Fluchtfolgenschätzung

FLUCHT NACH EUROPA
+0,2%
Realeinkommen
+0,1%
privater
Konsum
Fluchtfolgenschätzung
+0,2%
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Wird die Integration Tausender Asylwerber tatsächlich Milliarden kosten?
Oder wird Österreich am Ende gar
davon profitieren? Ein Blick auf die
letzte große Fluchtbewegung in den
1990er-Jahren liefert Anhaltspunkte.
S
+8000
Berufstätige
pro Jahr
Von Joseph Gepp
ind es eine Milliarde Euro? Oder eineinhalb? Oder gar zwölf Milliarden?
Seit Monaten bewegt sich ein Zug an
Flüchtlingen aus dem Nahen Osten durch
Europa. Auf seinem Weg nach Deutschland passiert er auch Österreich. Ungefähr
35.000 Menschen, vor allem Syrer und Afghanen, haben seit dem heurigen Juni –
als die Flucht über die sogenannte Balkanroute ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte – in Österreich Asyl beantragt.
Weitere werden folgen. Damit hat das
Land, gemessen an seiner Bevölkerungszahl, für nicht weniger Flüchtlinge zu sorgen als Deutschland.
Wie viel werden die Flüchtlinge die heimische Volkswirtschaft kosten? Oder werden sie ihr, im Gegenteil, gar etwas bringen? Politisch verfolgten Menschen das
Recht auf Asyl zu gewähren, dazu haben
sich die Staaten in internationalen Konventionen verpflichtet. Insofern dürfen
solche Nützlichkeitserwägungen keine
Rolle spielen. Trotzdem beschäftigen sie
die österreichische Öffentlichkeit intensiv.
Mit rund einer Milliarde Mehrkosten
im nächsten Jahr rechnet ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling, er geht dabei
von insgesamt 85.000 Asylwerbern aus.
„Die volkswirtschaft- Dieses Geld soll etwa für die Versorgung
Flüchtlinge oder für Sprachkurse fälliche Mechanik von der
lig werden. Von einer etwas höheren Sumdamals kann man, bei me, von 1,2 Milliarden, spricht der Ökonom
allen Unterschieden, Bernhard Felderer, Vorsitzender des sogenannten Fiskalrats, der Österreichs Budauf die heutige getsituation
im Blick hat. In einem angebSituation übertragen.“ lichen Geheimpapier der Bundesregierung,
Fritz Breuss, das im September auftauchte, ist gar von
Ökonom 12,3 Milliarden Euro die Rede, gerechnet
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auf die nächsten vier Jahre, inklusive Familiennachzug. All das sind hochpolitische Fragen. Die FPÖ warnt vor Arbeitslosigkeit, Sozialmissbrauch und Budgetnotstand. Die Regierung fürchtet, bei allzu hohen Kosten der rechtspopulistischen Forderung nach Abschottung Munition zu
liefern.
Was wird die Fluchtbewegung nun bedeuten, finanziell gesehen? Diese Frage
hängt von vielen Faktoren ab. Es greift jedenfalls zu kurz, lediglich auf höhere Kosten für Versorgung und Integration zu blicken; es geht auch um die Frage, inwiefern
Flüchtlinge, etwa als Arbeitskräfte, langfristig etwas zum Wohlstand beitragen
können. Eine klare Antwort gibt es nicht,
aber man kann eine vorsichtige Einschätzung treffen. Zum Beispiel mithilfe einer
Studie aus dem Jahr 1996.
Damals untersuchten die Ökonomen
Fritz Breuss und Fritz Schebeck für das
Wiener Wirtschaftsforschungsinstitut
(Wifo) die wirtschaftlichen Folgen einer
anderen großen Migrationsbewegung:
Rund 100.000 Osteuropäer hatten sich Anfang der 1990er-Jahre nach der Ostöffnung dauerhaft in Österreich niedergelassen. 60.000 von ihnen: Flüchtlinge, vor allem aus Bosnien-Herzegowina. Wenn die
derzeitige Flucht aus Nahost weiter anhält,
kann die Größenordnung durchaus ähnlich sein.
Breuss und Schebeck untersuchten, wie
sich dies auf die Beschäftigung auswirkte,
und damit auf die Wirtschaftssituation. Ihr
Fazit: Insgesamt gab es damals einen
leicht positiven Effekt. Das Bruttoinlands­
produkt, also die gesamte Wirtschaftsak-
+0,1%
So wirkten sich 100.000 Flüchtlinge und Zuwanderer
aus Osteuropa in Österreich aus
Exporte
(1989–1993)
-0,4%
Anteil der
Löhne am BIP
+2%
Arbeitslosenquote
tivität im Land, wuchs wegen der Einwanderung zwischen 1989 und 1993 um zusätzlich 0,2 Prozentpunkte. Auch das
durchschnittliche Einkommen in Österreich stieg inflationsbereinigt leicht, ebenfalls um zusätzliche 0,2 Prozentpunkte.
„Natürlich musste der Staat gleichzeitig
Geld für Unterbringung und Versorgung
der Flüchtlinge aufwenden“, sagt der Studienautor Breuss, ein inzwischen emeritierter Professor der Wiener Wirtschaftsuniversität. „Aber das fiel im Vergleich mit
den positiven Effekten nicht ins Gewicht.“
Das Schema: Mehr potenzielle Arbeitskräfte bedeuten mehr Beschäftigung,
mehr Konsum, mehr Produktion, höhere
Steuereinnahmen des Staates, letztlich
mehr Wirtschaftstätigkeit. „Diese volkswirtschaftliche Mechanik kann man, bei
allen sonstigen Unterschieden, auch auf
die heutige Situation übertragen.“
Alles gut also, zumindest in den
1990er-Jahren? Bedeuteten mehr Flüchtlinge damals mehr Wohlstand für alle?
Nicht ganz. Denn nicht allein der Zuwachs
an Wirtschaftstätigkeit ist entscheidend,
sondern auch, wem er zugute kommt. Und
das waren vor allem die Unternehmer, weniger deren Beschäftigte. Immigration führe in der Regel wegen der höheren Zahl an
Job-Suchenden „zu einem Druck auf die
Löhne sowohl von gelernten als auch von
ungelernten Arbeitskräften“, schreiben
Breuss und Schebeck. Die 1990er-Jahre
bildeten keine Ausnahme: Die Arbeitslosenquote lag zwischen 1989 und 1994 um
durchschnittlich 2,5 Prozentpunkte höher,
als sie es ohne Zuwanderung gewesen
wäre. In der Folge seien auch die Löhne
weniger stark gestiegen, berechnen Breuss
und Schebeck: Zwischen 1989 und 1992
stieg das Bruttogehalt pro Kopf im Durchschnitt um 2,25 Prozentpunkte weniger
als im Szenario ohne Migration.
Die Arbeitnehmer hatten höchstens indirekt etwas vom zusätzlichen Wohlstand,
weil die Firmen mehr exportierten:
„Durch die niedrigeren Lohnkosten hatte
sich ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert“,
erklärt Breuss. „Das ändert allerdings
nichts daran, dass es infolge von Migration durchaus zu einem Verteilungsproblem kommen könnte. Diesem kann man
etwa mit Mindest- und Kollektivvertragslöhnen entgegenwirken.“
International ist es unter Ökonomen
umstritten, ob Flüchtlinge und andere Zuwanderer tatsächlich die Löhne drücken.
Manche Untersuchungen – etwa aus Israel und Norwegen – kommen zu dem
Schluss, dass es zwar Lohneinbußen gibt,
diese jedoch nach einigen Jahren wieder
verschwinden. Andere Forscher, etwa aus
Dänemark, haben sogar erhoben, dass die
bisher unqualifizierten Arbeitskräfte unter den Einheimischen in höhere Positionen aufsteigen, nachdem ihre alten Jobs
mit Zuwanderern besetzt worden sind.
Lässt sich nun die Bilanz aus den
1990er-Jahren – in all ihrer Widersprüchlichkeit – auf die Gegenwart übertragen?
Nur mit Vorbehalten. Zunächst konnten
die damaligen Jugoslawien-Flüchtlinge
äußerst rasch auf dem Arbeitsmarkt Fuß
fassen. Dabei halfen ihnen oft schon vorhandene Deutschkenntnisse sowie ein
persönliches Netzwerk: Etwa hatten die
Zuzügler Kontakte zu ehemaligen Gastar-
beitern, die sich bereits seit den
1970er-Jahren in Österreich aufhielten.
Außerdem gab es im Österreich der frühen 1990er-Jahre ungefähr 100.000 weniger Arbeitslose als heute (wenn auch bei
weniger Erwerbstätigen). Der Verdrängungswettbewerb – vor allem unter Niedrigqualifizierten, oft selbst Migranten – fiel
weniger hart aus. Eine Folge: Laut dem
Ökonomen Felderer fanden 90 Prozent jener Balkan-Flüchtlinge, die arbeiten durften, bereits nach zwei Jahren einen Job.
Dies dürfte sich heute kaum wiederholen lassen. Laut der OECD, einer Denkfabrik wohlhabender Staaten, dauert es heutzutage im Westen 15 Jahre, bis Flüchtlinge im selben Ausmaß arbeiten wie Einheimische. In Schweden beispielsweise
schafft es nur jeder vierte Flüchtling, nach
zwei Jahren einen Job zu finden – in Österreich war es einst fast jeder.
Das Fazit: Fraglos kommen mit den
Flüchtlingen auch wirtschaftliche Probleme auf Österreich zu. Sind sie einmal angekommen und versorgt, gilt es, sie rasch
in einen Arbeitsmarkt zu integrieren, der
ohnehin bereits Probleme bereitet. Und –
auch wenn sich die Forscher diesbezüglich nicht ganz einig sind – es gilt zu verhindern, dass infolge der Flüchtlinge die
Löhne sinken und die Ungleichverteilung
in Österreich zunimmt. Zum Beispiel, weil
Arbeitnehmer in unregelmäßige Job-Verhältnisse oder gar den Schwarzmarkt gedrängt werden.
Wenn das gelingt, wird man vielleicht
stolz auf die Flüchtlingskrise zurückblicken. Als eine Herausforderung, die man
meisterte. Auch wirtschaftlich.
n
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