15. Geburtstag Alzheimer Gesellschaft Marburg-Biedenkopf am 25.09.2015 im BH Marburg-Cappel Festvortrag Prof. Andreas Kruse „Gut leben mit Demenz?!“ Der Referent führte zunächst aus, dass die Medizin auch auf längere Sicht kein Mittel der Prävention der Alzheimer Demenz zur Verfügung haben werde, da noch immer die Ursache der Erkrankung nicht geklärt sei. Er sprach von einer letzten Grenze der Nervenzelle: Die ärztliche Hoffnung, eine Therapiemöglichkeit der Demenz zu finden, zerschlage sich immer wieder. Durch die Veröffentlichung der Erkrankung des bundesweit bekannten Rhetorikprofessors Walter Jens sei deutlich geworden, dass es sich um eine „Bedrohung für alle“ handele. Die Lebensqualität für Betroffene zu ermöglichen, bedeute die gesellschaftliche, politische und kulturelle Verantwortung anzunehmen. Der dynamische demographische Wandel habe zur Folge, dass die Zahlen der 80, 90 und 100jährigen in den nächsten Jahren deutlich ansteige und damit die Zahl derer, die in einen Demenzprozess kommen könnten. Kruse sprach von der Möglichkeit, Demenz als eine „Leit-Erkrankung“ der Zukunft zu betrachten. Dadurch stelle sich die Frage, wie der Entwicklung gerecht werden und welchen Schutz betroffenen Menschen geboten werden kann. Dabei verwies er auf die grundgesetzliche Verankerung des „Rechts auf Leben“ und die Unantastbarkeit der Menschen-Würde. Doch wie realisierten sich Schutz und Achtung konkret unter den medizinischen, pflegerischen, sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen? Kruse sprach den Alzheimer Gesellschaften große Bedeutung zu, da sich durch ihre Arbeit die Würde von Menschen mit Demenz sich leben kann. Die Akzeptanz der Krankheit und die Bezogenheit auf den Menschen, der Freude und Glück empfinde und erleben möchte, seien wesentlich. Die seit 1998 durchgeführte Forschung an der Universität Heidelberg zeige deutlich, dass die Affektwelt relativ gut erhalten bleibe, auch bei verbal nicht mehr ausdrucksfähigen Menschen mit Demenz: eine lebendige Mimik und Gestik teile sich mit. Kruse zeigte drei zentrale Zugangswege zu Menschen mit Demenz auf: 1. der medizinisch-pflegerische Weg: Menschen mit Demenz zeigten eine reiche Komorbidität körperlicher Erkrankungen. Diese zu diagnostizieren und vor allem die Behandlung von Schmerzzuständen seien essentiell. Der 2. Weg sei Biographiearbeit: Menschen mit Demenz zeigten Glück und Freude, wenn sie an wichtige Dinge ihres Lebens erinnert würden und darin eine Übereinstimmung mit sich erlebten. Menschen deren Emotionen und Affekte aktiviert würden, zeigten sich deutlich stärker orientiert und wiesen eine reduzierte Psychopathologie auf. Er betonte, dass die Neuroleptika-Gabe nur mit starken Argumenten vertretbar sei, denn die beste Form der Symptomkontrolle sei ein aktivierter, stimulierter Mensche mit Demenz. Der 3. Zugangsweg zu Menschen mit Demenz sei Kommunikation und Beziehung: Begleitung und Beschützsein aber auch Teilhabe am öffentlichen Leben zu erleben, sei außer im medizinisch-pflegerischen wie sozialen System von Bedeutung. Dies sei auch bei der Quartiersgestaltung zu beachten. Entscheidend sei immer die Aufrechterhaltung von Kommunikation. Menschen mit Demenz und Angehörige wünschten sich ausdrücklich eine Generationenmischung in den Wohnquartieren um intergenerationelle Kontakte zu erleben und Bezogenheit zu erfahren. Für Wohnquartiere sei eine Mischung der Generationen entscheidend. Aus der Heidelberger Forschung sei bekannt, dass hochaltrige Menschen sich als aktiven Teil des öffentlichen Raumes erleben möchten und sich vor allem auch um andere 1 sorgen bzw. kümmern möchten. Kruse sieht die Möglichkeit, ähnlich der entstandenen Hospizbewegung eine „Demenzbewegung“ entstehen zu lassen. Die Chance der intergenerationellen Begegnung sei durch die € 300 Millionen Gelder für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Bildung von Patenschaften gegeben. Demenz sei mehr in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Raumes gerückt. Doch stelle die psychische Aktivität im hohen Lebensalter noch ein Geheimnis dar, genauso wie bei Demenz. Sie entfalte eine unglaubliche Lebendigkeit in der Nähe des Todes. Kontrollmechanismen von Emotionen gelängen in der Hochaltrigkeit nicht mehr oder nicht mehr ausreichend. Auch die Psyche von Menschen mit Demenz verlange nach Ausdruck: Wenn dies nicht möglich sei, der Mensch sich nicht verstanden fühle, zeigten sich Halluzinationen, Wahninhalte, Agitiertheit etc. Kruse sprach von der frühen Phase der Demenz als der schwierigsten Phase für den Betroffenen: Wenn der Mensch merke, nicht mehr „Herr im eigenen Hause“ zu sein, zeige sich häufig mit Depression häufig auch ein Vorläufer der Demenz. Kruse kritisierte das medizinische System, das den diagnostizierten Menschen häufig allein nach der Diagnose zurück lasse. Der Heidelberger Weg nach der Diagnose und Begleitung bestehe aus verschiedenen Komponenten: 1. Statement an den Diagnostizierten: „Gehe in die Welt und begreife, dass dein menschliches Leben nicht nur aus Denken besteht. Du bestimmst durch dein Verhalten auch einen milderen Symptomverlauf 2. Notiere mit deinen Angehörigen zusammen, was dir wichtig ist auf vielen Ebenen. 3. du bleibst freude- und glücksfähig, und deine stärker werdende Emotionalität nutze als Kompass. 4. Gib dein Denken nicht auf und kombiniere es mit einem körperlichen Training 5. Nimm gut abgestimmte Medikamentierung in Anspruch 6. So lassen sich viele Jahre gestalten, wenn ein hochsensible Umwelt auf dich als Mensch mit Demenz reagiert und deine Selbstgestaltungsmotive unterstützt. Die Schattenseite der Psyche, die im hohen Alter ihre Biographie aufrufe, sei die traumatisierenden Gewalterfahrungen, die am Ende unseres Lebens stärker ins Bewusstsein treten können (Beispiel Marcel Reich-Ranicky nach seiner eindrucksvollen Rede im Bundestag von Wahnvorstellungen wieder im KZ zu sein gequält). Gerade in den intimen Situationen der Pflege können die Erfahrung der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertsein aktiviert werden. Wie antworteten wir darauf? Die Alzheimer Gesellschaften leisteten einen wichtigen Beitrag zur sozialen und kulturellen Umwelt-Gestaltung, in der Menschen mit Demenz sowohl geachtet wie geschützt und an Kommunikationsprozessen beteiligt werden. Sie nehmen die Aufgabe an, für den anderen da zu sein. In der Vorstellung des Philosophen Levinas, den Anderen unbedingt zu achten und anzuerkennen, erkennen und achten sie die Sicht des Menschen mit Demenz. Damit sind Störungen und Symptome und das Nichtverstehen der Welt des Menschen mit Demenz ausgeschaltet. Die Alzheimer Gesellschaften übernähmen die Aufgabe, für Menschen mit Demenz eine neue gesellschaftliche Orientierung zu finden. Vorläufige Fassung erstellt von Angela Schönemann am 28.09.2015 2
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