
Was Sie hier lesen, kann also kein Gespräch ersetzen. Ich kann Ihnen zwar Tipps,
aber keine Ratschläge geben – denn Ratschläge sind meistens auch Schläge (zumindest für die Betroffenen).
5 wichtige Wegweiser, auf die Sie in der Beziehung zu Ihren Kindern achten können:
Vermeiden Sie negative Prophezeiungen!
Die Psychologie und Pädagogik hat inzwischen die große Macht von solchen Prophezeiungen erkannt: Wenn Sie von einem Menschen denken, dass er Ihnen nichts
Gutes will, werden Sie sich ihm gegenüber so benehmen, dass er bald Aggressionen
zeigt. Und dann haben Sie die Bestätigung: Ich hab‘ doch Recht gehabt! Der in den
USA lebende Österreicher Paul Watzlawick (wenn Sie Zeit haben, lesen Sie doch
sein amüsantes Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“) hat viele Experimente zu
solchen selbst-erfüllenden Prophezeiungen gemacht. Sie alle zeigen, dass unsere
Vorannahmen von anderen Menschen meist eintreffen – weil wir ihnen gar keine
andere Chance lassen. Ein klassisches Beispiel zitiert Watzlawick an der Vorgehensweise der Steuerbehörden eines Landes:
1. Die Behörden nehmen an, dass viele ihrer Klienten Steuern hinterziehen.
2. Die Steuerbemessungsgrundlage wird daher sehr hoch angesetzt, damit wenigstens ein Teil in den Staatssäckel fließt.
3. Wenn nun ein kleiner Gewerbebetrieb alle Steuern zahlen würde, die ihm auferlegt sind, würde er in Konkurs gehen.
4. Er muss daher? Richtig: Steuern hinterziehen!
Und wer war zuerst, Henne oder Ei? Steuerhinterzieher oder das präventive Misstrauen der Behörde?
Und was denken Sie, was passiert, wenn Sie zu Ihrem Kind sagen: „Wenn du weiter
so bist, dann wird sicher nichts aus dir !“…?
Das wesentlichste pädagogische Modell ist Ihr Vorbild.
Was Jugendliche von den Eltern und der älteren Generation an Unterstützung will,
sind nicht Ratschläge aus einer (meist anderen) Zeit, sondern ehrliche Berichte aus
dem eigenen Leben. Was Kinder und Jugendliche hören wollen, ist: wie gehst du mit
dem Leben um? Was tust du, wenn es dir schlecht geht? Wo hast du deine
rauschhaften Erlebnisse? Und: Fällt es dir auch so schwer, auf etwas zu verzichten,
was dir wirklich Spaß macht?
Wir wissen heute, dass Abschreckung in der Vorbeugung nichts bringt: Ganz im
Gegenteil, sie erhöht sogar noch den Reiz (das hat die Fernsehwerbung schon lange
erkannt). Auch reine Sachinformation ist zu wenig. Junge Menschen brauchen
Vorbilder, wie es gehen könnte!
Zeigen Sie Ihre Gefühle, aber dosieren Sie sie auch.
Sie müssen kein pädagogischer Superman und keine Übermutter sein, Ihr Menschsein ist das Beste, was Sie zu geben haben. Dazu gehören auch Gefühle. Ein
wesentliches Gefühl ist Angst – und es ist berechtigt, dass Sie Angst um Kinder
haben. Erzählen Sie ihnen ruhig davon – aber erdrücken Sie sie nicht damit! Sie
sollen kein schlechtes Gewissen haben, denn das ist kein guter Weg zu einer
Selbstverantwortung, die wir alle lernen müssen. Verantwortlich sein für unser Leben
– das gelingt nicht über Schuldgefühle. Aber von den Eltern oder LehrerInnen zu
hören, dass sie sich auch Sorgen machen, gibt Jugendlichen das Gefühl, dass sie
wahrgenommen werden und ihnen wichtig sind.
Spielen Sie.
So sehr wir uns auch bemühen, unser Leben in Ordnung zu bringen: Ordnung ist,
wie der Volksmund sagt: „das halbe Leben“ – eben wirklich nur die Hälfte. Die andere
Hälfte ist das Chaos, das Unerwartete und das Ungestaltbare. Die Krise, der Konflikt
und das Unwetter, die Katastrophe, der offene und ungeplante Prozess – Leben
entsteht immer wieder aufs Neue: durch die Begegnung, das Ineinandergreifen, die
Beziehung zwischen Ordnung und Chaos,
Die wohl alltagsnahste, lustvollste – und damit entwicklungsförderndste - Brücke
zwischen Ordnung und Chaos ist das Spiel – deswegen ist es für unser Menschsein
und -werden von solch immenser Bedeutung : denn es braucht Spielregeln, also Ordnung – und lebt dennoch vom Unerwarteten: niemand würde spielen oder einem
Spiel beiwohnen, wenn das Ergebnis schon am Anfang feststünde. Der Reiz und die
Spannung des Spiels liegen ja gerade darin, dass dies nicht der Fall ist. Einlassen
auf das Risiko, das Unbekannte ist die Devise, und jede(r), jedes Team versucht, den
SpielpartnerInnen möglichst viele solcher überraschenden Momente zuzufügen. Das
berauscht!
Spielen macht uns lebendig, schafft Konzentration, Mitte und Beziehung.
Wenn du mit deiner Familie oder mit deinen FreundInnen ein ganz banales Spiel, das
die Begegnung von Chaos und Ordnung spürbar macht, spielen willst, schlage ich dir
folgendes vor: setzt oder stellt euch in einen Kreis und zählt von 1 bis 10. Die
Reihenfolge, wer also die nächste Zahl sagt, ist jedoch nicht vorgegeben. Sprechen
zwei zur selben Zeit eine Zahl aus, so geht’s von vorne los. Du wirst erleben, wie viel
Spaß und Lebendigkeit, aber auch Intuition und Kommunikation selbst solche (anscheinend) banalen Spiele bringen...
Bedeutsam ist, dass das Spiel seine Entsprechung, ja Grundlage im Alltag haben
muss: Rituale zwischen Menschen geben nur dann Kraft, wenn es auch ein soziales
Netz des Alltags gibt, das hält. Einen Mangel an Verbindungen und Verbindlichkeiten
im Alltag, die fehlende Anerkennung zwischendurch, die nicht eingehaltenen
Vereinbarungen kann auch der (scheinbare) Gewinn eines Wettspiels nicht wettmachen. Kränkung passiert im Alltag. Heilung auch.
Denken Sie nie nur über Ihre Kinder nach, sondern auch über sich selbst.
Das gewährleistet, dass Sie Ihre eigene Mitverantwortung erkennen und nicht alles
auf andere schieben. Denn der Spruch: „die anderen sind schuld“, ist ein typisches
Anzeichen von Suchtverhalten.
Und wenn Sie über sich selbst nachdenken. Dann werden Sie sich auch bewusst,
wieviel Sie Ihren Kindern gegeben haben und geben können, denn Ihr Dasein für sie
ist das wichtigste Geschenk.
Wie sagt doch Erich Kästner so weise und treffend:
Mehr als das, was wir reden, wirkt das, was wir tun.
Und mehr als das, was wir tun, wirkt: wie wir sind.
Gerald Koller