Welt Afghanistan am Scheideweg Die Erfolge beim Staatsaufbau am Hindukusch müssen abgesichert werden Ermittler überprüfen die Umgebung eines Selbstmordanschlags. Das Ziel der Attentäter war ein Militärkonvoi der NATO-geführten Truppen in Kabul, Afghanistan. Zehn Monate nach dem Ende des ISAF-Einsatzes ist Afghanistan weit von Frieden und Stabilität entfernt. Anfang August 2015 wurden in der Hauptstadt Kabul bei der schwersten Anschlagswelle seit Jahren mehr als 50 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Die radikalislamischen Taliban übernahmen die Verantwortung für die Selbstmordanschläge. Insgesamt zählte die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) in der ersten Jahreshälfte 2015 landesweit fast 5.000 zivile Opfer. Seit 2009 verzeichnete UNAMA im Land mehr als 32.500 verwundete und fast 19.500 getötete Zivilisten. M it diesem Ausgang hatte kaum jemand gerechnet: Aus der Präsidentenwahl vom April 2014 und einer Stichwahl am 14. Juni ging überraschend der in Kabul und Beirut als Kulturanthropologe ausgebildete und 2001 mit der UNO aus den USA nach Afghanistan zurückgekehrte Paschtune Aschraf Ghani als Sieger hervor. Der Wahl Ghanis folgten Machtkämpfe und eine Periode der Unsicherheit. Erst am 21. September wurde Ghani offiziell zum Sieger erklärt. Seinen hauchdünn unterlegenen Kontrahenten Abdullah Abdullah, bis 2006 Außenminister in der Regierung Karzai und einflussreicher Gründer der Nationalen Koalition Afghanistans, musste Ghani auf dem eigens geschaffenen Regierungsposten eines Chief Executive Officer akzeptieren. Abdullah verfügt damit über direkten Zugang zu Präsident und Kabinett. Die Regierungsbildung dauerte bis in den Sommer 2015 hinein. Gefolgsleute Ghanis kamen auf Schlüsselpositionen in den Ministerien sowie in den Provinzverwaltungen. Seine Gegner versuchten, eigene Positionen zu sichern. Das Verhältnis Ghanis zu Abdullah Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 37 Welt Abdullah Abdullah unterlag in der Präsidentschaftswahl 2014 nur knapp. Abdullah blieb angespannt. In Kabul sammelte Ghanis Amtsvorgänger Hamid Karzai seine Verbündeten um sich, um weiterhin im afghanischen Machtkampf wirken zu können und sich gegebenenfalls für eine weitere Amtszeit als Präsident zu empfehlen. Auf Distanz zu Ghani ging auch der frühere Kommandeur der Nordallianz, der ebenso effektive wie einflussreiche tadschikische Provinzgouverneur von Balkh, Atta Mohammad Noor. Um seine Stellung in Nordafghanistan gegenüber der Zentralregierung auszubauen, schloss Noor eine Allianz mit seinem früheren Feind, dem UsbekenGeneral Raschid Dostum. Präsident Ghani gegenüber drohte der populären Noor offen mit der Bewaffnung seiner Gefolgsleute im Norden. Der Paschtune trat in jüngerer Zeit selbst immer wieder in Uniform auf, um sich seinen Anhängern als starker Führer zu präsentieren. Viele Afghanen nehmen die Arbeit der Regierung kritisch wahr. Die Besetzung politischer Posten erleben sie als Kampf um Pfründe, bei dem persönliche Netzwerke, Gefolgschaftsverhältnisse und Verpflichtungen, aber häufig nicht die fachliche Eignung der Kandidaten im Vordergrund stehen. Die Mehrzahl der Einwohner ist stolz auf ihre Verfassung und die Existenz mittlerweile zahlreich vorhandener Parteien und identifiziert sich mit den festgeschriebenen Regierungsund Verwaltungsstrukturen. Die täg- Mazar-e Sharif ist als mutmaßliche Grabstätte von Ali ibn Abi Talib die bedeutendste Wallfahrtsstätte Afghanistans und zählt zu den heiligen Städten des Islam. Die Blaue Moschee gehört zu den schönsten Moscheen der Welt. 38 Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 liche Erfahrung zeigt allerdings, dass dieses System die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht sicherstellen kann. Anstatt den Afghanen dient es vielfach als Austragungsort für Interessenkonflikte und Verteilungskämpfe. Im Geflecht von Familienverbänden und wechselnden Bündnissen und Nach wie vor gibt es immense wirtschaftliche Unterschiede zwischen den wenigen wohlhabenden regionalen Zentren wie Mazar-e Shrif und den bitter armen ländlichen Regionen. Welt Aus der Präsidentenwahl vom April 2014 und einer Stichwahl am 14. Juni ging überraschend Paschtune Aschraf Ghani als Sieger hervor. Koalitionen haben seit dem Ende der Taliban-Herrschaft 2001 mächtige Warlords Einfluss und Macht behalten. Die persönlichen Netzwerke mancher staatlicher Vertreter erstrecken sich bis in den Bereich der Organisierten Kriminalität und in die unter der Bezeichnung „Taliban“ subsumierte Aufstandsbewegung. Nach wie vor gibt es immense Unterschiede zwischen relativ sicheren und vergleichsweise wohlhabenden Zentren wie Mazar-e Sharif oder Herat und vielen kaum entwickelten, bitter armen ländlichen Regionen. Gut organisierten Provinzhauptstädten stehen schlecht erschlossene und schwer erreichbare Distrikte gegenüber, in denen 15 Jahre nach dem Ende der Taliban-Herrschaft immer noch rudimentäre Infrastruktur fehlt. Während der Bau von Schulen und Krankenhäusern oder die Verbesserung der Verkehrswege riesige Summen an internationalen Hilfsgeldern verschlangen, herrschen radikalislamische Regierungsgegner und das Gesetz der Scharia vor allem in Teilen des Südens und Ostens und vereiteln dort alle Versuche des Staates und ausländischer Organisationen, das Land zu modernisieren. Wirtschaftliche Entwicklung. Wirtschaftlich steht Afghanistan weiterhin nicht auf eigenen Füßen und zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Staatlichen Einkünften von geschätzten drei Milliarden US-Dollar jährlich steht ein Staatshaushalt von zwölf Milliarden gegenüber, aus dem unter anderem die Sicherheitskräfte zu finanzieren sind. Würden heute die westlichen Zahlungen ausgesetzt, zu denen sich die ISAF- 2,2 Mio. Afghanen leben direkt oder indirekt von der Herstellung und dem Vertrieb von Opium, Heroin und Cannabis. Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 39 Welt Länder 2012 auf dem Chicago Summit für die Zeit nach dem Auslaufen der ISAF-Mission verpflichteten, bräche die afghanische Staatlichkeit wie ein Kartenhaus zusammen. Eine Industrieproduktion ist praktisch nicht vorhanden, afghanische Produkte sind international kaum wettbewerbsfähig. 2,2 Millionen Afghanen leben direkt oder indirekt von Herstellung und Vertrieb von Opium, Heroin und Cannabis. Zwar verdreifachte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit 2004, stagniert aber seit 2012 bei weniger als 700 US-Dollar pro Kopf (Deutschland: Grafik 1 in ausländische Hände geben muss. Dienstleistungen, und hier vor allem die Bereiche Kommunikation, Transport und Logistik sowie Banken und Versicherungen sorgen für mehr als 50 Prozent des BIP und erzielen teils beachtliche Wachstumsraten. Hoffnungen sind auch mit der Realisierung internationaler Großprojekte wie dem einer Erdgas-Pipeline verbunden, die von den Erdgasfeldern im Süden Turkmenistans über Herat und Kandahar Gas ins pakistanische Quetta und von dort weiter zu Häfen am Indischen Ozean leiten soll. 2014 unterzeichneten fast 45.000 US-Dollar), während sich die Handelsbilanz kontinuierlich zu Ungunsten Afghanistans entwickelte. Zirka ein Fünftel des BIP wird in der Landwirtschaft erarbeitet, wo nach wie vor die große Masse der afghanischen Bevölkerung beschäftigt ist. Industrie und Bergbau – insbesondere Rohstoffe wie Gold, Eisen, Kupfer, Edelsteine und Öl – liefern weitere 25 Prozent. Ein erheblicher Anteil der Rohstoffeinnahmen fließt allerdings in fremde Taschen, da Afghanistan in Ermangelung eigener Fähigkeiten etwa die Ausbeutung von Kupfervorräten überwiegend Wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans Bruttoinlandsprodukt in Milliarden US-Dollar 25 20 20,30 20,74 2012* 2013* 21,75 17,89 61,32 15 12,07 10,3 10 5 8,56 5,15 6,17 6,93 0 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2014* * geschätztes Bruttoinlandsprodukt Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in US-Dollar 900 800 700 600 678,67 695,25 2012* 2013* 2014* 539,67 500 435,47 380,91 400 324,71 300 200 680,50 614,66 214,23 248,05 270,19 100 0 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 * geschätztes Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 40 Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 if - Grafik Welt Afghanische Soldaten des 3. Infanteriekandaks, das zum 209. Korps Shaheen der Afghan National Army gehört, werden von einem Advisor Team (früher OMLT) der Bundeswehr beraten. Afghanistan und Pakistan einen Vertrag über das Projekt CASA-1000, der es beiden Ländern ermöglicht, über eine Überlandleitung zwischen Kirgisistan und Peschawar Strom aus den Kraftwerken Kirgisistans und Tadschikistans zu beziehen. Glaubt man Bevölkerungsumfragen, so erwartet allerdings ein zunehmender Anteil der Afghanen eine weitere Verschlechterung der ökonomischen Rahmenbedingungen. Arbeitslosigkeit und mangelnde wirtschaftliche Perspektiven gelten als das drängendste Problem, gefolgt von der schlechten Sicherheitslage und dem nach wie vor allgegenwärtigen Phänomen der Korruption, die vielen das Vertrauen in den afghanischen Staat schwer macht. Bewaffneter Kampf gegen die Regierung. Die westliche Militärprä- senz in Afghanistan geht ihrem Ende entgegen. Dem NATO-geführten Kampfeinsatz im Rahmen der ISAF mit bis zu 135.000 Soldaten folgte ab Januar 2015 die auf zwei Jahre terminierte militärische Ausbildungs- und Trainingsmission „Resolute Support“ (RS). Diese umfasste im Frühsommer landesweit noch etwa 13.000 Männer und Frauen in Kabul sowie an Standorten in Mazar-e Sharif, Herat, Kandahar sowie in der Provinz Laghman. Abgesehen vom Einsatz von Spezialkräften und fallweise der Kampfunterstützung aus der Luft beschränkt sich der Einfluss von Resolute Support mehr und mehr auf die genannten Zentren. Die Verantwortung für die Sicherheit im Land liegt hingegen bei den afghanischen Sicherheitskräften, die 2014 nach offiziellen Angaben einen Personalstand von 350.000 Soldaten und Polizisten erreichten. Armee und Polizei standen über Jahre im Schwerpunkt internationaler Unterstützung. Alleine die USA investierten bislang bis zu 60 Milliarden Dollar in Rekrutierung, Ausrüstung und Ausbildung. In vielen Bereichen hat insbesondere die Afghan National Army (ANA) einen hohen Ausbildungsstand erreicht und genießt großen Rückhalt in der Bevölkerung. Gleichwohl sind auch die Sicherheitskräfte nach wie vor auf die Finanzierung durch das Ausland angewiesen und kämpfen mit strukturellen Defiziten. Viele Soldaten und Polizisten sind unzufrieden mit den Bedingungen ihres Dienstes, häufig weit entfernt von den Familien. Durch Desertion sinkt die Personalstärke kontinuierlich. Armee und Polizei erleiden monatlich erhebliche Verluste im Kampf gegen Auf- Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 41 Welt ständische. Wöchentlich fallen in Afghanistan durchschnittlich 150 Soldaten und Polizisten. Setzt sich diese Entwicklung fort, so stünden die Afghan National Defence and Security Forces (ANDSF) rein rechnerisch durch Gefallene und Desertion binnen weniger Jahre bei einem Personalstand von Null. Nach dem weitgehenden Abzug der internationalen Truppen erreichten Anschläge gegen Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte 2015 in einigen Gebieten neue Höchststände. Trotz landesweiter Versuche von Militär und Polizei, die Aufständischen dauerhaft zu vertreiben, konnten dabei bislang in vielen Distrikten keine nachhaltigen Erfolge erzielt werden. Die Karte 1 lichen Bezeichnungen seit Jahren die regulären Sicherheitskräfte unterstützen. Ausgerüstet mit westlichen Mitteln, sollen sie schrittweise in den ANDSF aufgehen. Die meist schlecht ausgebildeten Kämpfer, darunter der eine oder andere frühere TalibanKrieger, wurden mitunter selbst zur Partei in Macht- und Verteilungskämpfen und damit zum Teil des Problems. Oft nach ethnischer Zugehörigkeit organisiert, sicherten lokale Milizen Territorien gegen die Taliban. Mitunter unterschieden sie sich aber kaum von ihren Gegnern, was die Drangsalierung der Bevölkerung und die brutale Verfolgung von „Feinden“ angeht. Insbesondere in westlichen Hauptstädten sorgten in jüngster Zeit Taliban herrschen mit Gewalt und Terror. Bewaffnete Gruppen, im offenen Kampf den ANDSF deutlich unterlegen, weichen nach jahrelang bewährtem Muster dem militärischen Druck aus, nur um später zurückzukehren. Defizite afghanischer Regierungsarbeit und fehlende wirtschaftliche Perspektiven erleichtern es den Taliban, die armen ländlichen Gebiete unter ihren Einfluss zu bringen. Angesichts fehlender Alternativen und mangelnden Schutzes durch die Behörden akzeptieren viele Menschen insbesondere auf dem Land die strikten aber berechenbaren Regeln der Taliban. Einen Sonderfall stellen einheimische lokale Milizen und Hilfspolizeieinheiten dar, die unter unterschied- Truppenstärke in Afghanistan Truppenstärke des deutschen Kontingents im Vergleich: 2012 2015 ca. 5000 ca. 800 USBEKISTAN TURKMENISTAN Truppenstärke des internationalen Kontingents im TAAC-N Mazar-e Sharif 2015: 1600 Soldaten aus 22 Nationen CHINA TADSCHIKISTAN Mazar-e Sharif Shebergen Maymanah TAAC-N Fayzabad Kunduz Pul-e Khumri Laghman Herat TAAC-E TAAC-W Kabul RSM HQ TAAC-C AFGHANISTAN INDIEN IRAN Kandahar TAAC-S PAKISTAN if - Grafik 42 Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 Welt Meldungen über das Auftreten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) in Afghanistan für Aufregung. Tatsächlich handelte es sich bislang meist um Versuche erfolgloser Taliban-Kommandeure, durch die behauptete Nähe zum IS Aufmerksamkeit zu erlangen. In einigen Fällen kam es im Süden und Osten des Landes jedoch tatsächlich zu Kämpfen zwischen IS-Anhängern und örtlichen Taliban-Gruppen, die ihre angestammten Einflussgebiete gegen alle Eindringlinge von außen verteidigen. Nach der Ausstrahlung eines Videos im August 2015, das angeblich die Tötung afghanischer Gefangener durch den IS mit Hilfe von Sprengstoff zeigt, verurteilte die Führung der Taliban von Pakistan aus das Vorgehen des IS gar als „barbarisch“ und unislamisch. Auseinandersetzungen zwischen Taliban und IS könnten zukünftig destabilisierend wirken, aber auch neue Dynamik in seit Jahren ohne greifbare Erfolge laufende Verhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung bringen. In einem – angeblich vom legendären, mittlerweile für tot erklärten Taliban-Führer Mullah Omar selbst verfassten – Aufruf bekundete die Taliban-Führung, dass eine Zusammenarbeit mit der Kabuler Zentralregierung als möglicher Weg nicht ausgeschlossen werde. Als Omars Nachfolger wurde dessen langjähriger Stellvertreter und Gefährte im Kampf gegen die sowjetische Besatzung, Mullah Achtar Mansur, bestätigt. Ob sich Mansur, der als Befürworter von Verhandlungen mit der afghanischen Regierung gilt, tatsächlich in der zerstrittenen Bewegung durchsetzen wird, lässt sich bislang nicht abschätzen. Die Lage im Norden. Die Sicherheitslage in den Provinzen Faryab und Badakhshan, im KunduzBaghlan-Korridor und in Balkh und Sar-e Pul sowie die dortigen Sicherheitsprobleme gleichen weitgehend der Situation auf dem Höhepunkt des ISAF-Einsatzes von 2010. Während in Kunduz und Baghlan die Taliban und andere Gruppierungen ihre Rückzugsräume fest im Griff haben, dominieren im westlichen Faryab und in der Provinz Badakhshan Organisierte Kriminalität, Drogen- und Waffenhandel über die teils offenen Grenzen nach Turkmenistan beziehungsweise Tadschikistan. Vorrangige Angriffsziele bewaffneter Gruppen sind die Sicherheitskräfte und deren Rekrutierungsbemühungen sowie die Hauptverkehrslinien. In Kunduz gingen mehrere Distriktzentren vorübergehend an die Aufständischen verloren und mussten von afghanischen Truppen freigekämpft werden. Die ANDSF – im Norden 14.000 Soldaten und etwa 28.000 Polizisten Deutsche Soldaten unterstützen als Mentoren in der afghanischen Pionierschule in Mazar-e Sharif im Camp Shaheen, rund 35 Kilometer westlich vom Camp Marmal. Dort werden Mannschaften, Offiziere und Unteroffiziere unter anderem im Bereich der Kampfmittelräumung ausgebildet. Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 43 Welt verschiedener Organisationen – sind nicht überall in der Lage, genommene Gebiete auch dauerhaft zu halten. Die neun Nordprovinzen umfassen 162.000 Quadratkilometer mit einer Bevölkerung von 8,5 Millionen, davon etwa sieben Millionen in mehr als 9.000 Dörfern. Hier sank die Zahl deutscher Soldaten zwischen 2012 und dem Sommer 2015 von mehr als 5.000 auf nicht einmal 800 Soldaten. Im Camp Marmal in Mazar-e Sharif, bis Ende 2014 Sitz des Regional Command North der ISAF, dienten im Spätsommer 2015 insgesamt noch 1.600 Soldaten aus 22 Nationen im Train Advise Assist Command North (TAAC North). Die früheren Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Kunduz, Fayzabad, Pul-e Khumri, Mazar-e Sharif, Shebergan und Maymanah, die über Jahre des ISAF-Einsatzes Inseln der Sicherheit schaffen und die zivil-militärischen Aufbaubemühungen unterstützen und koordinieren sollten, sind Geschichte. Sieht man von Spezialkräften ab, die auch außerhalb der Provinz Balkh afghanische Kommandoeinheiten ausbilden, gibt Deutsche Kampftruppen - wie hier Soldaten der Quick Reaction Force QRF 2013 in Mazar-e Sharif - sind nicht Teil der Ausbildungsmission Resolute Support. 44 Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 es keine westliche Truppenpräsenz mehr. Damit ist RS, was Kenntnis und Verständnis der Lage vor Ort angeht, in immer stärkerem Ausmaß von Informationen der afghanischen Sicherheitskräfte und Nachrichtendienste abhängig. Während ein erheblicher Anteil der RS-Soldaten mit Betrieb und Schutz des Feldlagers gebunden ist, unterstützen Ausbildungs- und Trainings teams die ANDSF in einem etwa 20 mal zehn Kilometer großen Gebiet um Mazar-e Sharif. Weniger als 100 RS-Trainer vermitteln Kenntnisse Welt in den unterschiedlichen Führungsgrundgebieten, leiten die Ausbildung an oder führen sie fallweise selbst durch. Sie beraten bei der Optimierung vorhandener Strukturen und der Implementierung von Standards, Verfahren und Grundsätzen. Besonderes Augenmerk gilt der verbesserten Zusammenarbeit zwischen der afghanischen Armee und den verschiedenen Polizeidiensten, Ausbildung und Einsatz der afghanischen Luftwaffe oder den Fähigkeiten bei Aufspürung und Beseitigung von Minen und Sprengfallen. RS berät bei der Informationsarbeit oder was die Berücksichtigung von Erkenntnissen des militärischen Nachrichtenwesens für die Planung und Durchführung von Operationen angeht. Logistik, Personalmanagement, medizinische Versorgung und der Betrieb der ANDSF-Liegenschaften zählen zu den weiteren Schwerpunkten. Bleibt es bei aktuell gültigen Planungen, so werden die Trainings- und Ausbildungsaktivitäten vom Camp Marmal aus zum Jahresende 2015 eingestellt. Die Übergabe des Feldlagers an die afghanischen Behörden würde dann im Frühjahr 2016 folgen. Die Zeit nach Resolute Support. Den schrittweisen Abzug der westlichen Truppen betrachten die meisten Afghanen mit gemischten Gefühlen. Dem teilweise vorhandenen Unbehagen über fremdes Militär im eigenen Land stehen die durch ISAF und RS erbrachten Leistungen beim Aufbau afghanischer Sicherheitsstrukturen gegenüber. Vielen Menschen ist bewusst, dass die ANDSF in manchen Bereichen noch nicht in der Lage sind, die Sicherheit zu gewährleisten. Neben der realen Präsenz westlicher Truppen treten die politische und symbolische Ebene des militärischen Engagements in den Vordergrund: Dieses hat Afghanistan über eine kri- tische Phase der Unsicherheit hinweg geholfen und wird als Bekundung verstanden, dass der Westen das Land auch in Zukunft nicht mit seinen Problemen alleine lassen wird. Vor diesem Hintergrund kommt der RS-Folgemission „Enduring Partnership“, die zurzeit Gestalt annimmt, erhebliche Bedeutung zu. Beginnend 2017, soll sie unter ziviler Führung stehen aber nach wie vor eine kleine militärische Komponente umfassen. Welche Fähigkeiten dann noch für Ausbildung und Training außerhalb Kabuls verbleiben, wird von der Truppenstärke abhängen, über die die US-Regierung und ihre westlichen Partner in naher Zukunft zu entscheiden haben. Verschiedene Varianten sind denkbar. Sie reichen von einer vollständigen Konzentration der verbleibenden Kräfte in der Hauptstadt und dem Einsatz mobiler Ausbildungs- und Trainingsteams in anderen Teilen des Landes bis hin zur Beibehaltung einer militä- Nach dem Abzug der westlichen Truppen kommt der RS-Folgemission „Enduring Partnership“ erhebliche Bedeutung zu. Beginnend 2017 soll sie unter ziviler Führung stehen, aber nach wie vor eine kleine militärische Komponente umfassen. Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 45 Welt rischen Ausbildungsmission im gut ausgebauten und sicheren Standort Mazar-e Sharif bei gleichzeitiger Aufgabe anderer Basen etwa in Herat und Kandahar. Auch weiterhin wird Afghanistan ein politisches System bleiben, in dem Entscheidungsfindung und Politik anderen Regeln folgen als westlichen Werten und Vorstellungen. Wo effektive staatliche Kontrolle oder die Verbesserung der Sicherheitslage gelingen, werden westliche moralische Standards oder Transparenzkriterien nach wie vor nicht immer eingehalten. Afghanistan funktioniert in landestypischer Weise im instabilen Gleichgewicht zwischen einer Vielzahl von Kräften innerhalb von Regierung und Verwaltung, in Auseinandersetzung zwischen Hauptstadt und Provinzen, Stadt und Land, ethnischen und ökonomischen Interessen, Stammes- und Familienverbänden. Viele Menschen, selbst wenn sie der aktuellen Regierung und den staatlichen Behörden kritisch gegenüberstehen, befürworten doch einen Gesamtstaat in gesicherten Grenzen, der den Rahmen bietet für die Verfolgung eigener Interessen. Einen wesentlichen Antrieb für die Weiterentwicklung von Staat und Gesellschaft werden auf absehbare Zeit die finanzielle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und die Verteilung entsprechender Ressourcen bilden. Blieben diese von heute auf morgen aus, wären die bislang erzielten Erfolge beim Aufbau afghanischer Staatlichkeit wohl rasch verloren. Hieraus erwächst eine große Verantwortung für die westliche Welt, deren Afghanistan-Engagement auch nach Resolute Support nicht enden darf. 46 Zeitschrift für Innere Führung 4|2015 Autor Dr. Bernhard Chiari, Jahrgang 1965, ist Director Organizations & Government im Beratungsunternehmen EXOP in Konstanz. Zuvor arbeitete er am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Zusammenfassung Nach der Präsidentschaftswahl vom April 2014 dauerte es mehr als ein Jahr, bis Afghanistan eine arbeitsfähige Regierung erhielt. Weiterhin hemmen Machtkämpfe zwischen verfeindeten Lagern staatliches Handeln. Die kaum entwickelte afghanische Wirtschaft erbringt bislang nicht einmal annähernd die für den Staatshaushalt benötigten Mittel. Auch die Sicherheitskräfte sind ohne westliche Unterstützung nicht finanzierbar. Ihnen kommt entscheidende Bedeutung zu, um die Sicherheit im Land herzustellen und die nach wie vor weithin präsenten Taliban zu bekämpfen. Resolute Support leistet in Kabul und in den afghanischen Regionen bis Ende 2016 Unterstützung bei Ausbildung und Training von Armee und Polizei. Auch danach muss sich die Internationale Gemeinschaft in Afghanistan engagieren, damit die erzielten Erfolge beim Staatsaufbau nicht zunichte gemacht werden. Literaturhinweise Seit 2009 veröffentlicht das Afghanistan Analysts Network (AAN) Berichte und Analysen internationaler Experten zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft Afghanistans (http://www.afghanistan-analysts.org/) From Venus to Mars? Provincial Reconstruction Teams and the European Military Experience in Afghanistan, 2001–2014. Ed. by Bernhard Chiari in collaboration with Thijs Brocades Zaalberg, Nicola Labanca and Ben Schoenmaker, Freiburg, Wien, Berlin 2014 Bernhard Chiari, Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus militärhistorischer Sicht, in: Am Hindukusch – und weiter? Die Bundeswehr im Auslandseinsatz: Erfahrungen, Bilanzen, Ausblicke. Hrsg. von Rainer L. Glatz und Rolf Tophoven, Bonn 2015, S. 139-155 Fotos Seite 37: picture-alliance/Photoshot Seite 38 oben: picture-alliance/landov Seite 38 links: Bundeswehr/SKA/IMZBw Seite 38 rechts und Seite 43: Bundeswehr/Bienert Seite 39: picture-alliance/dpa Seite 41 links: picture-alliance/AP Photo Seite 41 rechts: Bundeswehr/S. Wilke Seite 44: Bundeswehr/Stollberg Seite 45: Bundeswehr/Kazda Grafiken Seite 39: CIA World Factbook/Bundeswehr/Hebbel Seiten 40 und 42: Bundeswehr/Nothing
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