„Sterntalerhof: Begleitung schwer kranker Kinder im System Familie aus sozialarbeiterischer Sicht“ Vortrag Palliativkongress 2015 DSA Barbara Mayer-Schulz Zunächst ein herzliches Dankeschön für die Möglichkeit, hier in diesem Rahmen als Angehörige einer Berufsgruppe zu Ihnen sprechen zu dürfen, die gerade in der Kinder-Palliativbetreuung einen unverzichtbaren Beitrag leistet, und für die es trotzdem bislang noch keine Selbstverständlichkeit ist, in diese Betreuung von palliativ erkrankten Kindern und Jugendlichen überall gleichwertig mit anderen Berufsgruppen mit eingebunden zu werden. Meine Vorrednerin hat die ehrenamtliche Kinder-Hospizarbeit vorgestellt. Diese ehrenamtliche Hospizbegleitung im Erwachsenenbereich war auch mein ursprünglicher Zugang und Einstieg in die Palliativarbeit. Ich durfte anschließend einige Jahre als Sozialarbeiterin in einem Mobilen Palliativteam für Erwachsene arbeiten, bevor ich vor mehr als 2 Jahren an den Sterntalerhof geholt wurde. Der Sterntalerhof ist eine stationäre Einrichtung für Familien mit lebensbedrohlich oder lebensverkürzend erkrankten Kindern. Eines der Grundprinzipien unserer Arbeit lautet „familienorientiert“ zu arbeiten. Welchen Beitrag Sozialarbeit in dieser interdisziplinären Betreuung leisten kann, möchte ich Ihnen in drei Teilen näher bringen: Von der konkreten Arbeit mit dem System Familie, wie ich sie in über 80 Familienwochen im vergangenen Jahr erleben durfte, werde ich einen Blick auf die nötigen übergeordneten Rahmenbedingungen werfen, bevor ich im letzten Teil wieder zurück in eine ganz konkret betroffene Familie kommen möchte. Ich habe als Hintergrund für die Beschreibung meiner Arbeit mit betroffenen Familien dieses Bild des Räderwerkes gewählt. Im Unterschied zur Palliativarbeit im Erwachsenenbereich haben wir es wenn ein Kind oder Jugendlicher lebensbedrohlich erkrankt, immer mit einem ganzen und oft sehr komplexen System zu tun. Kein Kind erkrankt für sich alleine. Und alle An- und Zugehörigen bedürfen von Anfang an in einem sehr viel stärkerem Maß der Mitbetreuung, weil auch die Mit-Betroffenheit aller im System involvierten Personen eine sehr viel stärkere ist, wenn es sich um ein betroffenes Kind handelt. Wenn wir uns vor Augen halten, in wie vielen verschiedenen Formen Familie heute gelebt wird, von der klassischen Kernfamilie über alleinerziehende Elternteile, die meist immer noch Mütter sind, über Adoptivkind- und Pflegekindfamilien bis hin zu Stiefoder Patchworkfamilien, wird dieses Bild des Räderwerkes möglicherweise verständlicher. In all diesen erwähnten Familienformen leben leibliche Geschwister und Stiefgeschwister innerhalb oder außerhalb des gemeinsamen Haushaltes, gibt es leibliche Eltern und Stiefeltern zu denen Beziehungen unterschiedlichster Qualität bestehen. Als Helfende sind wir sehr verleitet dazu, die Großeltern von schwer erkrankten Kindern auf ihre helfende und unterstützende Rolle in der Familie zu reduzieren, und dabei die doppelte Betroffenheit dieser Großeltern zu übersehen: einerseits ein schwer krankes oder sterbendes Enkelkind zu haben und andererseits das Leiden des eigenen Kindes mit aushalten zu müssen. Selbst wenn diese Kinder längst erwachsen sind, immer möchten wir als Eltern unsere Kinder vor Unheil bewahren und leiden mit, wenn wir das nicht können. Dieses doppelte Leid oft über sehr lange Zeit mitzutragen, dabei selbst älter und auch körperlich weniger belastbar zu werden, während der Pflegeaufwand der größer und schwerer werdenden Kinder permanent steigt, belastet auch Großeltern oft bis an die Grenze. Wir erleben in unserer Arbeit, wie sehr auch die sogenannten Zugehörigen mitbetroffen und nicht selten hilflos sind, wenn es sich um eine schwere Erkrankung eines Kindes oder Jugendlichen handelt. Da gibt es Kindergartengruppen und Schulkameraden, PädagogInnen, ErzieherInnen, Freundeskreise nicht nur der erkrankten Kinder sondern auch der gesunden Geschwister, Nachbarn, ArbeitskollegInnen der Eltern – die Liste ließe sich fortsetzen. Sie alle sind mehr oder weniger Teil dieses Räderwerkes, auf das wir als palliativ Helfende treffen. Und so wie es die Aufgabe der Medizin ist, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Krankheit des einzelnen betroffenen Kindes zu diagnostizieren, wenn möglich zu therapieren und darüber hinaus eine Prognose über Verlauf, Lebenserwartung u. Ähnliches zu stellen, so ist es die Aufgabe der Sozialarbeit im Palliativen Team, mit den uns zur Verfügung stehenden sozialarbeiterischen Methoden für das gesamte familiäre System ebenso eine Diagnose zu stellen. D.h. zu beurteilen wie funktioniert dieses System im Moment? Wo liegen Stärken und Ressourcen? Welche Kommunikationsmuster finden wir? etc. Und angesichts dessen, was und wie viel wir über die Prognose einer Krankheit wissen, auch eine Prognose für dieses System zu stellen, sprich vorwegzudenken, wie sich eine Familie angesichts dessen, was auf sie zukommen wird, weiterentwickeln bzw. in welchem Bereich sie möglicherweise Unterstützung von außen brauchen wird. Das heißt, es braucht neben einem guten Blick auf das familiäre System als Ganzes immer wieder auch einen sehr aufmerksamen Blick auf jede/n Einzelne/n in diesem System. Meist sind die erkrankten Kinder selbst in allen Lebensbereichen sehr gut versorgt, während dies bei den gesunden Geschwistern zum Beispiel nicht immer der Fall ist. Sehr früh wird von ihnen verlangt, sich möglichst reibungslos „mit-zudrehen“ um bei dem Bild vom Räderwerk zu bleiben. Und wir erleben am Sterntalerhof immer wieder, wie perfekt sie gelernt haben das auch zu tun: möglichst unauffällig zu funktionieren, die eigenen Wünsche zurückzustellen, sehr früh schon sehr erwachsen zu sein. Gleiches gilt natürlich auch für die Eltern, darauf werde ich im letzten Teil, wenn ich Ihnen die Geschichte einer betroffenen Familie näher bringen werde, noch eingehen. Um das beschriebene System als Ganzes gut stützen zu können bzw. dem- oder derjenigen in einer Familie, der oder die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem ganz bestimmten Bereich Unterstützung von außen braucht, diese auch zukommen lassen zu können, ist es für SozialarbeiterInnen in diesem Bereich unerlässlich, sich mit allen helfenden Angeboten gut vertraut zu machen. Diese reichen von medizinisch-/pflegerischen Unterstützungsangeboten vor Ort über ehrenamtliche Angebote bis hin zu therapeutischer Unterstützung oder beratenden Einrichtungen. Eine gute Kenntnis über sozialrechtliche Bestimmungen und Anspruchsvoraussetzungen in finanziellen Belangen ist ohnehin eine Grundvoraussetzung. Sozialarbeit ist meist auch jene Berufsgruppe, die all diese „helfenden Räder“ in einer Familie koordiniert und für den nötigen Austausch und eine gute Kommunikation aller im System Handelnden sorgt. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, muss Sozialarbeit allerdings die Möglichkeit haben, eine Familie auch über einen längeren Zeitraum begleiten zu können. Wir wissen alle, wie lange Familien oft brauchen, bevor sie ein Hilfsangebot von außen annehmen können, wie viel an Begleitung und Gesprächen nötig ist, bevor ein nächster Schritt getan werden kann. Sozialarbeit hält quasi die Tür offen, weil sie die innerfamiliären Widerstände kennt und um Themen wie Schuld und Scham Bescheid weiß, und sie kann zum richtigen Zeitpunkt mit der Familie den nächsten Schritt gehen. Dies führt mich zum zweiten Teil meiner Ausführungen, in dem es nötig ist, einen Blick auf die übergeordneten Strukturen und Rahmenbedingungen in Österreich zu werfen. Bereits im Jahr 2003 wurden von einer österreichweiten Arbeitsgruppe Standards „Sozialarbeit im Bereich Palliative Care“ erarbeitet, die all die im ersten Teil beschriebenen Tätigkeiten sowie die fachlichen Voraussetzungen festlegen. Ich bin immer wieder überrascht, in wie vielen Büchern aus dem angrenzenden Ausland sich Verweise auf diese Standards finden. Offensichtlich wurde hier wichtige Pionierarbeit geleistet, die es in dieser Form in unseren Nachbarländern nicht gibt. Was besonders im Kinderpalliativbereich noch fehlt, ist die Möglichkeit zur Umsetzung all der in diesen Standards beschriebenen Aufgabenfelder. Wie gesagt, es reicht nicht aus, dass Sozialarbeit nur bei Bedarf und punktuell für die Erbringung einzelner Leistungen in eine laufende Betreuung hinzugezogen wird. Sie muss die Möglichkeit haben, prozesshaft in die Begleitung betroffener Familien mit eingebunden zu werden und zu bleiben. Dafür braucht es ein ausreichendes Maß an Arbeitszeit, die ausschließlich für die sozialarbeiterische Tätigkeit innerhalb eines Kinderpalliativteams definiert ist und nicht mit anderen Aufgabenbereichen geteilt werden muss. oft sehr artfremden Julia Bartkowski veröffentlichte 2012 in Deutschland eine Studie, die sich mit der strukturellen Einbindung von Sozialarbeit in die interdisziplinären Palliativteams in Deutschland beschäftigte. Diese Studie kommt eindeutig zu dem Schluss, dass es sowohl für die betroffenen Familien wie auch für die Effektivität des Palliativteams insgesamt von großem Vorteil ist, wenn SozialarbeiterInnen „interner“ Bestandteil dieser Teams sind und nicht von anderen Bereichen und Stationen zugezogen werden. (Vergl. Barktkowski 2012) Das bedeutet, Sozialarbeit muss fixer Bestandteil der multiprofessionellen Palliativteams sein, das heißt auch bei allen Team- und Fallbesprechungen selbstverständlich miteinbezogen werden. Selbstverständlich müssen alle im Feld tätigen KollegInnen im Bereich Palliative Care geschult und weitergebildet werden. Da der Bereich Palliative Care für Kinder und Jugendliche ein vergleichsweise junger Bereich ist, der sich bislang in keiner Ausbildung für Sozialarbeit in Österreich wiederfindet, muss vieles Fachwissen von den in diesem Feld tätigen KollegInnen anhand der praktischen Arbeit erworben werden. Dem fachlichen Austausch und der organisationsübergreifenden Vernetzung kommt daher gerade in diesem Bereich eine enorme Bedeutung zu. Im Oktober 2013 wurde eine österreichweite Arbeitsgruppe Palliativsozialarbeit innerhalb der OPG gegründet. Darüber hinaus war es im vergangenen Jahr notwendig, eine Vernetzungsmöglichkeit für alle im Kinderbereich tätigen SozialarbeiterInnen zu installieren, um den Anforderungen, die sich vom Erwachsenenbereich doch unterscheiden, gerecht zu werden. Auch für diese Tätigkeiten abseits der Arbeit in der konkreten Familie braucht es Arbeitszeit, das Mitwirken auf diesem Gebiet darf nicht in den Bereich des privaten Engagements verlagert werden. Um all den beschriebenen und in den erwähnten Standards festgeschriebenen Anforderungen auch gerecht werden zu können, braucht es natürlich eine ausreichende und in der Zuständigkeit klar geregelte Finanzierung. Ich appelliere an dieser Stelle daher auch in Richtung Politik, die nötigen Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen, und ich habe große Hoffnung, dass durch die im letzten Jahr installierte parlamentarische Enquete-Kommission nun endlich auch die richtigen Schritte gesetzt werden. Ich möchte Sie nun im dritten Teil meines Vortrages einladen, mit mir einen Blick in die Geschichte und Lebenswelt einer ganz konkret betroffenen Familie zu machen. Mir ist bewusst, dass es gerade im Kinderpalliativbereich sehr schwierig ist, an einer einzigen Familie exemplarisch die Aufgaben von Sozialarbeit festmachen zu wollen. Zu unterschiedlich sind die Krankheitsbilder, denen wir im Unterschied zum Erwachsenenbereich, in dem wir es zum überwiegenden Teil mit onkologischen Erkrankungen zu tun haben, im Kinder- und Jugendpalliativbereich begegnen. Wir betreuen Neugeborene ebenso wie Jugendliche und junge Erwachsene. Wir begegnen chronisch und langsam fortschreitenden Erkrankungen ebenso wie ganz plötzlichen Ereignissen, onkologischen Kindern ebenso wie Kindern mit Stoffwechseloder fortschreitenden Muskelerkrankungen, schwerstbehinderten Kindern sowie Kindern, die an einer seltenen Erkrankung leiden. Und ebenso unterschiedlich und uneinheitlich wie die Krankheitsbilder gestalten sich natürlich auch die Lebenssituationen der Familien, auf die wir treffen. Trotzdem möchte ich ihnen die Geschichte dieser einen am Sterntalerhof betreuten Familie näher bringen. Ich bin davon überzeugt, dass erst dann, wenn wir den Mut aufbringen, uns ganz in die Nähe zu wagen, wenn Betroffene Gesichter und Namen bekommen und wir uns von ihrer Geschichte ein Stück weit berühren lassen, wir abseits aller theoretischen Überlegungen auf einer anderen Ebene wirklich spüren können, was diese Familien brauchen. Quelle: Sterntalerhof Wir sehen hier Desire mit ihrer Mutter bei einem Aufenthalt am Sterntalerhof im vergangenen Jahr. Desire ist 13 Jahre alt, wir sehen sie im Rollstuhl, deutlich zu erkennen sind ihre starken Spastiken, sie hat keine verbale Sprache. Trotz intensiver palliativmedizinischer Betreuung, die seit ein paar Monaten installiert ist, hat sie immer wieder sehr starke Schmerzen, die bislang nicht in den Griff zu bekommen waren. Desire leidet an einer seltenen Stoffwechselerkrankung, von der weltweit ca. 200 Kinder betroffen sind. Um verstehen zu können, welche umfassende Unterstützung vor allem im psychosozialen Bereich diese Familie während der letzten Jahre nötig hatte, blicken wir auf ihre Geschichte. Desire hat eine um 10 Jahre ältere Schwester, die gesund ist. Auch Desire kam scheinbar gesund zur Welt. Erst im Alter von ca. 2 Jahren wurden erste Auffälligkeiten wie ein Spitzgang bemerkt. Quelle: Sterntalerhof Wir sehen sie hier mit ca. 2 Jahren. Bis endlich eine Diagnose gestellt werden konnte, dauerte es fast 4 Jahre, während derer Desire immer mehr ihrer bisher erworbenen Fähigkeiten wieder verloren hatte. Sie war 51/2 Jahre alt, als die Krankheit endlich einen Namen hatte und die Eltern gleichzeitig mit der Tatsache konfrontiert wurden, dass es sich um eine fortschreitende, nicht heilbare Erbkrankheit mit einer prognostizierten Lebenserwartung von ca. 14 Jahren handelt. Zu diesem Zeitpunkt war Desires jüngerer Bruder bereits geboren, bei dem ebenfalls diese Krankheit festgestellt wurde. Quelle: Sterntalerhof Dieses letzte Bild zeigt uns Desire mit ihrem Vater – für mich ist es ein sehr „abschiedliches“ Bild. Tatsächlich durchlebte diese Familie in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Abschieden, längst bevor der letzte endgültige Abschied von ihren Kindern bevorsteht. Schon mit der Diagnosestellung musste die Vorstellung verabschiedet werden, ein gesundes Kind zu haben, in diesem Fall gleich zwei Mal. Die meisten der Lebensperspektiven und Zukunftspläne mussten ebenso verabschiedet werden, wie das gesamte Leben überhaupt neu geordnet werden musste. Ich frage mich, wer begleitet solche Familien in all diesen Prozessen? Wer begleitet diese Mütter und Frauen, die sich von der Vorstellung verabschieden müssen, irgendwann auch beruflich wieder Fuß fassen zu können, ein Leben außerhalb von Kindererziehung und Familie haben zu können? Wer weiß um den finanziellen Druck, den diese Familien neben dem sonstigen Leiden ausgesetzt sind, wenn dauerhaft nur noch ein Einkommen zur Verfügung steht und gleichzeitig die krankheitsbedingten Ausgaben in diesem Fall für zwei Kinder laufend steigen? Wer hat die besondere Situation der älteren gesunden Schwester über die Jahre hinweg im Blick, und wer stützt sie in ihrem nötigen Ablösungsprozess aus der Familie? Wie kann es diesen Eltern gelingen, so etwas wie eine Paarbeziehung aufrecht zu erhalten angesichts eines rund um die Uhr fordernden Pflegealltages? Wer macht sich mit ihnen auf die Suche nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen, zu denen viele Eltern oft kaum mehr Zugang haben, nach den eigenen Kraftquellen und dem was ihrem Leben Sinn gibt? Einen wertvollen Beitrag dazu leistet Sozialarbeit in diesen Prozessen oft lange bevor palliativmedizinische und palliativpflegerische Leistungen in einem hohen Ausmaß nötig werden. Und dort, wo wir in unseren Einrichtungen und Teams Strukturen schaffen, die es der Sozialarbeit möglich machen, sich in all ihren Kompetenzen einzubringen, kann ein wirklich heilsamer Beitrag in der Betreuung von betroffenen Familien geleistet werden. Und ich bin sehr dankbar, in einer Einrichtung arbeiten zu dürfen, die mir persönlich und auch fachlich diese entsprechenden Rahmenbedingungen bietet.
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