Afghanistan am Scheideweg. Die Erfolge beim Staatsaufbau

Welt
Afghanistan am Scheideweg
Die Erfolge beim Staatsaufbau am Hindukusch müssen abgesichert werden
Ermittler überprüfen die Umgebung
eines Selbstmordanschlags. Das Ziel
der Attentäter war ein Militärkonvoi
der NATO-geführten Truppen in
Kabul, Afghanistan.
Zehn Monate nach dem Ende des ISAF-Einsatzes ist Afghanistan
weit von Frieden und Stabilität entfernt. Anfang August 2015 wurden
in der Hauptstadt Kabul bei der schwersten Anschlagswelle seit
Jahren mehr als 50 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Die
radikalislamischen Taliban übernahmen die Verantwortung für die
Selbstmordanschläge. Insgesamt zählte die Mission der Vereinten
Nationen in Afghanistan (UNAMA) in der ersten Jahreshälfte 2015
landesweit fast 5.000 zivile Opfer. Seit 2009 verzeichnete UNAMA im
Land mehr als 32.500 verwundete und fast 19.500 getötete Zivilisten.
M
it diesem Ausgang hatte kaum
jemand gerechnet: Aus der
Präsidentenwahl vom April 2014
und einer Stichwahl am 14. Juni
ging überraschend der in Kabul
und Beirut als Kulturanthropologe
ausgebildete und 2001 mit der UNO
aus den USA nach Afghanistan
zurückgekehrte Paschtune Aschraf
Ghani als Sieger hervor. Der Wahl
Ghanis folgten Machtkämpfe und
eine Periode der Unsicherheit. Erst
am 21. September wurde Ghani
offiziell zum Sieger erklärt. Seinen
hauchdünn unterlegenen Kontrahenten Abdullah Abdullah, bis 2006
Außenminister in der Regierung
Karzai und einflussreicher Gründer
der Nationalen Koalition Afghanistans, musste Ghani auf dem
eigens geschaffenen Regierungsposten eines Chief Executive Officer
akzeptieren. Abdullah verfügt damit
über direkten Zugang zu Präsident
und Kabinett.
Die Regierungsbildung dauerte
bis in den Sommer 2015 hinein.
Gefolgsleute Ghanis kamen auf
Schlüsselpositionen in den Ministerien sowie in den Provinzverwaltungen. Seine Gegner versuchten,
eigene Positionen zu sichern. Das
Verhältnis Ghanis zu Abdullah
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
37
Welt
Abdullah Abdullah unterlag in der Präsidentschaftswahl 2014 nur knapp.
Abdullah blieb angespannt. In Kabul
sammelte Ghanis Amtsvorgänger
Hamid Karzai seine Verbündeten
um sich, um weiterhin im afghanischen Machtkampf wirken zu
können und sich gegebenenfalls für
eine weitere Amtszeit als Präsident
zu empfehlen. Auf Distanz zu Ghani
ging auch der frühere Kommandeur
der Nordallianz, der ebenso effektive
wie einflussreiche tadschikische
Provinzgouverneur von Balkh, Atta
Mohammad Noor. Um seine Stellung in Nordafghanistan gegenüber
der Zentralregierung auszubauen,
schloss Noor eine Allianz mit seinem
früheren Feind, dem UsbekenGeneral Raschid Dostum. Präsident
Ghani gegenüber drohte der populären Noor offen mit der Bewaffnung
seiner Gefolgsleute im Norden. Der
Paschtune trat in jüngerer Zeit selbst
immer wieder in Uniform auf, um
sich seinen Anhängern als starker
Führer zu präsentieren.
Viele Afghanen nehmen die Arbeit
der Regierung kritisch wahr. Die
Besetzung politischer Posten erleben sie als Kampf um Pfründe,
bei dem persönliche Netzwerke,
Gefolgschaftsverhältnisse und Verpflichtungen, aber häufig nicht die
fachliche Eignung der Kandidaten
im Vordergrund stehen. Die Mehrzahl der Einwohner ist stolz auf
ihre Verfassung und die Existenz
mittlerweile zahlreich vorhandener
Parteien und identifiziert sich mit
den festgeschriebenen Regierungsund Verwaltungsstrukturen. Die täg-
Mazar-e Sharif ist als mutmaßliche Grabstätte von
Ali ibn Abi Talib die bedeutendste Wallfahrtsstätte Afghanistans und zählt zu den heiligen Städten des Islam. Die Blaue
Moschee gehört zu den schönsten Moscheen der Welt.
38
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
liche Erfahrung zeigt allerdings, dass
dieses System die Bedürfnisse der
Bevölkerung nicht sicherstellen kann.
Anstatt den Afghanen dient es vielfach als Austragungsort für Interessenkonflikte und Verteilungskämpfe.
Im Geflecht von Familienverbänden
und wechselnden Bündnissen und
Nach wie vor gibt es immense wirtschaftliche Unterschiede
zwischen den wenigen wohlhabenden regionalen Zentren
wie Mazar-e Shrif und den bitter armen ländlichen Regionen.
Welt
Aus der Präsidentenwahl vom April
2014 und einer Stichwahl am 14.
Juni ging überraschend Paschtune
Aschraf Ghani als Sieger hervor.
Koalitionen haben seit dem Ende
der Taliban-Herrschaft 2001 mächtige Warlords Einfluss und Macht
behalten. Die persönlichen Netzwerke mancher staatlicher Vertreter
erstrecken sich bis in den Bereich der
Organisierten Kriminalität und in
die unter der Bezeichnung „Taliban“
subsumierte Aufstandsbewegung.
Nach wie vor gibt es immense Unterschiede zwischen relativ sicheren
und vergleichsweise wohlhabenden
Zentren wie Mazar-e Sharif oder
Herat und vielen kaum entwickelten,
bitter armen ländlichen Regionen.
Gut organisierten Provinzhauptstädten stehen schlecht erschlossene
und schwer erreichbare Distrikte
gegenüber, in denen 15 Jahre nach
dem Ende der Taliban-Herrschaft
immer noch rudimentäre Infrastruktur fehlt. Während der Bau von
Schulen und Krankenhäusern oder
die Verbesserung der Verkehrswege
riesige Summen an internationalen
Hilfsgeldern verschlangen, herrschen
radikalislamische Regierungsgegner
und das Gesetz der Scharia vor allem
in Teilen des Südens und Ostens
und vereiteln dort alle Versuche des
Staates und ausländischer Organisationen, das Land zu modernisieren.
Wirtschaftliche Entwicklung.
Wirtschaftlich steht Afghanistan
weiterhin nicht auf eigenen Füßen
und zählt zu den ärmsten Ländern
der Welt. Staatlichen Einkünften von
geschätzten drei Milliarden US-Dollar jährlich steht ein Staatshaushalt
von zwölf Milliarden gegenüber, aus
dem unter anderem die Sicherheitskräfte zu finanzieren sind. Würden
heute die westlichen Zahlungen ausgesetzt, zu denen sich die ISAF-
2,2 Mio. Afghanen leben direkt
oder indirekt von der Herstellung und dem Vertrieb von
Opium, Heroin und Cannabis.
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
39
Welt
Länder 2012 auf dem Chicago Summit für die Zeit nach dem Auslaufen
der ISAF-Mission verpflichteten,
bräche die afghanische Staatlichkeit
wie ein Kartenhaus zusammen.
Eine Industrieproduktion ist praktisch nicht vorhanden, afghanische
Produkte sind international kaum
wettbewerbsfähig. 2,2 Millionen
Afghanen leben direkt oder indirekt
von Herstellung und Vertrieb von
Opium, Heroin und Cannabis. Zwar
verdreifachte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 2004, stagniert
aber seit 2012 bei weniger als 700
US-Dollar pro Kopf (Deutschland:
Grafik 1
in ausländische Hände geben muss.
Dienstleistungen, und hier vor allem
die Bereiche Kommunikation, Transport und Logistik sowie Banken und
Versicherungen sorgen für mehr als
50 Prozent des BIP und erzielen teils
beachtliche Wachstumsraten.
Hoffnungen sind auch mit der Realisierung internationaler Großprojekte
wie dem einer Erdgas-Pipeline
verbunden, die von den Erdgasfeldern im Süden Turkmenistans
über Herat und Kandahar Gas ins
pakistanische Quetta und von dort
weiter zu Häfen am Indischen Ozean
leiten soll. 2014 unterzeichneten
fast 45.000 US-Dollar), während sich
die Handelsbilanz kontinuierlich zu
Ungunsten Afghanistans entwickelte.
Zirka ein Fünftel des BIP wird in der
Landwirtschaft erarbeitet, wo nach
wie vor die große Masse der afghanischen Bevölkerung beschäftigt
ist. Industrie und Bergbau – insbesondere Rohstoffe wie Gold, Eisen,
Kupfer, Edelsteine und Öl – liefern
weitere 25 Prozent. Ein erheblicher
Anteil der Rohstoffeinnahmen fließt
allerdings in fremde Taschen, da
Afghanistan in Ermangelung eigener
Fähigkeiten etwa die Ausbeutung
von Kupfervorräten überwiegend
Wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans
Bruttoinlandsprodukt in Milliarden US-Dollar
25
20
20,30
20,74
2012*
2013*
21,75
17,89
61,32
15
12,07
10,3
10
5
8,56
5,15
6,17
6,93
0
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2014*
* geschätztes Bruttoinlandsprodukt
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in US-Dollar
900
800
700
600
678,67
695,25
2012*
2013*
2014*
539,67
500
435,47
380,91
400
324,71
300
200
680,50
614,66
214,23
248,05
270,19
100
0
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
* geschätztes Bruttoinlandsprodukt pro Kopf
40
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
if - Grafik
Welt
Afghanische Soldaten des 3. Infanteriekandaks, das zum 209.
Korps Shaheen der Afghan National Army gehört, werden von
einem Advisor Team (früher OMLT) der Bundeswehr beraten.
Afghanistan und Pakistan einen
Vertrag über das Projekt CASA-1000,
der es beiden Ländern ermöglicht,
über eine Überlandleitung zwischen
Kirgisistan und Peschawar Strom aus
den Kraftwerken Kirgisistans und
Tadschikistans zu beziehen. Glaubt
man Bevölkerungsumfragen, so
erwartet allerdings ein zunehmender
Anteil der Afghanen eine weitere
Verschlechterung der ökonomischen
Rahmenbedingungen. Arbeitslosigkeit und mangelnde wirtschaftliche
Perspektiven gelten als das drängendste Problem, gefolgt von der
schlechten Sicherheitslage und dem
nach wie vor allgegenwärtigen Phänomen der Korruption, die vielen
das Vertrauen in den afghanischen
Staat schwer macht.
Bewaffneter Kampf gegen die
Regierung. Die westliche Militärprä-
senz in Afghanistan geht ihrem Ende
entgegen. Dem NATO-geführten
Kampfeinsatz im Rahmen der ISAF
mit bis zu 135.000 Soldaten folgte ab
Januar 2015 die auf zwei Jahre terminierte militärische Ausbildungs- und
Trainingsmission „Resolute Support“
(RS). Diese umfasste im Frühsommer
landesweit noch etwa 13.000 Männer und Frauen in Kabul sowie an
Standorten in Mazar-e Sharif, Herat,
Kandahar sowie in der Provinz
Laghman. Abgesehen vom Einsatz
von Spezialkräften und fallweise der
Kampfunterstützung aus der Luft
beschränkt sich der Einfluss von
Resolute Support mehr und mehr auf
die genannten Zentren.
Die Verantwortung für die Sicherheit im Land liegt hingegen bei den
afghanischen Sicherheitskräften,
die 2014 nach offiziellen Angaben
einen Personalstand von 350.000
Soldaten und Polizisten erreichten.
Armee und Polizei standen über
Jahre im Schwerpunkt internationaler Unterstützung. Alleine die
USA investierten bislang bis zu 60
Milliarden Dollar in Rekrutierung,
Ausrüstung und Ausbildung. In vielen Bereichen hat insbesondere die
Afghan National Army (ANA) einen
hohen Ausbildungsstand erreicht
und genießt großen Rückhalt in der
Bevölkerung. Gleichwohl sind auch
die Sicherheitskräfte nach wie vor auf
die Finanzierung durch das Ausland
angewiesen und kämpfen mit strukturellen Defiziten. Viele Soldaten und
Polizisten sind unzufrieden mit den
Bedingungen ihres Dienstes, häufig
weit entfernt von den Familien.
Durch Desertion sinkt die Personalstärke kontinuierlich. Armee und
Polizei erleiden monatlich erhebliche
Verluste im Kampf gegen Auf-
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
41
Welt
ständische. Wöchentlich fallen in
Afghanistan durchschnittlich 150
Soldaten und Polizisten. Setzt sich
diese Entwicklung fort, so stünden
die Afghan National Defence and
Security Forces (ANDSF) rein rechnerisch durch Gefallene und Desertion binnen weniger Jahre bei einem
Personalstand von Null.
Nach dem weitgehenden Abzug der
internationalen Truppen erreichten
Anschläge gegen Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte
2015 in einigen Gebieten neue
Höchststände. Trotz landesweiter
Versuche von Militär und Polizei,
die Aufständischen dauerhaft zu
vertreiben, konnten dabei bislang
in vielen Distrikten keine nachhaltigen Erfolge erzielt werden. Die
Karte 1
lichen Bezeichnungen seit Jahren die
regulären Sicherheitskräfte unterstützen. Ausgerüstet mit westlichen
Mitteln, sollen sie schrittweise in den
ANDSF aufgehen. Die meist schlecht
ausgebildeten Kämpfer, darunter der
eine oder andere frühere TalibanKrieger, wurden mitunter selbst
zur Partei in Macht- und Verteilungskämpfen und damit zum Teil
des Problems. Oft nach ethnischer
Zugehörigkeit organisiert, sicherten
lokale Milizen Territorien gegen die
Taliban. Mitunter unterschieden sie
sich aber kaum von ihren Gegnern,
was die Drangsalierung der Bevölkerung und die brutale Verfolgung
von „Feinden“ angeht.
Insbesondere in westlichen Hauptstädten sorgten in jüngster Zeit
Taliban herrschen mit Gewalt und
Terror. Bewaffnete Gruppen, im
offenen Kampf den ANDSF deutlich
unterlegen, weichen nach jahrelang
bewährtem Muster dem militärischen Druck aus, nur um später
zurückzukehren. Defizite afghanischer Regierungsarbeit und fehlende wirtschaftliche Perspektiven
erleichtern es den Taliban, die armen
ländlichen Gebiete unter ihren
Einfluss zu bringen. Angesichts fehlender Alternativen und mangelnden
Schutzes durch die Behörden akzeptieren viele Menschen insbesondere
auf dem Land die strikten aber berechenbaren Regeln der Taliban.
Einen Sonderfall stellen einheimische lokale Milizen und Hilfspolizeieinheiten dar, die unter unterschied-
Truppenstärke in Afghanistan
Truppenstärke des deutschen
Kontingents im Vergleich:
2012
2015
ca. 5000
ca. 800
USBEKISTAN
TURKMENISTAN
Truppenstärke des internationalen Kontingents im
TAAC-N Mazar-e Sharif 2015:
1600 Soldaten
aus 22 Nationen
CHINA
TADSCHIKISTAN
Mazar-e Sharif
Shebergen
Maymanah
TAAC-N
Fayzabad
Kunduz
Pul-e Khumri
Laghman
Herat
TAAC-E
TAAC-W
Kabul
RSM HQ
TAAC-C
AFGHANISTAN
INDIEN
IRAN
Kandahar
TAAC-S
PAKISTAN
if - Grafik
42
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
Welt
Meldungen über das Auftreten der
Terrororganisation Islamischer Staat
(IS) in Afghanistan für Aufregung.
Tatsächlich handelte es sich bislang
meist um Versuche erfolgloser
Taliban-Kommandeure, durch die
behauptete Nähe zum IS Aufmerksamkeit zu erlangen. In einigen
Fällen kam es im Süden und Osten
des Landes jedoch tatsächlich zu
Kämpfen zwischen IS-Anhängern
und örtlichen Taliban-Gruppen, die
ihre angestammten Einflussgebiete
gegen alle Eindringlinge von außen
verteidigen. Nach der Ausstrahlung
eines Videos im August 2015, das
angeblich die Tötung afghanischer
Gefangener durch den IS mit Hilfe
von Sprengstoff zeigt, verurteilte
die Führung der Taliban von Pakistan aus das Vorgehen des IS gar
als „barbarisch“ und unislamisch.
Auseinandersetzungen zwischen
Taliban und IS könnten zukünftig
destabilisierend wirken, aber auch
neue Dynamik in seit Jahren ohne
greifbare Erfolge laufende Verhandlungen zwischen den Taliban und
der afghanischen Regierung bringen.
In einem – angeblich vom legendären, mittlerweile für tot erklärten
Taliban-Führer Mullah Omar selbst
verfassten – Aufruf bekundete die
Taliban-Führung, dass eine Zusammenarbeit mit der Kabuler Zentralregierung als möglicher Weg nicht
ausgeschlossen werde. Als Omars
Nachfolger wurde dessen langjähriger Stellvertreter und Gefährte
im Kampf gegen die sowjetische
Besatzung, Mullah Achtar Mansur,
bestätigt. Ob sich Mansur, der als
Befürworter von Verhandlungen
mit der afghanischen Regierung gilt,
tatsächlich in der zerstrittenen Bewegung durchsetzen wird, lässt sich
bislang nicht abschätzen.
Die Lage im Norden. Die Sicherheitslage in den Provinzen Faryab
und Badakhshan, im KunduzBaghlan-Korridor und in Balkh und
Sar-e Pul sowie die dortigen Sicherheitsprobleme gleichen weitgehend
der Situation auf dem Höhepunkt des
ISAF-Einsatzes von 2010. Während in
Kunduz und Baghlan die Taliban und
andere Gruppierungen ihre Rückzugsräume fest im Griff haben, dominieren im westlichen Faryab und in
der Provinz Badakhshan Organisierte
Kriminalität, Drogen- und Waffenhandel über die teils offenen Grenzen
nach Turkmenistan beziehungsweise Tadschikistan. Vorrangige
Angriffsziele bewaffneter Gruppen
sind die Sicherheitskräfte und deren
Rekrutierungsbemühungen sowie
die Hauptverkehrslinien. In Kunduz
gingen mehrere Distriktzentren vorübergehend an die Aufständischen verloren und mussten von afghanischen
Truppen freigekämpft werden. Die
ANDSF – im Norden 14.000 Soldaten und etwa 28.000 Polizisten
Deutsche Soldaten unterstützen
als Mentoren in der afghanischen
Pionierschule in Mazar-e Sharif
im Camp Shaheen, rund 35 Kilometer westlich vom Camp Marmal. Dort werden Mannschaften,
Offiziere und Unteroffiziere unter
anderem im Bereich der Kampfmittelräumung ausgebildet.
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
43
Welt
verschiedener Organisationen – sind
nicht überall in der Lage, genommene
Gebiete auch dauerhaft zu halten.
Die neun Nordprovinzen umfassen
162.000 Quadratkilometer mit einer
Bevölkerung von 8,5 Millionen,
davon etwa sieben Millionen in mehr
als 9.000 Dörfern. Hier sank die Zahl
deutscher Soldaten zwischen 2012
und dem Sommer 2015 von mehr als
5.000 auf nicht einmal 800 Soldaten.
Im Camp Marmal in Mazar-e Sharif,
bis Ende 2014 Sitz des Regional
Command North der ISAF, dienten
im Spätsommer 2015 insgesamt
noch 1.600 Soldaten aus 22 Nationen
im Train Advise Assist Command
North (TAAC North). Die früheren
Provincial Reconstruction Teams
(PRT) in Kunduz, Fayzabad, Pul-e
Khumri, Mazar-e Sharif, Shebergan
und Maymanah, die über Jahre des
ISAF-Einsatzes Inseln der Sicherheit
schaffen und die zivil-militärischen
Aufbaubemühungen unterstützen
und koordinieren sollten, sind
Geschichte. Sieht man von Spezialkräften ab, die auch außerhalb
der Provinz Balkh afghanische
Kommandoeinheiten ausbilden, gibt
Deutsche Kampftruppen - wie hier Soldaten der Quick
Reaction Force QRF 2013 in Mazar-e Sharif - sind nicht
Teil der Ausbildungsmission Resolute Support.
44
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
es keine westliche Truppenpräsenz
mehr. Damit ist RS, was Kenntnis
und Verständnis der Lage vor Ort
angeht, in immer stärkerem Ausmaß
von Informationen der afghanischen
Sicherheitskräfte und Nachrichtendienste abhängig.
Während ein erheblicher Anteil der
RS-Soldaten mit Betrieb und Schutz
des Feldlagers gebunden ist, unterstützen Ausbildungs- und Trainings­
teams die ANDSF in einem etwa 20
mal zehn Kilometer großen Gebiet
um Mazar-e Sharif. Weniger als 100
RS-Trainer vermitteln Kenntnisse
Welt
in den unterschiedlichen Führungsgrundgebieten, leiten die Ausbildung
an oder führen sie fallweise selbst
durch. Sie beraten bei der Optimierung vorhandener Strukturen
und der Implementierung von
Standards, Verfahren und Grundsätzen. Besonderes Augenmerk gilt
der verbesserten Zusammenarbeit
zwischen der afghanischen Armee
und den verschiedenen Polizeidiensten, Ausbildung und Einsatz
der afghanischen Luftwaffe oder
den Fähigkeiten bei Aufspürung
und Beseitigung von Minen und
Sprengfallen. RS berät bei der
Informationsarbeit oder was die
Berücksichtigung von Erkenntnissen
des militärischen Nachrichtenwesens
für die Planung und Durchführung
von Operationen angeht. Logistik,
Personalmanagement, medizinische
Versorgung und der Betrieb der
ANDSF-Liegenschaften zählen zu
den weiteren Schwerpunkten. Bleibt
es bei aktuell gültigen Planungen, so
werden die Trainings- und Ausbildungsaktivitäten vom Camp Marmal
aus zum Jahresende 2015 eingestellt.
Die Übergabe des Feldlagers an die
afghanischen Behörden würde dann
im Frühjahr 2016 folgen.
Die Zeit nach Resolute Support.
Den schrittweisen Abzug der
westlichen Truppen betrachten die
meisten Afghanen mit gemischten
Gefühlen. Dem teilweise vorhandenen Unbehagen über fremdes
Militär im eigenen Land stehen die
durch ISAF und RS erbrachten Leistungen beim Aufbau afghanischer
Sicherheitsstrukturen gegenüber.
Vielen Menschen ist bewusst, dass
die ANDSF in manchen Bereichen
noch nicht in der Lage sind, die
Sicherheit zu gewährleisten. Neben
der realen Präsenz westlicher
Truppen treten die politische und
symbolische Ebene des militärischen
Engagements in den Vordergrund:
Dieses hat Afghanistan über eine kri-
tische Phase der Unsicherheit hinweg
geholfen und wird als Bekundung
verstanden, dass der Westen das
Land auch in Zukunft nicht mit seinen Problemen alleine lassen wird.
Vor diesem Hintergrund kommt
der RS-Folgemission „Enduring
Partnership“, die zurzeit Gestalt
annimmt, erhebliche Bedeutung zu.
Beginnend 2017, soll sie unter ziviler
Führung stehen aber nach wie vor
eine kleine militärische Komponente
umfassen. Welche Fähigkeiten dann
noch für Ausbildung und Training
außerhalb Kabuls verbleiben, wird
von der Truppenstärke abhängen,
über die die US-Regierung und ihre
westlichen Partner in naher Zukunft
zu entscheiden haben. Verschiedene
Varianten sind denkbar. Sie reichen
von einer vollständigen Konzentration der verbleibenden Kräfte in der
Hauptstadt und dem Einsatz mobiler
Ausbildungs- und Trainingsteams in
anderen Teilen des Landes bis hin
zur Beibehaltung einer militä-
Nach dem Abzug der westlichen Truppen kommt der RS-Folgemission „Enduring Partnership“ erhebliche Bedeutung zu.
Beginnend 2017 soll sie unter
ziviler Führung stehen, aber
nach wie vor eine kleine militärische Komponente umfassen.
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
45
Welt
rischen Ausbildungsmission im gut
ausgebauten und sicheren Standort
Mazar-e Sharif bei gleichzeitiger
Aufgabe anderer Basen etwa in Herat
und Kandahar.
Auch weiterhin wird Afghanistan ein
politisches System bleiben, in dem
Entscheidungsfindung und Politik
anderen Regeln folgen als westlichen
Werten und Vorstellungen. Wo
effektive staatliche Kontrolle oder
die Verbesserung der Sicherheitslage
gelingen, werden westliche moralische Standards oder Transparenzkriterien nach wie vor nicht immer
eingehalten. Afghanistan funktioniert in landestypischer Weise im
instabilen Gleichgewicht zwischen
einer Vielzahl von Kräften innerhalb
von Regierung und Verwaltung,
in Auseinandersetzung zwischen
Hauptstadt und Provinzen, Stadt und
Land, ethnischen und ökonomischen
Interessen, Stammes- und Familienverbänden. Viele Menschen, selbst
wenn sie der aktuellen Regierung
und den staatlichen Behörden kritisch gegenüberstehen, befürworten
doch einen Gesamtstaat in gesicherten Grenzen, der den Rahmen bietet
für die Verfolgung eigener Interessen.
Einen wesentlichen Antrieb für die
Weiterentwicklung von Staat und
Gesellschaft werden auf absehbare
Zeit die finanzielle Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft
und die Verteilung entsprechender
Ressourcen bilden. Blieben diese
von heute auf morgen aus, wären die
bislang erzielten Erfolge beim Aufbau afghanischer Staatlichkeit wohl
rasch verloren. Hieraus erwächst eine
große Verantwortung für die westliche Welt, deren Afghanistan-Engagement auch nach Resolute Support
nicht enden darf.
46
Zeitschrift für Innere Führung 4|2015
Autor
Dr. Bernhard Chiari, Jahrgang 1965, ist Director Organizations & Government im
Beratungsunternehmen EXOP in Konstanz. Zuvor arbeitete er am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam.
Zusammenfassung
Nach der Präsidentschaftswahl vom April 2014 dauerte es mehr als ein Jahr, bis
Afghanistan eine arbeitsfähige Regierung erhielt. Weiterhin hemmen Machtkämpfe zwischen verfeindeten Lagern staatliches Handeln. Die kaum entwickelte
afghanische Wirtschaft erbringt bislang nicht einmal annähernd die für den
Staatshaushalt benötigten Mittel. Auch die Sicherheitskräfte sind ohne westliche
Unterstützung nicht finanzierbar. Ihnen kommt entscheidende Bedeutung zu, um
die Sicherheit im Land herzustellen und die nach wie vor weithin präsenten Taliban
zu bekämpfen. Resolute Support leistet in Kabul und in den afghanischen Regionen
bis Ende 2016 Unterstützung bei Ausbildung und Training von Armee und Polizei.
Auch danach muss sich die Internationale Gemeinschaft in Afghanistan engagieren,
damit die erzielten Erfolge beim Staatsaufbau nicht zunichte gemacht werden.
Literaturhinweise
Seit 2009 veröffentlicht das Afghanistan Analysts Network (AAN) Berichte und Analysen internationaler Experten zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft Afghanistans
(http://www.afghanistan-analysts.org/)
From Venus to Mars? Provincial Reconstruction Teams and the European Military
Experience in Afghanistan, 2001–2014. Ed. by Bernhard Chiari in collaboration with
Thijs Brocades Zaalberg, Nicola Labanca and Ben Schoenmaker, Freiburg, Wien,
Berlin 2014
Bernhard Chiari, Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus militärhistorischer
Sicht, in: Am Hindukusch – und weiter? Die Bundeswehr im Auslandseinsatz: Erfahrungen, Bilanzen, Ausblicke. Hrsg. von Rainer L. Glatz und Rolf Tophoven, Bonn
2015, S. 139-155
Fotos
Seite 37: picture-alliance/Photoshot
Seite 38 oben: picture-alliance/landov
Seite 38 links: Bundeswehr/SKA/IMZBw
Seite 38 rechts und Seite 43: Bundeswehr/Bienert
Seite 39: picture-alliance/dpa
Seite 41 links: picture-alliance/AP Photo
Seite 41 rechts: Bundeswehr/S. Wilke
Seite 44: Bundeswehr/Stollberg
Seite 45: Bundeswehr/Kazda
Grafiken
Seite 39: CIA World Factbook/Bundeswehr/Hebbel
Seiten 40 und 42: Bundeswehr/Nothing