FAZ-Glosse vom 11. November 2015 (E-Paper)

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F.A.Z., Donnerstag den 12.11.2015
MEDIEN 17
Helvetische Merkel
Die NZZ gibt die deutsche Regierung auf
GENF, 11. November
„Die NZZ ist irgendwie auch nicht mehr, was sie einmal war“: Der Satz
steht in einem Kommentar zu einem Kommentar zu einem Artikel des
Berliner NZZ-Korrespondenten Mathias Ackeret, der vor zwei
Wochen über die „Anfeindungen aus dem Innern“ gegen Angela
Merkel berichtete. Der Kommentator im Internet zielt auf den
Umgang der Zeitung mit den Einträgen und glaubt, die frühere
Freiheit des Kommentierens sei verlorengegangen. Diese wird im
Internet bekanntlich oft mit den Regeln des Anstands verwechselt, der
Befund ist jedenfalls nicht nachvollziehbar. NZZ-Berichte aus und
über Deutschland werden von deutschen Lesern mit fast so heftigen
Reaktionen bedacht wie umgekehrt der provozierende Essay des
Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss in dieser Zeitung („Die
Schweiz ist des Wahnsinns“). Ackeret berichtete sachlich, hält aber
das Wort von einer „Kanzlerindämmerung“ und einem
„Reservekanzler“ (Schäuble) für verfrüht: „Voreilige
Schwanengesänge“. Als „Bewunderer von Merkel, der nichts
Negatives über sie durchlässt“, wurde er im gleichen Forum
bezeichnet.
Ackeret berichtet erst seit dem vergangenen Februar aus Berlin, zuvor
war er in Moskau und Peking. Er konnte noch gar nicht in die Rolle
der Instanz und Autorität hineinwachsen, die frühere
Korrespondenten spielten. Sie hatten sich – vor allem noch in Bonn –
Gehör bei den Regierenden verschafft. Helmut Kohl war ein Freund
der Schweiz und die „Fernausgabe“ der NZZ eine gewichtige Stimme.
Unter Gerhard Schröder suchte Frank A. Meyer vom „Blick“-Verlag
Ringier die Nähe des Mächtigen, der nach seiner Kanzlerschaft
Berater des Verlags in Zürich wurde. Angela Merkel kommt aus einer
anderen Welt und hat sich nie besonders für einen Schweizer
Standpunkt, der in Europa noch immer Gewicht haben könnte,
interessiert.
Dafür unterhält das Weltblatt aus Zürich seit kurzem ein
„NZZ-Podium Berlin“. Das jüngste Podium war „Europas
Kuddelmuddel – Brüssels Nöte mit der Gouvernance“ gewidmet. Der
Politologe Jan-Werner Müller hielt einen Vortrag, den die NZZ
veröffentlichte: Regeln gebrochen, Rechtsstaatlichkeit in Gefahr, neue
nationale Ressentiments. Das hört man in der SVP-Schweiz nur zu
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19/11/15 11:20
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gerne. Und auch noch jüngere Leser verstehen die Zwischentöne des
Titels: „Ein Geld, eine Grenze, eine Regierungsgewalt?“
Eine Woche zuvor wurde dem früheren „Bild“-Chefredakteur und
Kohl-Berater Hans-Hermann Tiedje ebenfalls eine ganze Seite
eingeräumt, Überschrift: „Merkeldämmerung“. Konrad Adenauer
stand für die Westbindung, Ludwig Erhard hatte die Soziale
Marktwirtschaft, Willy Brandt die Ostpolitik, Kohl die deutsche
Einheit und Schröder seine Agenda 2010. Merkel sei das
„Flüchtlingsthema gerade recht gekommen“. Tiedjes Abrechnung ist
ein Abgesang. Von der Kanzlerin fordert er das Eingeständnis, einen
Fehler – mit „Milliardenschaden“ – begangen zu haben. Und dass sie
die Deutschen um „Verzeihung“ bitte: „Das wäre ihr politisches Ende,
aber auch so rückt es näher“, ein schwacher Trost.
Zwischen Müller und Tiedje veröffentlichte die „NZZ am Sonntag“ ein
substanzreiches Gespräch mit Rüdiger Safranski. Er schlug ähnliche
Töne an, ging aber auch in die Tiefe. Und formulierte Vorbehalte
gegen den Islam. Safranski, der den Schweizern aus dem
„Literaturclub“ des Fernsehens vertraut ist, bestärkt sie in ihrem
Widerstand gegen den Euro und einen EU-Beitritt. Ob es denn die
Schweizer, „die jetzt SVP wählen“, besser machen, wurde er gefragt.
Seine Antwort: „Man ist sehr schnell dabei, Meinungen, die einem
nicht behagen, zum Rechtspopulismus zu zählen. Das ist ganz einfach
Denkfaulheit.“
„Der Elblotse geht von Boot“ überschrieb das Feuilleton der NZZ seine
Seite zum Tode von Helmut Schmidt. Vier Schriftsteller äußern sich –
Adolf Muschg und drei deutlich jüngere Deutsche. Diese auffällige
Häufung mag ein reiner Zufall sein. Gleichwohl macht sie die
eidgenössische Sprachlosigkeit bewusst. Das lange vom
Nationalsozialismus geprägte Deutschland-Bild einer ziemlich
selbstgerechten Schweiz hatte sich nach den Debatten über ihr
eigenes Verhalten im Krieg und nach der Fußball-WM 2006 deutlich
verbessert. Aber auch das Sommermärchen war, wie es scheint,
gekauft. Gegen die manipulierten VWs der selbsternannten KlimaWeltmeister hat die Schweiz als erstes Land ein Verbot erlassen.
Werden jetzt die NS-Klischees von deutschen Gastautoren wieder
eingeführt? „Am deutschen Wesen wird die Welt einmal mehr nicht
genesen“, höhnt Tiedje in der NZZ. Sie veranstaltet ihr nächstes „NZZ
Podium“ Ende November in Zürich. Der Anspruch ist mit dem Titel
gesetzt: „Die Welt retten“. Nicht politisch ist das gemeint, eine
Dichterlesung soll es richten: „ein Abend über das Erzählen“.
Jürg
Altwegg
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19/11/15 11:20