Skript - Anskar-Kirche Hamburg

Die Psalmen: Eine Einführung
Kurzskript
Dr. Tillmann Krüger
Anskar-Kirche Hamburg-Mitte
August/September 2015
Überblick über die 3 Abende
Es geht hier um eine Einführung in die Psalmen. Mehr ist in drei Abenden nicht zu leisten. Am ersten Abend
geht es auch um eine grundsätzliche Einführung in den Psalter. An jedem Abend gibt es einen
Schwerpunktpsalm, der ausgelegt wird, um beispielhaft zu verdeutlichen, wie man einen Psalm lesen,
verstehen und beten kann. Dieser Psalm wird jeweils auch von Heidi KANTWILL vorgetragen, um die poetische
Dichte zu verdeutlichen. Die ausgewählten Psalmen sind: Psalm 1, Psalm 23 und Psalm 73. Man hätte
natürlich auch andere Psalmen nehmen können, aber es musste eine Auswahl getroffen werden. Vielleicht
wird es im nächsten Jahr auch nochmal eine Fortsetzung geben …
Jeder Abend dauert ca. 90 Minuten. Wir sind also um etwa 21 Uhr fertig. Es wird dieses Mal keine
Fragerunden geben, weil bei einer Einführung naturgemäß sehr viele Fragen unbeantwortet bleiben müssen.
Vielmehr sollen diese Abende euch Lust auf Mehr machen ;-) Wenn sie das schaffen, ist Wesentliches
erreicht! Was wir dieses Mal aber auch machen: wir nehmen den Vortrag auch auf Video auf und hoffen, dass
die Qualität ausreicht, um das Ganze auch auf Youtube hochzuladen. Und: es wird auch ein Skript geben, das
man mit den Audioaufnahmen entweder über unseren Mediendienst beziehen oder von unserer Homepage
herunterladen kann (als PDF).
Empfehlenswerte Literatur
Sehr zu empfehlen ist das kleine Büchlein von Dietrich BONHOEFFER: Die Psalmen: Das Gebetbuch der Bibel,
1. Aufl. 1940, 20. Aufl., Gießen: Brunnen-Verlag, 2014. BONHOEFFER legt die Psalmen christuszentriert aus und
begründet dies gut verständlich und nachvollziehbar. Es war übrigens das letzte Buch, dass er vor seinem
Schreibverbot durch die Nazis noch selbst veröffentlichen konnte.
Wenn ihr einen Gesamtkommentar haben wollt, der gut zu lesen ist, wird es im Deutschen schwierig. Ich
empfehle hier aber durchaus den mehr als hundert Jahre alten Kommentar von Franz DELITZSCH, erschienen
im Brunnen-Verlag, letzte Auflage 2005. Es finden sich in ihm zwar immer wieder auch hebräische Worte, die
nicht übersetzt werden, aber im Zusammenhang wird meist deutlich, worauf er sich bezieht.
Für den Hauskreisgebrauch empfehle ich gerne das Kleingruppenmaterial von Serendipity von Christoph
RÖSEL, seit 2014 Generalsekretär der Deutschen Bibelgesellschaft: Psalmen: Worte für das ganze Leben,
2005, 4. Aufl., Gießen: Brunnen-Verlag, 2013. Dort werden exemplarisch 10 Psalmen ausgelegt. Die
vorrangige Schwäche der Serendipity-Reihe (die es auch für weitere biblische Bücher gibt) liegt leider in der
Textbasis: es liegt nämlich die Hoffnung für Alle zugrunde, die ich für ein ernsthaftes Bibelstudium nicht
empfehle. [Dafür eher: Elberfelder Bibel, Zürcher Bibel oder die Übersetzung von Menge. Für die
Psalmexegese empfehle ich auch die Übersetzung von Martin Luther, der als Musiker die Psalmen meines
Erachtens bisher am Besten ins Deutsche übersetzt hat!]
Wer richtig tief in die Materie einsteigen möchte, sollte die Werkbücher Psalmen von Beat WEBER, einem
Schweizer Alttestamentler, den ich auch persönlich kenne, konsultieren. Das ist allerdings eher etwas für
Menschen, die gerne theologische Literatur lesen und es eben ganz genau wissen wollen … Und die sind
dann auch nicht ganz billig, 3 Bände, von denen der erste 87 Euro kostet und die anderen beiden jeweils
knapp 30 … Erschienen bei Kohlhammer zwischen 2001 und 2010.
Was ich aber grundsätzlich empfehle, ist das Nachschlagwerk von Helmuth EGELKRAUT: Das Alte Testament:
Entstehung – Geschichte – Botschaft, und zwar ab der 2012 erschienenen, 5., völlig neu bearbeiteten Auflage,
ebenfalls beim Brunnen-Verlag in Gießen. Das Buch ist dick (über 1.200 Seiten) und teuer (70 Euro!), aber es
ist wirklich jeden Cent wert! Es gehört aus meiner Sicht in die Bibliothek jedes Christen.
Ebenfalls empfehlenswert ist der Psalmen-Kommentar (mit Schwerpunkt auf der christlichen Spiritualität) des
2010 verstorbenen Alttestamentlers Erich ZENGER: Psalmen: Auslegungen in zwei Bänden, Herder 2011.
Hilfreich finde ich auch die aktuelle und knappe Einleitung in den Psalter von Johannes SCHNOCKS, Professor
für AT an der Uni Münster: Psalmen, UTB 2014.
Stilfiguren in der hebräischen Poesie
Man kann Stilfiguren definieren als eine sprachliche Darstellungsform, die von der üblichen Sprechweise
abweicht. Sie wird vom Autor meist gezielt eingesetzt, um eine bestimmte Wirkung beim Leser hervorzurufen.
Dadurch wird das Gesagte lebendiger, meist auch deutlicher und sicherlich auch einprägsamer
(mnemotechnische Funktion). Die Rolle von Stilfiguren für die Auslegung poetischer Texte des Alten
Testaments kann nicht überbetont werden. Wer sie nicht versteht, versteht die Psalmen nicht!
-
Simile: Vergleich, meist durch ‚wie’ gekennzeichnet.
Wie Essig den Zähnen und Rauch den Augen tut, so ist der Faule für die, die ihn senden. (Spr
10,26)
-
Metapher: eine bildhafte Übertragung in einen anderen Zusammenhang.
Der Name des Herrn ist eine feste Burg; der Gerechte läuft dorthin und wird beschirmt. (Spr
18,10)
-
Personifikation: Gegenstände oder Konzepte werden personhaft dargestellt. So werden z. B. in Spr
1-9 die Weisheit und die Torheit als Frauen dargestellt.
Die Weisheit hat ihr Haus gebaut und ihre sieben Säulen behauen… Frau Torheit ist ein
unbändiges Weib, verführerisch, und weiß nichts von Scham. (Spr 9,1.13)
-
Parallelismus: die zweite Vershälfte ergänzt die erste und führt sie in den meisten Fällen weiter. Der
Parallelismus ist das wichtigste Stilmittel der hebräischen Poesie. Manchmal findet sich in diesem
Zusammenhang als Überbegriff auch die Bezeichnung „parallelismus membrorum“, also ein
Parallelismus einzelner (Vers-)Teile. Genauer ist aber die folgende Unterscheidung:
Synonymer Parallelismus (in beiden Teilen wird dasselbe ausgesagt):
Wein ist ein-Spötter, starkes Getränk ein-Lärmer. (Spr 20,1)1
Synthetischer Parallelismus (weiterführend, bestärkend):
Des Weisen Herz redet klug
und mehrt auf seinen Lippen die Lehre. (Spr 16,23)
Antithetischer Parallelismus (gegensätzlich):
Aus dem Munde des Gerechten sprießt Weisheit;
aber die falsche Zunge wird ausgerottet. (Spr 10,31)
Chiastischer Parallelismus (überkreuzend):
Du sollst sie zerschlagen mit eisernem Zepter,
wie Töpfe sollst du sie zerschmeißen. (Ps 2,9)
Oder: In der Wüste bereitet …
macht eben in der Steppe … (Jes 40,3)
1
Diese etwas ungewöhnliche Übersetzung des Hebräischen versucht, das Original möglichst nahe wiederzugeben. Sie stammt
von Helmuth EGELKRAUT, Das Alte Testament, S. 611.
Zur Auslegung von Parallelismen schreibt EGELKRAUT:
„Entscheidend für die Auslegung des Parallelismus ist, dass beide Zeilen gemeinsam die Aussage
ergeben …Insbesondere gilt, dass die 1. Zeile im Licht der 2. und die 2. Zeile im Licht der 1. zu
verstehen ist.“2
Wenn die Bibel in Stilfiguren und Bildern spricht - z. B. auch in Anthropomorphismen: „Neige dein Ohr zu mir.“
(Ps 31,3) oder „Siehe, des Herrn Arm ist nicht zu kurz, dass er nicht helfen könnte, und seine Ohren sind nicht
hart geworden, so dass er nicht hören könnte ...” (Jes 59,1) – dann sagt sie mehr als das, was sie wörtlich
sagt. Dann schwingen da Dinge mit, die sie so eben nicht sagt. Es bleibt deshalb eine exegetische
Herausforderung, was ein Text gerade an dieser Stelle sagt (und was nicht). Mir hilft hier EGELKRAUT, der nicht
müde wird, zu betonen, dass es unabdingbar ist, ein Gefühl für die Sprachbilder und die Sprachwelt des AT zu
erhalten und sich dann auch folgendes zu fragen: “Welche Aussage, welche Gefühle, welche Wertungen
transportiert das jeweilige Bild, wie zieht das Bild den Leser in den Text hinein, was will das Bild beim Leser
auslösen?”3
Überblick über die Psalmen
Thema: Persönliche Gemeinschaft mit Gott durch Gebet und Lobpreis
Schlüsselvers: Ich will dem HERRN singen mein Leben lang und meinen Gott loben, solange ich bin. (Ps
104,33)
Themen: Lob, Anbetung, Klage, Musik, Gebet
Ziele: Die Psalmen leiten uns an, mit Gebet und Anbetung, aber auch mit Klage vor Gott zu kommen.
Entscheidend ist: Es geht immer um das Lob Gottes! Jedes der 5 Psalmbücher schließt mit einer
Doxologie, einem Lob Gottes.
Geschichtlicher Rahmen: Von Mose (Ps 90) bis Esra (nach der Überlieferung der Verfasser von Ps 119),
je nach Datierung ca. 1.450/1.250 - 450 v. Chr. 4 Die Endzusammenstellung des Psalters, wie wir ihn heute
haben, ist sicherlich erst im 5. oder 4. Jahrhundert – also nach dem babylonischen Exil – geschehen. 5
Die Bedeutung der Psalmen
Wir betreten jetzt heiligen Boden. Psalmen sind nicht Rede von Gott, auch nicht Rede über Gott, sondern
Rede mit Gott. Sie sind Gebete bzw. in Liedform oder Versform gebrachte Gebetslieder. Psalmen wollen
gesungen sein. Der Psalter wird auch als das „Gebetsbuch der Bibel“ bezeichnet. Denn nirgendwo in der Bibel
findet sich eine derartige Sammlung von Gebeten wieder. Es gibt fast keinen Psalm, der nicht im NT zitiert
oder auf den nicht im NT angespielt würde. 6 Das heißt: die Psalmen waren auch schon das Gebetsbuch
2
3
4
5
6
EGELKRAUT, Das Alte Testament, S. 616.
Ebd., S. 619.
Ich plädiere mit EGELKRAUT dafür, dass die meisten Psalmen vorexilisch sein müssen, weil sie die Situation des judäischen
Königs voraussetzen, den es nach dem Exil so nicht mehr gegeben hat. Die Sammlung und Zusammenstellung in einem Buch
ist in der jetzigen Form natürlich nachexilisch, auch wenn es einzelne Sammlungen sehr wahrscheinlich schon vorher gegeben
hat: Das Alte Testament, S. 685ff. und S. 710.
Im Allgemeinen geht die Forschung davon aus, dass im 2. Jahrhundert der Psalter fertiggestellt war. Weil es eine weisheitliche
Endredaktion gegeben hat und man die Weisheit als spätes Phänomen ansieht, wird dies dann meist auch so beibehalten.
Meiner Meinung nach ist die Weisheit im alten Israel aber kein notwendigerweise spätes Phänomen, sodass man von der
ältesten Erwähnung nicht notwendigerweise auch schließen muss, dass der Psalter nicht auch schon Jahrzehnte oder gar
Jahrhunderte davor als Gebets- und Gesangbuch zusammengestellt sein kann. Aus meiner Sicht war es schon im 4.
Jahrhundert nötig, ein solches Buch für die im ganzen persischen und dann griechischen Raum entstehenden Synagogen zu
haben. Es mitzunehmen. Als Richtschnur auch für den synagogalen Gottesdienst (zusammen mit Thora-Schriftrollen). Dafür
würde auch der deutliche Hinweis auf die Bedeutung der Thora in Ps 1 sprechen.
Vgl. ebd., S. 682.
der neutestamentlichen Autoren. Wenn Jesus am Kreuz noch Psalmworte zitiert, dann drückt das sehr viel
über die Bedeutung der Psalmen, aber auch über seine Beziehung zu Gott aus (siehe das berühmte Wort „Eli,
Eli, lama asabtani …“ aus Ps 22,2 in Mk 15,34 oder das „In deine Hände befehle ich meinen Geist ...“, ein Zitat
aus Psalm 31,6 in Lk 23,46). Sowohl Martin LUTHER als auch Johannes CALVIN nahmen die Psalmen sehr
ernst. LUTHER hat als Augustinermönch die Psalmen regelmäßig komplett durchgebetet und seine öffentlichen
Vorlesungen mit einer Psalmenvorlesung begonnen, die ihn theologisch auch tief geprägt hat. Viele klassische
Kirchenlieder („Ein feste Burg ist unser Gott“, „Macht hoch die Tür“), aber auch zeitgenössische Lobpreislieder
(z. B. viele „Halleluja“-Lieder: vgl. Ps 146-150) sind von den Psalmen mit inspiriert. Wobei man ehrlicher Weise
sagen muss, dass es gar nicht einfach ist, die Bandbreite von Psalmen in modernes Liedgut zu gießen. Das
gelang bei klassischen Chorälen noch. Aber die moderne Lobpreiskultur hat dafür weder inhaltlich noch vom
Umfang her den Raum ...
Auch die Kirchengeschichte ist voll von Menschen, die gerade auch in Zeiten der Not und Anfechtung die
Psalmen als Schatz entdeckt haben, der sie in diesen Zeiten durchgetragen hat, weil sie selbst nicht mehr in
der Lage waren, ihre Situation in Worte zu fassen. Es steckt tiefe Wahrheit und tiefer Trost in den Psalmen.
Ein Beispiel hierfür ist Dietrich BONHOEFFER, dessen Büchlein ich ja eben schon vorgestellt habe.
Die Themen der Psalmen
Zentral sind „Lob“ und „Klage“, häufig in Beziehung zueinander.7 Die Psalmen umschließen die Höhen und
die Tiefen des Lebens. Sie lassen nichts aus. Sie färben nichts schön. Sie bringen Gefühle zum Ausdruck,
die manch modernem Leser fremd vorkommen („Vernichte meine Feinde ...“, Psalm 143,12) und die dann
meist in gottesdienstlichen Lesungen ausgelassen werden. Letzten Endes sind Psalmen auch in poetische
Form gebrachte Theologie. Wenn ein Beter sich in seiner Not an Gott wendet, sie ihm beschreibt und dann
auch noch sagt, wie ihm Gott geholfen hat, dann lernen wir nicht nur viel über den Beter, sondern auch über
Gott.
Der Aufbau der Psalmen
5 Bücher [Ps 1-41; 42-72; 73-89; 90-106; 107-150], strukturiert durch Doxologien. [beispielhaft Ps 41 und 72
Ende zitieren]. Siehe EGELKRAUT, Das Alte Testament, S. 690. „Eingangsportal“: Ps 1-2, „Ausgangsportal“: Ps
149-150.
Arten von Psalmen (Gattungen)
Zentrale Fragen in der Psalmenexegese: „1) Wie wurde dieser Psalm verwandt? Als Klage, Lobpreis,
Danklied, Unterweisung? 2) Wer redet? - Betet ihn ein Einzelner oder die Gemeinschaft? […] 3) Welches
Thema bestimmt ihn?“8
1. Lob-Psalmen (Hymnen)9
-
Ps 103,1-5: Lobe den Herrn meine Seele
-
Ps100,4: 1) geht ein zu seinen Toren mit Dank
2) zu seinen Vorhöfen mit Lobpreis,
3) Lobt ihn laut (im Gottesdienst) und segnet ihn (= betet ihn an).
Gebetshaltungen:
Ps 134,2: „Hebt eure Hände auf im Heiligtum und lobt den Herrn“
Ps141,2: Das Händeheben ist in den Psalmen eine selbstverständliche Gebetshaltung.
7
8
9
Siehe hierzu besonders Claus WESTERMANN, Lob und Klage in den Psalmen, 6. Aufl., Göttingen, 1983.
EGELKRAUT, Das Alte Testament, S. 705. Ich habe die kursive Setzung des Originals übernommen.
Dazu gehören auf jeden Fall: Ps 8; 19; 29; 33; 104-105; 113-114; 117; 135-136 und 145-150. Siehe EGELKRAUT, Das Alte
Testament, S. 706.
2. Klage-Psalmen10
2.1 Die Volksklage
Ps 12; 44; 58; 60; 74; 79-80; 83; 85; 90 und 126. Es geht hier nicht nur um die Klage des Einzelnen, sondern
auch um eine gemeinschaftliche Klage: Wir alle leiden unter dieser Situation. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“,
sagt der Volksmund. Gemeinsam erfahrenes Leid schweißt zusammen. Das ist die tiefe Erfahrung der
Israeliten seit jeher (Exil usw.).
2.2 Die Klage des Einzelnen
Z. B. Ps 3; 5-7; 13; 17; 22; 25-28; 31; 35-36; 38-40; 42-43; 51; 54-57; 59; 61; 64; 69-71; 86; 88; 102; 108-109;
120-130; 139-143.
Klage: ist kein ewiges Rumnörgeln, sondern dringt zum Vertrauen auf Gott durch. Gott will eine echte
Beziehung mit mir, er will ehrlich hören, was mich bewegt. Ich darf ihm das auch sagen, er hält das aus!
Auffällig ist die Wendung in den Klagepsalmen, von der Klage zum Lob. Einzige Ausnahme: Ps 88. Dessen
letztes Wort lautet: „Finsternis“. Aber auch er ist in einen Zusammenhang eingebettet und Ps 89 endet mit
einer Doxologie, mit einem Lobpreis Gottes!
3. Buß-Psalmen
Klassischerweise: Ps 51.
4. Geschichts-Psalmen
Ps 78, 105. Hier wird die erfahrene Geschichte in Liedform gegossen und dadurch memorisierbar und vor der
Vergessenheit geschützt.
5. Königspsalmen
Diese Psalmen (Ps 2; 18; 20; 21; 45; 72; 89; 101; 110; 132; 144) sind eng mit dem König von Juda verknüpft –
in der Person Davids, dem ja immerhin 73 Psalmen zugeschrieben werden, verwundert das nicht. Auch viele
weitere Psalmen werden dem davidischen Königshof zugeschrieben (z. B. Asaf-Psalmen; Korach-Psalmen).
In der christlichen Exegese wurden viele dieser Psalmen (v.a. Ps 2 und 110) auf den ultimativen König, den
Messias gedeutet.
6. Weisheitspsalmen
Die Gattung ist umstritten. Aus meiner Sicht – ich folge hier EGELKRAUT – gehören auf jeden Fall Ps 1; 32; 34;
37; 49; 73; 78; 90; 112; 127-128; 133 dazu. Die Weisheitspsalmen zeigen wieder einmal, dass die Weisheit im
alten Israel kein Fremdkörper war, sondern konstitutiv dazu gehörte. Und es zeigt sich, dass die Weisheit
jedes nur erdenkliche Mittel genutzt hat, um sich zu multiplizieren. Hier stellt sich die Frage: Was könnte das
für unsere Zeit, für das 21. Jahrhundert, bedeuten?
Stephen R. COVEY, inzwischen verstorbener Bestseller-Autor (Die sieben Wege zur Effektivität) hat
davon geschrieben, dass nach dem Informationszeitalter (in dem wir uns zurzeit befinden) das
Zeitalter der Weisheit kommen würde. Angesichts der vielfältigen Herausforderungen unserer Tage
(Flüchtlingsströme, Umweltschutz, Energiewende, Bürgerkriege, Wasserknappheit usw.) ist Weisheit
ein entscheidendes Gut!
10
Siehe hierzu auch EGELKRAUT, Das Alte Testament, S. 707-709.
Psalm 1
[Illustration von Heidi Kantwill.]
Text (Luther '84):
1
Wohl dem,
der nicht wandelt im Rat der Gottlosen
noch tritt auf den Weg der Sünder
noch sitzt, wo die Spötter sitzen,
2
sondern
hat Lust am Gesetz des Herrn
und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht!
3
Der ist wie ein Baum,
gepflanzt an den Wasserbächen,
der seine Frucht bringt zu seiner Zeit,
und seine Blätter verwelken nicht.
Und was er macht, das gerät wohl.
4
Aber
so sind die Gottlosen nicht,
sondern
wie Spreu, die der Wind verstreut.
5
Darum bestehen die Gottlosen nicht im Gericht
noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten.
6
Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten,
aber der Gottlosen Weg vergeht.
Psalm 1 (für manche auch Ps 2, ein Königspsalm) bildet den Einstieg in den Psalter. In ihm finden sich
wesentliche Grundmotive und auch die wesentliche Grundrichtung, in der der Psalter gelesen und gebetet
werden soll. EGELKRAUT spricht für Psalm 1 und 2 von einem Eingangsportal in den Psalter.
Psalm 1 ist stark antithetisch: der Gerechte und der Gottlose werden gegenüber gestellt. Beide befinden sich
auf einem Weg, sind unterwegs. Ihr Tun und Sinnen unterscheidet sich wesentlich im Inhalt und im Ziel. Klar
ist: der Gerechte ist auch beim Herrn bekannt (Jahwe, der Bundesgott Israels). Der Gottlosen Weg vergeht. Er
versandet, könnte man auch sagen.
Zentral ist Ps 1,3 (siehe dazu auch die Illustration von Heidi KANTWILL.) Bäume, die am Strom Gottes
stehen, finden sich auch in Hesekiel 47 sowie in Offenbarung 22.
Worterklärungen:
•
„Wohl dem ...“ = „glücklich“, „gesegnet ist, wer ...“ (vgl. die Seligpreisungen in der Bergpredigt: „Selig
ist ...“, Mt 5 – Jesus knüpft in seiner Thoraauslegung an Psalm 1 an!).
•
Der „Gottlose“ = bezeichnet den, der Böses im Schilde führt und von Gott nichts wissen will, sich
seinem Gesetz nicht beugt [in Parallele zum „Sünder“, der bewusst Gottes Willen missachtet.]
•
Der „Weg“ ist eine häufig benutzte Metapher in der Bibel – sie meint den Lebensweg, die Art und
Weise, wie wir unterwegs sind, die Ausrichtung unseres Lebens. Vgl. auch Jesu Rede von den zwei
Wegen in Mt 7,13-14: „13 Geht durch das enge Tor! Denn das Tor ist weit, das ins Verderben führt, und
der Weg dahin ist breit und viele gehen auf ihm. 14 Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng und der
Weg dahin ist schmal und nur wenige finden ihn.“
•
Das „Gesetz“ = die Thora Jahwes, die zum Abfassungszeitpunkt des Psalms schon eine literarische
Größe war; sie beinhaltet den Willen und Ratschluss Gottes (im Gegensatz zum „Rat der Gottlosen“),
sie wird vom Gerechten meditiert. [meditare steht V. 2 in der lat. Übersetzung, der Vulgata.]
•
Der „Gerechte“ = ist jemand, der vor Gott nichts verbergen muss, der vor Gott und Menschen aufrecht
gehen kann. Er wandelt in einer rechten Haltung vor Gott, weshalb von ihm auch gesagt wird: „der
Herr kennt den Weg der Gerechten“ (Ps 1,6).
Aus Platzgründen findet sich die Mindmap mit meiner Predigt zu Psalm 1 erst auf der nächsten Seite.
Anwendung: Predigt über Psalm 1: Die zwei Wege.
2. Abend: Psalm 23 (und Johannes 10,11-30)
Die Psalmen bewahren uns davor, in unserem Beten klein kariert und steril zu werden.
Sie sind eine Gabe Gottes, um echt beten zu lernen.
(Erich Zenger)
Rückblick: Wie kann man Psalm 1 beten?
Am Besten: Stichwort nehmen und vor Gott bringen
(z.B. Lust an Gottes Wort; Baum an Wasserbächen; Weg der Gerechten)
Oder: über den Inhalt nachsinnen und diesen vor Gott bringen
(z.B. Wo bin ich im Rat der Gottlosen gewandelt? Wo habe ich einen falschen Weg eingeschlagen und sollte
umkehren? Oder auch: Wie bete ich für meine gott-losen Nachbarn?)
Oder: aus neutestamentlicher Sicht beten
(z.B. 2. Korinther 5,21 - „... damit wir in ihm würden die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“ - Danke, Herr, dass du
mich gerecht gemacht hast, sodass ich auf dem „Weg der Gerechten“ wandeln darf!)
Psalm 23 ist ein Vertrauenspsalm
Der Psalm drückt grundlegendes Vertrauen gegenüber Gott aus – egal, unter welchen Umständen.
1
Ein Psalm Davids. [Luther '84]
Der Herr ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
2
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
3
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße
um seines Namens willen.
4
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, [hebr. Tal des Todesschattens]
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
5
Du bereitest vor mir einen Tisch
im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl
und schenkest mir voll ein.
6
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
Illustration von Heidi Kantwill:
Auslegung: „Gott als Hirt – Gott als Wirt“
Entscheidend für den Psalm ist die Wendung in Vers 4 – vom „Er“ zum „Du“. Das ist auffällig. Und zwar
genau an dem Punkt, an dem es ums Eingemachte geht („Tal des Todesschattens“). Dort, wo wir Gott wirklich
brauchen, in den Tiefen des Lebens, ist er auch da, ist seine Hilfe real, erfahrbar. Skeptiker könnten hier
natürlich einwenden, dass ihnen Fälle bekannt sind, in denen die Hilfe Gottes gerade nicht erfahren wurde.
Das gehört mit zu dem Mysterium, dass es Zeiten gibt, in denen sich Gott vor uns verbirgt. Ein klassisches
Beispiel dafür ist das Buch Hiob – oder auch Psalm 88, der mit dem Wort „Finsternis“ endet … Aber auch das
Geschick Hiobs erfuhr eine Wendung (siehe dazu die Bibelstudienabende von Frühjahr 2015) und auch Psalm
88 ist in einen weiteren Rahmen eingebettet, in dem Gott immer wieder gelobt wird. Und das ist entscheidend.
Psalm 23,6 ist ein synthetischer – evtl. auch klimaktischer – Parallelismus: „mein Leben lang“ - „immerdar“.
Häufig wird bestritten, dass das AT eine Ewigkeitshoffnung kennt. Klar ist, dass diese natürlich noch nicht so
klar und deutlich sein kann wie im NT, in Christus. Aber: wo kam denn dann Henoch hin (1. Mose 5,24)? Was
ist mit Elia (Entrückung in 2. Könige 2)? Was ist mit Psalm 16,10f: „Du wirst mich nicht dem Tode überlassen
und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe. Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist
Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ Und was ist das „Leben bis in Ewigkeit“ in Psalm
133,3? Aus meiner Sicht ist es plausibel, dass es auch im AT schon eine Hoffnung auf ein Leben nach dem
Tod gibt – wenn auch noch nicht klar ausformuliert. Was soll denn sonst die prophetische Rede vom „neuen
Himmel und der neuen Erde“ (Jesaja 65,17) – wenn sie gar nicht bevölkert werden?!?
Johannes 10,11-30 muss als Aufnahme der Hirtenmetaphorik von Ps 23 gesehen werden. Neben vielem
anderen wird somit deutlich, dass Jesus sich „als Gott outet“ - er und der Vater sind eins, Jesus ist der gute
Hirte. All das kann man nur verstehen, wenn man auch Ps 23 kennt. Jesus identifiziert sich in Johannes 10
eindeutig mit Jahwe als dem „guten Hirten“. Dies ist ein Hinweis auf die Göttlichkeit Christi - „Ich bin der gute
Hirte“ konnte eigentlich niemand von sich sagen außer Gott! Wer Psalm 23 kennt, wird Johannes 10 immer
anders lesen ...
Ich schließe mit einem Zitat von W. Phillip Keller (Psalm 23 aus der Sicht eines Schafhirten, Schulte, 1977):
„Es ist kein Zufall, dass Gott uns als Schafe bezeichnet … Unser Herdentrieb, unsere Ängste und
Zaghaftigkeit, unser Eigensinn und unsere Dummheit sowie viele unserer schlechten Angewohnheiten
sind Ähnlichkeiten, die nicht zu übersehen sind.“
3. Abend: Psalm 73
Rückblick: Wie kann man Psalm 23 beten?
Am Besten: den Psalm auswendig lernen und dann im Ganzen oder in Teilen zum Gebet machen,
als persönliches Bekenntnis: „Mir wird nichts mangeln!“
Oder als Bitte: „Bitte tröste mich!“
Oder als Dank: „Danke, dass du mir voll einschenkst!“
Wesentlich dabei ist folgendes: Die Psalmen sind nicht nur für uns geschrieben, wir dürfen sie nicht nur
persönlich lesen und beten. BONHOEFFER schrieb dazu:
„Nun gibt es in der Heiligen Schrift ein Buch, das sich von allen anderen Büchern der Bibel dadurch
unterscheidet, daß es nur Gebete enthält. Das sind die Psalmen. Es ist zunächst etwas sehr
Verwunderliches, daß es in der Bibel ein Gebetbuch gibt. Die Heilige Schrift ist doch Gottes Wort an
uns. Gebete aber sind Menschenworte. Wie kommen sie daher in die Bibel? Wir dürfen uns nicht irre
machen lassen: Die Bibel ist Gottes Wort, auch in den Psalmen. So sind also die Gebete zu Gott –
Gottes eigenes Wort? Das scheint uns schwer verständlich. Wir begreifen es nur, wenn wir daran
denken, daß wir das rechte Beten allein von Jesus Christus lernen können, daß es also das Wort des
Sohnes Gottes, der mit uns Menschen lebt, an Gott den Vater ist, der in Ewigkeit lebt. Jesus Christus
hat alle Not, alle Freude, allen Dank und alle Hoffnung der Menschen vor Gott gebracht. In seinem
Munde wird das Menschenwort zum Gotteswort, und wenn wir sein Gebet mitbeten, wird wiederum
das Gotteswort zum Menschenwort. So sind alle Gebete der Bibel solche Gebete, die wir mit Jesus
Christus zusammen beten, in die er uns hineinnimmt und durch die er uns vor Gottes Angesicht trägt,
oder es werden keine rechten Gebete; denn nur in und mit Jesus Christus können wir recht beten.
Wenn wir daher die Gebete der Bibel und besonders die Psalmen lesen und beten wollen, so müssen
wir nicht zuerst danach fragen, was sie mit uns, sondern was sie mit Jesus Christus zu tun haben. Wir
müssen fragen, wie wir die Psalmen als Gottes Wort verstehen können, und dann erst können wir sie
mitbeten. Es kommt also nicht darauf an, ob die Psalmen gerade das ausdrücken, was wir
gegenwärtig in unserem Herzen fühlen. Vielleicht ist es gerade nötig, daß wir gegen unser eigenes
Herz beten, um recht zu beten. Nicht was wir gerade beten wollen, ist wichtig, sondern worum Gott
von uns gebeten sein will.“11
11 BONHOEFFER, Die Psalmen: Das Gebetbuch der Bibel, S. 14f.
Man könnte also auch für verfolgte Christen beten oder für Menschen, die durch das „Tal des Todesschattens“
gehen, dass Gott ihnen in dieser Situation begegnet, sie tröstet, bei ihnen ist, sodass sie bewahrt werden und
kein Unglück fürchten müssen. Das ist die hohe Schule des Gebets, die wir im Psalter lernen können.
Es gibt 5 Psalmbücher im Psalter: Ps 1-14; 42-72; 73-89; 90-106; 107-150. Sie werden abgegrenzt durch
Abschnitte des Lobpreises (Doxologien), jeweils am Ende eines Buches:
„Gelobt sei der Herr, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen! Amen!“ (Ps 41,14)
„Gelobt sei Gott der Herr, der Gott Israels, der allein Wunder tut! Gelobt sei sein herrlicher Name
ewiglich, und alle Lande sollen seiner Ehre voll werden! Amen! Amen! Zu Ende sind die Gebete
Davids, des Sohnes Isais.“ (Ps 72,18-20)
„Gelobt sei der Herr ewiglich! Amen! Amen!“ (Ps 89,53)
„Gelobt sei der Herr, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit, und alles Volk spreche: Amen!
Halleluja!“ (Ps 106,48)
„Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)
Das heißt: Es ist wesentlicher Sinn des Psalters, uns zum Lob Gottes anzuleiten!
Das zeigt auch ein Blick auf das grandiose Finale des Psalters, die Psalmen 146-150, die alle mit dem Wort
„Halleluja“ beginnen - „Lobt den Herrn“! Bei allem Klagen, bei allem Dank, bei allen Bitten geht es zentral
ums Loben, um die Anrufung Gottes trotz widriger Umstände.
Welches Ziel hat dein Gebet?
Gott selbst?!?
Psalm 73
Illustration von Heidi Kantwill.
[Die Illustration will natürlich nicht aussagen, dass man nicht mal ein Glas Wein genießen kann, sondern es
geht um die gesamte Ausrichtung des Lebens: entweder sehr weltlich („gottlos“) - Karriere, Beziehungen,
Suchtmittel. Oder eben geistlich: mit dem Herz bei Gott, mit den Augen auf ihn gerichtet, ihn anbetend.]
Mit Psalm 73 beginnt das dritte Buch im Psalter. Es ist der erste von elf Psalmen Asaphs (dem auch Ps 50
zugeschrieben wird). Eine Sammlung von Psalmen, die gebündelt Eingang in den Psalter erhalten haben.
Asaph wird uns als Levit und Chorleiter bei David beschrieben (1Chr 6,24; 15,17.19; 16,5.7 etc.). Asaph war
neben David ein musikalisches Ausnahmetalent, der nicht nur den Chor leiten und ein Instrument spielen
konnte, sondern auch prophetisch begabt war (vgl. 2Chr 29,30, wo Asaph als „Seher“ bezeichnet wird). Er
hatte eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der Pläne Davids inne, was den Lobpreis im Heiligtum anbetraf,
siehe 1Chr 16,7: „Zu der Zeit ließ David zum ersten Mal dem Herrn danken durch Asaf und seine Brüder.“
Psalm 73 besteht aus 3 Teilen, die jeweils mit dem hebräischen Wort %a (akh, „fürwahr“, „gewiss“) eingeleitet
werden.12 SCHNOCKS gliedert dies folgendermaßen:
1. Teil (Verse 1-12): „Krise des Ich“
2. Teil (Verse 13-17): „Leiden und Erkenntnisweg des Ich“
3. Teil (Verse 18-28): „Neue Erkenntnis des Ich“
Es geht zentral um eine Offenbarung! Eine Offenbarung ist eine Ent-Hüllung, etwas, das zuvor verdeckt war,
wird plötzlich offenbar, sichtbar. Gewirkt werden Offenbarungen durch den Geist Gottes (das wissen wir aus
dem Neuen Testament). Im 1. Teil beschwert sich der Beter intensiv über „die Gottlosen“ und schreibt ihnen
alle möglichen Attribute zu: „sie“, „sie“, „sie“, „sie“, „sie“, „ihnen“ … Im 2. Teil ist der Beter ganz bei sich: „ich“,
„ich“, „mein“, „meine“, „ich“, „ich“, „ich“ … Die Wende kommt erst mit einer Ortsveränderung: „bis ich ging in
das Heiligtum Gottes und merkte auf ihr Ende.“ (Ps 73,17) Dies leitet dann den 3. Teil ein, in dem es vorrangig
um das „du“ geht, ähnlich des Umschwungs in Ps 23 gibt es auch hier einen Umschwung: weg von den
Gottlosen und ihrem vermeintlichen Glück, weg von der eigenen Betrübtheit, dem Suhlen in der eigenen
seelischen Verstimmung, hin zu Gott. Dieser Perspektivwechsel (so würden wir heute sagen) verändert alles!
Der Blick auf Gott relativiert vieles. Es geht eben nicht mehr um kurzfristiges Glück, um innerweltliche
Annehmlichkeiten, sondern es gut um die Perspektive der Ewigkeit.
Ps 73,23-26 ist auch eine recht konkrete Ewigkeitshoffnung (wie schon bei Psalm 23 angedeutet): „du nimmst
mich am Ende mit Ehren an“ (am Lebensende – also beim Übergang zum Tod!). Gott ist eben auch dann
„meines Herzens Trost“ und „mein Teil“ (V. 26), wenn einem „Leib und Seele verschmachten“ - also angesichts
lebensbedrohlicher Umstände. Warum? Weil es eben weitergeht! Weil der Tod nicht das letzte Wort hat! Der
Gläubige wird eben nicht in gleicher Weise umkommen wie die Gottlosen (V. 27).
Deshalb schreibt Diethelm MICHEL:
„Gott ist so mächtig, daß derjenige Mensch, der sich in seiner Nähe befindet, der 'bei ihm' ist, durch
nichts aus dieser guten Nähe vertrieben werden kann. Auch nicht durch den Tod.“13
Diese Nähe zu Gott wird von Paulus dann konkretisiert: „mit Christus sein“, vgl. Phil 1,23. Wer stirbt, ist nicht
irgendwo, sondern in einem Näheverhältnis zu Christus. Und das auch schon vor der Wiederkunft Christi, vor
der letzten Posaune, wenn es dann noch einen neuen Leib gibt (vgl. 1Kor 15!).
Was können wir daraus lernen? Ps 73 ermutigt uns, ganz auf Gott zu setzen, ihm ganz zu vertrauen, auch
inmitten mancher Anfechtungen. Auch wenn es uns nicht gut geht. Wenn es anderen besser geht, die mit Gott
nichts am Hut haben wollen. Nicht verzweifeln, nicht den Mangel meditieren, sondern immer wieder neu den
Blick auf Gott ausrichten. Und in der Anschauung Gottes wird dann doch das eine oder andere recht relativ. In
12 Siehe dazu auch Johannes SCHNOCKS, Psalmen.
13 Diethelm MICHEL, Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte, Gütersloh 1997, S. 177.
der Gemeinschaft mit Gott kann uns der Heilige Geist Dinge zeigen, die wir sonst gar nicht gesehen hätten,
weil wir im „Trübsal-Modus“ dafür gar nicht offen waren. Ps 73 fordert uns auf, nicht auf andere oder uns
selbst, sondern auf Gott zu sehen.
Wie kann man Psalm 73 beten?
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Grundlegend: Wir können vor Gott ehrlich sein!
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Wir brauchen Offenbarung! Wenn wir erkannt haben, wer Gott ist (und wer wir sind), wird das unser
Gebet nachhaltig verändern. Dies ist dann auch eine Frage unserer Identität als geliebte Kinder
Gottes.
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So kann uns der Psalm stärken im „Dennoch des Glaubens“ (vgl. Ps 73,23).
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Und wenn es mir selbst sehr gut geht, kann ich für diejenigen beten, die gerade unter Gottlosen
leiden, dass sie für sich auch den Blick auf Gott richten. Dass er sich ihnen offenbart. Denn eine echte
Offenbarung trägt auch durch schwere Zeiten hindurch!
Und so sind wir am Ende dieser Einführung in die Psalmen. Vielleicht werde ich in den nächsten Jahren mit
den Psalmen weitermachen. Es steckt unheimlich viel drin, in diesem biblischen Buch, mit dem viele Christen
nichts oder nur wenig anfangen können ...