Def. Vernehmlassung DAO Istanbul

Postfach 1357
8031 Zürich
___________________
EINSCHREIBEN
Frau Bundesrätin S. Sommaruga Vernehmlassung „Istanbul-­‐Konvention“ Bundesrain 20 3003 Bern Zürich, 27. Januar 2016 Sehr geehrte Frau Bundesrätin Sommaruga Sehr geehrte Damen und Herren Die Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz (und Liechtenstein) DAO nimmt gerne Stellung im Rahmen des Vernehmlassungsverfahren zum „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ (Istanbul-­‐
Konvention). Seit über 35 Jahren bieten die Frauenhäuser gewaltbetroffenen Frauen Schutz und Beratung an und gehören zu den relevanten Kriseninterventionsangeboten in der Schweiz. Waren die Frauenhäuser (zusammen mit den Beratungsstellen für vergewaltigte Frauen, den „Nottelefonen“) in den ersten Jahrzehnten weitherum die einzigen Institutionen, wo gewaltbetroffenen Frauen Hilfe bekamen, hat sich heute das Angebot erweitert und differenziert. Trotzdem holt sich auch heute noch der kleinste Teil der von Gewalt betroffenen Frauen professionelle Hilfe. Viele Frauen zeigen ihre Peiniger aus verschiedenen Gründen nicht an (oder sistieren das Verfahren), die Dunkelziffer bleibt entsprechend hoch und die Erkenntnisse zu familiärer Gewalt beziehen sich lediglich auf die „öffentlichen“ Fälle. Dies verfälscht das Bild „gewaltbetroffene Frauen (und Kinder)“ und zementiert Vorurteile, die nicht hilfreich sind. Die Erkenntnis, dass das Private politisch sei, hat an Gültigkeit nichts verloren, wird doch gerade Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt auch in der Schweiz als privates Problem gesehen. Diese Haltung dürfte auch mit ein Grund sein, warum es in der Schweiz noch keine kantonsübergreifende und interinstitutionelle und damit gesamtschweizerische Strategie gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt gibt, wie es sie in Bezug auf andere gesellschaftlich relevante Themen längst und zu Recht gibt. Unmissverständlich gilt es festzuhalten, dass das Problem häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen epidemische, wenn nicht sogar pandemische Ausmasse annimmt. Umso mehr begrüssen die Frauenhäuser als spezifizierten Fachstellen die Willensbekundung des Bundesrates, die Konvention zu ratifizieren. Die DAO appelliert an das Parlament, den Schritt zu vollziehen. Wer gegen diese Konvention politisiert, verkennt das Ausmass und Folgen von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen sowohl für das Individuum als die ganze Gesellschaft. Die konkrete Arbeit in den Frauenhäusern mit den betroffenen Frauen und Kindern trägt seit Jahrzehnten im Wesentlichen dazu bei, dass sich die Zusammenarbeit sowohl mit den relevanten Stellen wie Opferhilfe, Polizei, Sozialbehörden als auch mit den gesetzgebenden bzw. politischen AkteurInnen auf kantonaler wie nationaler Ebene qualitativ wertvoll und substanziell bedeutend weiterentwickelt hat. Gerne stellt die DAO als Dach-­‐ und Fachverband der Frauenhäuser Schweiz (und Liechtenstein) * im Folgenden ihre Rückmeldungen zur „Istanbul-­‐Konvention“ in den Dienst der Vernehmlassung: 1 Die Ratifizierung der Europarats-­‐Konvention schafft eine wichtige verbindliche Grundlage für eines der komplexesten und teuersten Probleme in unserer Gesellschaft, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Als Gründe, die für eine möglichst baldige Ratifizierung sprechen, sind anzuführen: 1) Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zählt zu den häufigsten Menschenrechtsverletzungen, für die der Staat Schweiz dringend und umfassend die Verantwortung übernehmen muss und demzufolge mit entsprechenden Massnahmen auf Bundesebene, die für alle Gültigkeit haben, zu reagieren hat. Die Polizeistatistik zeigt, dass schwere Gewaltdelikte im Bereich häusliche Gewalt sind (etwa Mord an der Ehe-­‐ bzw. Exfrau), seit Jahren zunehmen. 2) Die Schweiz hat noch keine nationale Strategie gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt, wie es diese in anderen vergleichbaren Bereichen bereits seit Jahren gibt, sei es im Gesundheitsbereich (z.B. Alkohol, Adipositive Kinder/Jugendliche, Jugendgewalt oder – aktuell – Sucht); Umweltschutz (z.B. Littering), Sicherheit im Verkehr (z.B. Verkehrserziehung), Sport (z.B. Hooligans) u.v.a.m. 3) Ein schweizweit koordiniertes Vorgehen gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt, wie es z.B. im Gesundheitsbereich mit der Strategie „Prävention – Intervention– Postvention“ existiert, wird seit Jahren gefordert. 4) Die Kostenentwicklung im Bereich Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt ist enorm hoch und steigt von Jahr zu Jahr. Die vom Bund erstellte Kostenstudie gibt darüber Auskunft. Darin sind die Kosten der Staatsanwaltschaften und der KESB noch gar nicht erfasst. Nachfolgend einige der Bereiche, in denen Kosten für die SteuerzahlerInnen anfallen: a. Strafvollzug und Resozialisierung Täter weisen eine hohe Rückfallquote auf, wenn flankierende und mit entsprechenden Ressourcen ausgestattete Massnahmen für die Umsetzung der bereits vorhandenen Gesetze fehlen b. Unterstützungsbedarf von Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend von häuslicher Gewalt betroffen sind Sie sind im Erwachsenenalter signifikant häufiger auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. c. Gesundheitliche Folgekosten Kinder und Erwachsene brauchen dringend Hilfe bei der Aufarbeitung traumatischer Gewalterfahrungen. Je später diese Hilfe einsetzt, desto gravierender können die Auswirkungen sein. 5) Fachspezifische Anlaufstellen sowie genügend finanziell gesicherte Plätze fehlen in einigen Regionen der Schweiz. In der heutigen Angebotslage ist der Wohnort bzw. das dort zur Verfügung stehende Angebot ein Risikofaktor, der darüber entscheidet, ob es einer Frau längerfristig gelingt, aus der familiären Gewaltspirale hinauszukommen, oder eben nicht. 6) Die Rückfallquote bei Opfern und Tätern ist hoch, das Nachbetreuungsangebot für Opfer beschränkt. Längerfristige Hilfe ist an grosse Hürden gebunden (Nachweis der Straftat und Nachweis des Fortbestands der Bedrohung, Einkommensnachweis). Viele Frauen sistieren ihre Anzeigen und kehren zu ihren Männern zurück. Viele Männer sind Wiederholungstäter. Interventions-­‐ und Behandlungsprogramme werden zu wenig umgesetzt. Begründet wird dies mit der mangelnden Motivation der Männer. Zum Vergleich sei folgende Frage erlaubt: Muss ein Verkehrsdelinquent auch zuerst das Motivationsseminar durchlaufen, bis er ins Fahrtraining geschickt wird? Unsere Antwort ist: Nein, er muss einfach gehen, sonst erhält er seinen Fahrausweis nicht zurück! 2 7) Es fehlt bis dato eine Präventionsarbeit, die allen Beteiligten – Frauen, Kindern und Männern, sowohl Opfern als auch Tätern – gerecht wird. Präventionsarbeit geschieht heute mehrheitlich auf Initiative von privater Seite und wird durch private Spenden finanziert. Bislang kann Prävention im Rahmen des eidgenössischen Opferhilfegesetzes nicht verrechnet werden. Sie ist jedoch gerade eine der wichtigsten und kostengünstigsten Investitionen, die sich für alle Beteiligen auszahlt. Die Vermittlung von Haltungen und Werten, von Normen und Gesetzen wird in unserer Gesellschaft hoch gewertet. Dies gilt es auch für Werte zu fordern, die das Zusammenleben innerhalb der Familie und zwischen Mann und Frau definieren. 8) Das Potential von bereits entwickelten Modulen zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt liegt ungenutzt brach. Es wäre ein Leichtes, die bereits vorliegenden Best-­‐Practices-­‐Beispiele aus einigen Kantonen kostengünstig zur Verfügung zu stellen. Die Weiterentwicklung von gemeinsam definierten Qualitätsansprüchen sollten auf gesamt-­‐schweizerischer Ebene vorangetrieben werden. Ebenso selbstverständlich sollte das fachliche Controlling von allen involvierten Fachstellen und Behörden sein. 9) Last but not least ist zu bedenken, dass Gewalt keine Kantonsgrenzen kennt. Es ist dringend notwendig in der föderalistisch ausgeprägten Schweiz, die Koordination auf allen relevanten Ebenen zu verbessern wie Waffen-­‐ und Strafregister, Fragen zum Datenschutz, Ahndung von Straftaten, Überwachung von Straf-­‐ und Gesetzesmassnahmen, konsequente Ahndung von geschlechtsspezifischer Gewalt unabhängig von Alter, Berufs-­‐ und Schichtzugehörigkeit, nationalem oder kulturellem Hintergrund. Zusammenfassend hält die DAO fest: Das rechtzeitige Intervenieren bei Straftatbeständen ist immer wichtig, im Kontext von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen jedoch besonders entscheidend. Denn sehr oft geht es dabei um Leben und Tod. Auch unsere Gesellschaft läuft Gefahr, sich an Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu gewöhnen, sprich wegzuschauen. Das darf nicht sein – weder auf der Strasse noch zu Hause, weder bei inländischen noch ausländischen Männern. Darum braucht die Schweiz diese Konvention. Denn unser Land muss mehr und wirkungsvolleres tun gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt. Die Konvention bietet dazu ein gutes Instrument auf allen Ebenen von lokal bis national. Mit freundlichen Grüssen und bestem Dank Susan A. Peter Vorstand DAO und Geschäftsleiterin Stiftung Frauenhaus Zürich * Die DAO wurde 1987 gegründet und ist seit 2005 juristisch als gemeinnütziger Verein organisiert. Mitglieder sind die Frauenhäuser Aarau/Solothurn; Basel-­‐Stadt und Basel-­‐Landschaft; Bern; Biel/Bienne; Graubünden; Thun; Fribourg; La-­‐
Chaux-­‐de-­‐Fonds; Genf; St.Gallen; Winterthur, Zürich Violetta und Unterschlupft Oberwallis. Folgende Frauenhäuser sind nicht Mitglieder der DAO, beteiligen sich jedoch bei der jährlichen Erhebung von relevanten Daten: Locarno, Lugano, Luzern und Zürich-­‐Oberland.
3