Working Paper / Arbeitspapier PROJEKTMANAGEMENT IM INNOVATIONSPROZESS Analyse des Managements von Innovationsprojekten am Beispiel des Lead User-Ansatzes Tobias Sebastian Schmidt, Jens Lehnen*, Cornelius Herstatt November 2015 Working Paper / Arbeitspapier Nr. 90 Hamburg University of Technology (TUHH) Institute for Technology and Innovation Management Am Schwarzenberg-Campus 4 D-21073 Hamburg Tel.: +49 40 42878 3777 Fax: +49 40 42878 2867 [email protected] www.tuhh.de/tim * Corresponding author Abstract Lead User führen Bedarfstrends an und liefern dabei nicht nur Informationen zur Frage, was benötigt wird, sondern auch wie Lösungen umgesetzt werden können. Diese Lösungsinformationen sind im Innovationprozess von sehr großem Wert für ein Unternehmen, insbesondere wenn sie Monate oder Jahre vor dem Aufkommen des Bedarfs in der breiten Masse des Zielmarkts existieren. Das Unternehmen gewinnt Zeit für eine adäquate Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen zur Bedarfsbefriedigung und profitiert gemäß dem Open Innovation-Ansatz vom Wissen und den Erfahrungen der Lead User. Obwohl die Lead User-Methode, die dem Unternehmen zur Identifikation von Lead Usern und deren Nutzbarmachung dient, sehr vielversprechende Eigenschaften aufweist, kommt sie in der Praxis vergleichsweise selten zum Einsatz. Dies lässt sich auf eine problematische Organisation und Durchführung der Methode in der Praxis zurückführen. Problematisch sind vor allem der hohe Arbeitsaufwand, die Wissensasymmetrie sowie involvierte Risiken, die den Erfolg und teilweise die Sinnhaftigkeit der Methodendurchführung in Frage stellen. Projektmanagement bietet ein umfangreiches Instrumentarium zur Bewältigung dieser Probleme. Dieses Arbeitspapier stellt deshalb einen Versuch dar, identifizierte Verbesserungspotentiale mit Hilfe des Projektmangements auszuschöpfen. Die Untersuchung versteht die Lead User-Methode daher nicht als Vorgehensbeschreibung, sondern als Projekt, das einer leistungsmaximierenden und risikominimierenden Handhabung bedarf. Eine explorative Fallstudienanalyse dient dazu, neue Einflussfaktoren auf diesem Gebiet offenzulegen und eine Praxisorientierung herzustellen. Das Hauptergebnis der Untersuchung ist ein Managementmodell für Lead User-Projekte als Hybrid aus agilem Projektmanagement und dem Stage Gate-Ansatz. Es verbessert die Leistungsfähigkeit des Innovationsprozesses mit eingebetteter Lead User-Methode und schafft eine Beherrschbarkeit der besonderen Rahmenbedingungen im Fuzzy Front End, ohne die erfolgskritische Kreativität negativ zu beeinflussen. Experten verifizieren schließlich die Praxistauglichkeit und -relevanz des Hybrids. Es stellt sich in der Untersuchung heraus, dass sich eine professionelle Projektierung der Lead UserMethode lohnt. Vor allem die agilen Prinzipien erweisen sich als besonders vorteilhaft und praktisch anwendbar. Keywords: Lead User-Methode, Projektmanagement, Agile Methoden, Agile/Stage Gate-Hybrid nicht den Kundenbedürfnissen, werden sie am 1 Markt nicht angenommen - solch fehlgeschla- Einleitung gene Markteinführungen können zu existenzi- Die Notwendigkeit zur Entwicklung innovati- ellen Folgen für die Unternehmen führen (vgl. ver Produkte und Dienstleistungen hat sich in Lüthje, Herstatt 2004, S. 553). Zur Verminde- den letzten Jahren deutlich verstärkt. Gründe rung des Risikos von Neuproduktentwicklun- dafür sind bspw. neu entwickelte Technologien, gen werden zunehmend die Unternehmens- eine zunehmende Globalisierung und sich ver- grenzen im Innovationsprozess geöffnet und ändernde, gesellschaftliche Rahmenbedingun- externe Stakeholder wie Kunden, Lieferanten gen (vgl. Lettl et al. 2006, S. 251). Daraus resul- oder Konkurrenten integriert (vgl. Urban, von tieren eine verstärkte Individualisierung von Hippel 1988, S. 569). Dieses Phänomen wird als Kundenbedürfnissen sowie verkürzte Produkt- Open Innovation bezeichnet (vgl. Chesbrough lebenszyklen (vgl. Reichwald et al. 2009, S. 305). 2003, S. 43 ff.). Eine besondere Kundenform mit Die Innovationskraft innerhalb der Unterneh- großem Potenzial für die Unternehmen sind so men reicht daher oftmals nicht mehr aus, um genannte Lead User. Diese nach dem MIT- kundenorientierte Produkte und Dienstleistun- Professor Eric von Hippel (1986) definierten gen zu entwickeln. Entsprechen Innovationen 1 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Nutzer zeichnen sich durch zwei wesentliche von Lead Usern entwickelt (vgl. Herstatt et al. Eigenschaften aus (Hippel 1986, S. 796): 2001). Der Ablauf umfasst vier Hauptphasen, • • wie in Abbildung 2 visualisiert. Lead User sind Anwender, die mit Bedürfnissen konfrontiert sind, die sich erst 1. Phase: Zu Beginn wird ein interdisziplinäres später am Markt etablieren werden. Team von drei bis sechs Personen bspw. aus Sie sind in der Lage, eigene Lösungen zur den Abteilungen F&E, Fertigung, Marketing Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu entwickeln und Vertrieb zusammengestellt. Das Innovati- und dadurch besonders zu profitieren. onsfeld, in dem Ideen generiert werden sollen, wird abgesteckt und das Projekt unter Berück- Lead User zeichnen sich also insbesondere da- sichtigung der spezifischen Rahmenbedingun- durch aus, dass sie Bedürfnisse und Lösungs- gen formal initialisiert. ansätze vor dem Massenmarkt erfahren und kommunizieren können. Sie sind daher zeitlich 2. Phase: Das Team identifiziert bspw. mit Hilfe vor der Kommerzialisierung von Produkten der und Dienstleistungen einzuordnen. Abzugren- Technologie- und Gesellschaftstrends, wählt zen sind Lead User demnach von so genannten unter Einbezug des Top Managements etwa Early Adopters, also Personen, die Produkte fünf relevante Trends für die weitere Betrach- und Dienstleistungen zwar sehr schnell adap- tung aus und leitet entsprechende Bedarfe ab. tieren, aber eben erst dann, wenn sie bereits Zusätzlich zu Experteninterviews und dem vorhanden sind (vgl. Abbildung 1). Lead User Abschöpfen von internem Wissen sollte eine Delphi-Methode Markt-, Wirtschafts-, innovieren oftmals selbst, um Lösungen für Internet-, Datenbank- und Literaturrecherche ihre Probleme zu schaffen. Unternehmen kön- durchgeführt werden (vgl. Lüthje, Herstatt nen diese Innovationen adaptieren und in 2004, S. 561). kommerziell erfolgreiche Produkte umsetzen. 3. Phase: Aufbauend auf den Ergebnissen von So wurden bspw. erfolgreiche Innovationen im Phase 1 und 2 sind Merkmale der gesuchten Extremsportbereich wie das Mountainbike, Lead User abzuleiten. Anschließend werden Skateboard oder Wakeboard von Lead Usern mit Hilfe der Screening- oder Pyramiding- entwickelt. Auch Haushaltsprodukte wie Tip- Methode potentielle Lead User und Lead Ex oder Post-Its basieren auf Erfindungen von Experts gesucht. Beim Screening (parallele Su- Lead Usern und sind im alltäglichen Gebrauch che) werden Merkmale in einen Fragebogen nicht mehr wegzudenken (vgl. Wagner, Piller überführt und an eine repräsentative Gruppe 2011, S. 4). Damit Unternehmen nicht auf oft- von Personen verteilt. Die Güte der Merkmaler- mals zufällig entstandene Innovationen warten füllung lässt auf Lead User schließen (vgl. und reagieren müssen, wurde die Lead User- Schreier, Prügl 2008, S. 344). Das Pyramiding Methode als aktiver Prozess zur Integration Marktdiffusion Produkt- bzw. Dienstleistungseinführung Routineanwender Early Adopters Lead User Nachzügler Zielmarkt/Massenmarkt Zeit Abbildung 1: Idealtypische Bedarfsdiffusion nach Churchill et al. (2009, S. 7) 2 Working Paper Nr. 90 1. Phase Start des Lead User-Projekts Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt 2. Phase Identifikation von Bedürfnissen und Trends 3. Phase Identifikation von Lead Usern und deren Ideen 4. Phase Entwicklung von Lösungskonzepten (Workshop) • Bildung interdisziplinärer Teams • Interviews mit Marktund Technologieexperten • Networking-Suche nach Usern im Zielmarkt • Planung eines Workshops mit Lead Usern und Mitarbeitern • Festlegung der Zielmärkte • Scanning von Internet, Literatur, Datenbanken • Networking-Suche in analogen Märkten • Weiterentwicklung der Ideen • Definition der Projektziele • Selektion der wichtigsten Trends • Findung und erste Evaluation der Ideen • Dokumentation und Konzeptbewertung Abbildung 2: Die Lead User-Methode nach Herstatt und von Hippel (1992, S. 216 ff.) (sequenzielle Suche) basiert auf dem Schnee- dukten und Dienstleistungen der Absatz und ballprinzip (vgl. Hippel et al. 2009, S. 1397). die Wahrscheinlichkeit, dass das neu entwickel- Beginnend mit der Befragung weniger Experten te Design eine neue Produktlinie gründet, signi- im Innovationsfeld werden durch konsequentes fikant (vgl. Herstatt, Hippel 1992, S. 219 f.; Li- Weiterempfehlen zu Personen mit noch um- lien et al. 2002, S. 1051 f.). Es gibt verschiedene, fangreicherer Erfahrung die „besten“ Lead User oft zitierte Standardbeispiele von Unterneh- aus dem sozialen Netzwerk herausgefiltert (vgl. men, ebd., S. 1398 f.). durchgeführt haben. Hilti entwickelte innovati- die erfolgreiche Lead User-Projekte ve Bohrvorrichtungen mit Lead Usern, Johnson 4. Phase: Am Ende des Projekts werden die & Johnson arbeitet eng mit solchen Personen im identifizierten Lead User zusammen mit den Bereich der Medizintechnik zusammen (vgl. unternehmensinternen Mitarbeitern zum etwa Herstatt, von Hippel 1992, S. 215 ff.). Auch 3M zweitägigen Workshop eingeladen, in dem sie führt interaktiv neuartige Lösungskonzepte entwer- regelmäßig erfolgreiche Lead User- Projekte durch (vgl. von Hippel et al. 1999, S. 47 fen und prüfen. Zunächst werden dafür die ff.; Lüthje, Herstatt 2004, S. 554). Bislang ist das Teilnehmer in mehrere Subgruppen eingeteilt, Potential dieser Methode allerdings nicht voll- die entweder Gesamt- oder Teilkonzepte erar- ständig ausgenutzt, weshalb sie die industrielle beiten. Im Anschluss finden sich alle Subgrup- Praxis nur relativ selten adoptiert (vgl. Olson, pen zur Plenumsdiskussion und zur Findung Bakke 2001, S. 388; Lüthje, Herstatt 2004, S. 554 eines finalen Konzeptvorschlags zusammen. f.). Kommt sie jedoch zur Anwendung, ge- Nachdem die Ergebnisse des Lead User- schieht dies oftmals zu unregelmäßig und un- Workshops adäquat dokumentiert sind, wird systematisch (vgl. Wagner, Piller 2011, S. 4). das Konzept unternehmensintern ausgearbeitet Insbesondere im Projektmanagement der Lead und dem Top Management zur Freigabe des User-Projekte kommt es zu Problemen. So min- Entwicklungsprojekts vorgestellt. Das Lead dert die Planungsunsicherheit dieser Projekte User-Projekt gilt dann als abgeschlossen. insbesondere in Bezug auf die einzusetzenden Die Wirkung der Lead User-Methode auf den Ressourcen die Anwendung dieser Methode in Unternehmenserfolg ist vielversprechend. Zum der Praxis. Zudem ist der Output kaum vorher- einen werden Kundenbedarfe früh erkannt und sehbar, sodass Abwägungen bzgl. Aufwand zu einem außergewöhnlich hohem Grad be- und Ertrag der Projekte erschwert werden. friedigt, sodass Risiken bei der Markteinfüh- Studien zeigen jedoch, dass der Innova- rung minimiert werden (vgl. Lilien et al. 2002, tionsprozess durch adäquates Projektmanage- S. 1051 f.; Lüthje, Herstatt 2004, S. 557; Lehnen ment verbessert werden kann (vgl. Verworn et et al. 2014, S. 18). Zum anderen steigen im Ver- al. 2000, S. 9 - 16; Herstatt et al. 2007a, S. 28 - 34; gleich zur klassischen Entwicklung von Pro- Peters 2011, S. 55 - 59). Probleme wie Wissens3 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt asymmetrien und komplexes Identifizieren von Aspekten des Projektmanagements. Die auftre- Lead Usern legen dies im Speziellen auch für tenden Probleme lassen sich nicht immer klar die Lead User-Methode nahe (vgl. Olson, Bakke voneinander abgrenzen und können sich statt- 2001, S. 392 - 394; Lilien et al. 2002, S. 1051 - dessen beeinflussen (bspw. kann eine aufwen- 1055). Unprofessionelles Projektmanagement dige Recherche nach Lead Usern zu Kosten- kann jedoch als Innovationshemmnis wirken und Terminüberschreitung führen). Zu erken- (vgl. Herstatt et al. 2007a, S. 14). Das Projekt- nen ist jedoch, dass viele der genannten Prob- management bietet durch seine Varianten- und lembereiche die Unsicherheit der Lead User- Methodenvielfalt also große Chancen (z.B. Leis- Projekte durch eine erschwerte Vorhersage des tungssteigerung), aber auch Risiken (z.B. Ver- Prozessablaufs betreffen. Dies beeinflusst die nachlässigung der Kreativität) für den Lead Steuerbarkeit und Komplexität der Projekte. User-basierenden (vgl. Eine langfristige, strikte Planung des Projektab- Peters 2011, S. 59, 62). In diesem Kontext werfen laufs ist dadurch kaum möglich. Ein operativer, sich zwei grundlegende Fragen auf: kurzfristiger Prozess erscheint sinnvoller, um • Innovationsprozess iterativ Herausforderungen des Projekts zu Können klassische oder neuartige Formen erkennen und Lösungsansätze zu entwickeln. des Projektmanagements helfen, Hemm- Dies basiert auf den Grundlagen eines integra- nisse im Innovationsprozess mit eingebet- len Managementsystems. teter Lead User-Methode abzubauen? • Integrales Managementsystem Wie genau kann die Leistungsfähigkeit des auf dem Lead User-Ansatz beruhenden Da Innovationen unter anderem mit inhaltli- Innovationsprozesses durch die Instru- cher und organisatorischer Komplexität einher- mente des modernen und professionellen gehen, sie auf Neu- und Einzigartigkeit basie- Projektmanagements verbessert werden? ren sowie durch den wettbewerbsindizierten Das Ziel dieses Arbeitspapiers ist es, dem Ma- Innovationsdruck zeitlich befristet sind, erfül- nagement von Innovationsprojekten, die dem len Innovationsvorhaben die Wesensmerkmale Lead User-Ansatz folgen, Möglichkeiten aufzu- eines Projekts (vgl. Hauschildt, Salomo 2011, S. zeigen, Innovationshemmnisse durch den Ein- 58; PMI 2013, S. 3; DIN 69901:2009-01). In ande- satz von Projektmanagement zu minimieren ren Worten ist es aus begriffsdefinitorischen und somit die Leistung von Innovationsprozes- Gesichtspunkten also möglich, eine Innovation sen zu maximieren. als Projekt zu betrachten. Als abteilungsübergreifende Arbeitsteilung im Innovationsprozess Probleme der Lead User-Methode ist die Behandlung einer Innovation als Projekt In der Literatur sind verschiedene, mitunter prinzipiell nicht nur möglich, sondern auch durch empirische Anwendungen belegte Aus- sinnvoll und lohnenswert (vgl. Edmondson, sagen über die Probleme bei Lead User- Nembhard 2009, S. 127). Innovationen können Projekten zu finden. Teilweise sind dies für insbesondere mechanistischen Organisationen, diese Methode spezifische Probleme wie die schwierige Identifizierung wirklicher die auf Stabilität und Kontinuität bauen, große Lead Probleme bereiten, da diese strukturell auf Rou- User (vgl. Herstatt, von Hippel 1992, S. 215). tinevorgänge ausgelegt sind (vgl. Horsch 2003, Oftmals treten jedoch Schwierigkeiten auf, die S. 15; Hauschildt, Salomo 2004, S. 60 - 62). “... dem generellen Projektmanagement zuzuord- [H]alte die radikalen Innovatoren komplett nen sind. Tabelle 1 bietet eine Übersicht der Problembereiche von Lead separiert von den Traditionalisten, die das All- User-Projekten, tagsgeschäft führen” rät Tushman (1997, S. 171, unterschieden nach für diese Methode spezifi- zit. nach Herstatt, Verworn 2007, S. 308). Das schen Herausforderungen sowie allgemeinen Projektmanagement kann das Koordinieren 4 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Hanisch, Wald 2013, S. 198 f.). und Steuern dieser Sondervorgänge ermöglichen, indem sie vom Alltagsgeschehen in eine Grundsätzlich existieren dazu verschiedene situativ optimierte Projektorganisation abge- Projektmanagementmodelle. Einer weltweiten koppelt werden (vgl. Turner, Müller 2003, S. 7; Wissensmanagement Zeitlicher, finanzieller und personeller Aufwand Art Lead User-Methode Projektmanagement Aufwendige Recherche (vgl. Lüthje, Herstatt 2004, S. 562; Hippel 2005, S. 76) Zusatzaufwand durch unnötige Komplexität (vgl. Link 2014, S. 67) Aufwendige Suche nach Mitarbeitern mit entsprechender Ausbildung (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 391) Zu großer bürokratischer Aufwand (vgl. Herstatt et al. 2007b, S. 6, 2007a, S. 58) Motivieren der Lead User zur Teilnahme an Workshop (vgl. Lüthje, Herstatt 2004, S. 564) Aufwendiges Finden von geeigneten Lead Usern (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 391 f.) Aufwendiger Lead User-Workshop (vgl. Lüthje, Herstatt 2004, S. 565) Vage Sprache der Lead User („information stickiness“) (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 392; Hippel 2005, S. 70) Schlechter Wissensfluss über den Prozess (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 392; Lüthje, Herstatt 2004, S. 563) Fragwürdiger Schutz des geistigen Eigentums (vgl. Greer, Lei 2012, S. 77) Schlechte Ergebnisübergabe zwischen F&E und Entwicklung (Inventions- und Entwicklungsprojekt werden als separate Vorhaben angesehen) (vgl. Roberts 2007, S. 47; Huber et al. 2014, S. 34) Unterschiedliche „Sprache“ der verschiedenen Spezialisten im Innovationsprojekt (vgl. Verworn et al. 2008, S. 13; Edmondson, Nembhard 2009, S. 128 f.; Dahlander, Gann 2010, S. 705) Not Invented Here-Syndrom (vgl. Lüthje, Herstatt 2004, S. 562) Gefahr des Nicht-Folgens des Trends (wenn Lead User zu weit vor dem Zielmarkt sind) (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 391) Unsicherheiten Tendenz zur Kosten- und Terminüberschreitung (vgl. Verworn et al. 2000, S. 15; Herstatt et al. 2007a, S. 30) Große Planungsunsicherheiten der Recherche durch ungenauen Umfang (vgl. Lüthje, Herstatt 2004, S. 563) Fehlende oder mangelhafte Risikoplanung (vgl. Verworn et al. 2000, S. 17; Herstatt, Verworn 2007, S. 30) Generelles Problem von Unsicherheiten im Projektmanagement (vgl. Verworn et al. 2008, S. 12; Peters 2011, S. 57) Personalfluktuation (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 392) Kompliziertes Finden von geeigneten Lead Usern (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 391 f.; Hippel 2005, S. 76) Kompliziertes Unterfangen der Recherche (vgl. Lüthje, Herstatt 2004,S. 562) Unternehmen hat keine geeignete Organisationsstruktur, die die Lead User-Methode benötigt (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 393 f.) Zu wenige Personen im Unternehmen und auf dem Arbeitsmarkt mit entsprechender Ausbildung zur Methodendurchführung vorhanden (vgl. Olson, Bakke 2001, S. 391) Schlechte Steuerbarkeit des Prozesses (vgl. Link 2014, S. 67) Schwierige Überschaubarkeit des Prozesses (vgl. ebd., S. 67) Überforderung der Mitarbeiter durch Komplexität (vgl. Brügge et al.2011, S. 72; Link 2014, S. 67) Unnötige Komplexität durch übertriebene Kundennähe (vgl. Link2014, S. 67) Unzureichende Kenntnisse in der Innovations- und Projektsteuerung (vgl. Verworn et al. 2000, S. 15; Herstatt et al. 2007a, S. 30, 32 - 34) Unzureichende Kenntnisse im PM (vgl. Verworn et al. 2000, S. 17; Herstatt et al. 2007b, S. 1, 2007a, S. 28) Autoritärer Führungsstil als Innovationshemmnis (vgl. Verworn et al.2000, S. 16) Führungsstil Ausbildung der Mitarbeiter Komplexität Gefahr des Nicht-Lohnens der Lead UserMethode (wenn Lead User nicht weit genug vor dem Zielmarkt) (vgl. ebd., S. 391) Innovationssteuerung wird als Fremdkontrolle angesehen (vgl. Herstatt et al. 2007b, S. 6) Geringe Bereitschaft zur Aufgaben- und Verantwortungsdelegation (vgl. Verworn et al. 2000, S. 16) Tabelle 1: Problembereiche der Lead User-Methode und des Projektmanagements (eigene Darstellung) 5 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Studie der PricewaterhouseCoopers AG zufolge Komplementär rückt den projekt- bzw. innova- verwenden 41% der 1524 Befragten aus 38 Län- tionsübergreifenden Erfolg in den Vordergrund dern und 34 Branchen den Industriestandard und fokussiert damit die Innovationspipeline “Project Management Body of Knowledge” (langfristige Perspektive). Unter anderem wählt (PMBoK) (vgl. PwC 2012, S. 18). Projects in es Timing- und Selektionsstrategien („Was soll- Controlled Environments 2 (Prince2) und agiles te wann realisiert werden?“), definiert Innova- Projektmanagement, das vor allem in der Soft- tionsfelder („Auf welchem Gebiet soll das Un- wareentwicklung zum Einsatz kommt, spielen ternehmen innovativ sein?“), legt den Ziel- mit 3 und 9% eine eher untergeordnete Rolle markt fest und bemüht sich um eine innovati- (vgl. Abbildung 3). onsfördernde Unternehmenskultur (vgl. ebd., S. Kein Modell; 26% 19 f., 27). Projektmanagement beschäftigt sich Sonstige; 21% somit vorrangig mit der effizienten, operativen und Innovationsmanagement primär mit der ITMethoden (vor allem agile); 9% PMBoK; 41% effektiven strategischen Umsetzung der Ziele (vgl. ebd., S. 18 f.). Beide Disziplinen bilden zusammen das integrale Managementsystem und grenzen, angewendet auf die Lead User- PRINCE 2; 3% Methode, den Betrachtungsbereich für nachfolgende Untersuchung ab. Abbildung 3: Popularität der Projektmanagementmodelle in Anlehnung an PwC (2012, S. 18) In Verbindung mit der Lead User-Methode Die Besonderheit von agilem Projektmanage- nagementsystem eine bilaterale “Geben-und- besteht zwischen ihr und dem integralen MaNehmen” Relation: Gegenüber dem Innova- ment liegt zum einen im sehr schlanken Regel- tionsmanagement hilft die Lead User-Methode werk. Zum anderen erlaubt der iterative Cha- dem Innovationsmanagement beim Verstehen, rakter, der auf zwei- bis vierwöchigen Sprints was die Bedürfnisse des Kunden wirklich be- basiert, auf Unvorhersehbares relativ zeitnah friedigt (vgl. Lilien et al. 2002, S. 1051), sowie zu reagieren. Jeder Sprint bringt durch eine beim Sammeln von Produkt- und Fertigungs- individuelle Planung, Durchführung und Steu- ideen (vgl. Hippel 1986, S. 800). Sie wirkt zu erung das Projektergebnis näher an die Erwar- einem gewissen Grad dem Not Invented Here- tungen des Auftraggebers. Am Ende jedes Syndrom entgegen (vgl. Lüthje, Herstatt 2004, Sprints werden die Ergebnisse mit dem Auf- S. 562) und generiert neues Wissen im Unter- traggeber diskutiert, sodass im darauffolgen- nehmen (vgl. Wagner, Piller 2011, S. 5). Außer- den Sprint die verfeinerten Erwartungen bzw. dem bietet sie die Möglichkeit, Trends früh oder Änderungswünsche sowie Unvorhergesehenes sogar als Erster zu erfahren (vgl. Lüthje, Her- Berücksichtigung findet (vgl. Schwaber, Suther- statt 2004, S. 557). Gegenüber dem Projektma- land 2013). nagement hilft die Lead User-Methode beim Das Projektmanagement dient als prozess- und Definieren und Planen des Entwicklungspro- effzienzorientiertes Führungskonzept, mit dem jekts, indem die Informationsbasis breiter und die innovative Idee verwirklicht wird (vgl. verlässlicher wird (vgl. Wagner, Piller 2011, S. Horsch 2003, S. 19). Es zielt auf eine optimale 6). So beugt sie möglichen Projektabbrüchen Umsetzung hinsichtlich der Zeit-, Budget- und vor (vgl. Cooper, Kleinschmidt 1993, S. 76; Kim, Qualitätsdimensionen ab (magisches Dreieck) Wilemon 2002, S. 274). und begrenzt sich dabei auf den Erfolg des Auf der anderen Seite gibt das Innovationsma- jeweiligen Projekts (kurz- und mittelfristige nagement der Lead User-Methode unterneh- Perspektive). Das Innovationsmanagement als 6 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt mensspezifische Innovationsstrategien vor, die artige Erkenntnisse zu gewinnen. Nachteilig ist insbesondere in der Trendanalyse, Definition die bedingte Vergleichbarkeit der Fallstudien des Zielmarkts und der Suche nach geeigneten aufgrund von Datenlücken, die auf die Halb- Lead Usern deutlich wird. Zusätzlich liefert das standardisierung zurückzuführen sind. Projektmanagement der Lead User-Methode Die Interviews gliedern sich in vier Phasen. Die Hilfsmittel zur effizienten und risikominimierenden Durchführung (z.B. Risiko- Gesprächseröffnung mit besonders offenen und Fragen (z.B. „Welche Probleme sind im Rah- Stakeholdermanagement). men der Lead User-Projektdurchführung aufgetreten?“) baut Barrieren ab und schafft eine 2 Informationsgrundlage für Fragen und Diskus- Methode sionen in den anschließenden Phasen. In der Zur Erforschung der Problembereiche dienen folgenden allgemeinen Sondierung wird der Interviews mit qualitativen und explorativen Interviewteilnehmer sukzessive mit den Prob- Charakter zur Aufnahme von industriellen lemfeldern konfrontiert, um die individuelle Fallstudien. Ziel ist es dabei also nicht, bekann- Meinung, Argumente und ggf. Problemlösun- te Faktoren oder Phänomene tiefer zu durchdringen (deskriptiver Charakter), gen aufzunehmen. Dabei macht es keinen Un- sondern terschied, ob die Problemlösungen bereits ge- vielmehr unbekannte Faktoren und Argumente testet oder ungetestet sind, ein Gedankenspiel hervorzubringen (vgl. Wrona 2005, S. 26 f., 35). oder ein wohlüberlegtes Lösungskonzept dar- In anderen Worten ist das primäre Ziel der stellt. Jede Information kann helfen, neue Mög- Fallstudienanalyse, die existierende Theorie lichkeiten in den Problemfeldern zu erschlie- zum Thema Lead User und Projektmanage- ßen. Um die Argumente und gelieferten Kon- ment im Innovationsprozess zu erweitern, an- zepte tiefgehend zu durchdringen, dient die statt sie zu validieren. Aufgrund der Struktu- anschließende spezifische Sondierung der In- rierung nach Problemfeldern folgt die Untersu- terpretation und Diskussion von bereits Gesag- chung der Methode des problemkonzentrierten tem. Zum Schluss gibt der Ad hoc-Frageteil die Interviews. Möglichkeit zur Klärung letzter Unklarheiten Das problemkonzentrierte Interview, das an (vgl. Witzel 2000, S. 146 f.; Witzel, Reiter 2012, den Grounded Theory-Ansatz angelehnt ist S. 64 - 94). Insgesamt sind sechs Interviews (vgl. Glaser, Strauss 1967; Witzel 2000, S. 143), telefonisch geführt worden. Die Interviewdauer versucht, mit einem gezielt offenen Gesprächs- beträgt jeweils etwa eine Stunde. Um einen rahmen die individuelle Perspektive des Be- uneingeschränkten Informationsfluss zu ge- fragten in Bezug auf ein gewisses Problem bzw. währen und somit verzerrte Darstellungen Thema zu entfalten (vgl. Wrona 2005, S. 25 f.). vorzubeugen, verpflichtet sich die Studie zur Ein Frageleitbogen, der eher als Richtlinie und Anonymität. Tabelle 2 liefert einen Überblick nicht als konkreter Ablaufplan des Gesprächs über die Teilnehmer. Aufgrund der sehr unter- zu verstehen ist, gibt der Interviewdurchfüh- schiedlichen Fallzahl von durchgeführten Lead rung einen roten Faden (vgl. Witzel 2000, S. User-Projekten und der Perspektivenverschie- 145). Da nicht alle Interviewteilnehmer mit den denheit werden die Unternehmen in die Klas- gleichen Fragen konfrontiert werden, sondern sen “beratend” und “produzierend” eingeteilt. der Interviewer immer wieder gelieferte Argu- Unternehmen A und B gehören als Consulting- mente situationsadäquat hinterfragt, lässt die Dienstleister zur beratenden Klasse, wohinge- Methode sich als ein halbstandardisiertes Ver- gen Unternehmen C, D, E und F produzierend fahren klassifizieren (vgl. Wrona 2005, S. 25 f.). tätig sind. Die Interviewauswertung erfolgt Vorteilig sind der explorative Charakter und zunächst separiert für jedes Problemfeld. Im die hohe Wahrscheinlichkeit, fundamental neu7 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Unternehmen Branche Anzahl Mitarbeiter Erfahrung PM des Befragten Erfahrung LUM des Befragten Besonderheit A Consulting LUM 16 10 Jahre 2 Jahre 200 abgeschlossene Lead User-Projekte im Unternehmen Consulting Open InnovationMethoden 60 Buntweber 750 Projektdurchführung und Coaching Branchenübergreifende Erfahrungen B C 7 Jahre 7 Jahre Projektdurchführung und Coaching Branchenübergreifende Erfahrungen 3 Jahre 1 Projekt Projektierung mittels agilen Methoden Erstmaliges Lead User-Projekt D Maschinenbau 39.000 10 Jahre 5 Projekte E Fahrzeugbau 1.000 7 Jahre 1 Projekt Pharmazie 89.000 LUM als Bedarfsabsicherung LUM kommt regelmäßig zum Einsatz Projektdurchführung ausgelagert an externen Dienstleister LUM resultiert in zu radikalem Konzept, die mit zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht umgesetzt werden kann Erstmaliges Lead User-Projekt F 1 Jahr 1 Projekt Projektdurchführung ausgelagert an externen Dienstleister 3 Projekte im Unternehmen durchgeführt Tabelle 2: Studienteilnehmer im Vergleich (eigene Darstellung) Anschluss dient die Theoriebildung der Zu- fektivität, der Auswahl des Projektmanage- sammenführung der Problemfelder zu einem mentmodells, der Strukturierung des Innovati- Managementmodell. Dieses Modell versteht onsprozesses, dem Staffing und Wissensmana- sich – aufbauend auf den Implikationen der gement, dem kontinuierliches Lernen sowie Fallstudie – als Handlungsempfehlung. dem Training von Mitarbeitern unterschieden. Eine Online-Umfrage konfrontiert die Befragten Effizienz versus Effektivität aus der Fallstudie und sieben weitere Experten Hinsichtlich der Balance zwischen Effizienz schließlich mit dem entwickelten Modell. Ex- und Effektivität bewerten die Studienteilneh- perten sind in diesem Kontext Personen aus mer grundsätzlich eine hohe Effektivität im Forschung und Praxis mit umfangreichen Er- Vergleich zu einer hohen Effizienz als deutlich fahrungen im Projektmanagement sowie in der wichtiger (C, D, F). „Also lieber habe ich [nur, Durchführung von Lead User-Projekten. Diese Anmerkung des Verfassers] fünf Lead User und Umfrage prüft zum einen die richtige Interpre- [...] hinter diesen stehe ich zu 100 Prozent und tation der Interviewergebnisse und testet zum hab vielleicht eine längere Zeit dafür gebraucht, anderen die Praxistauglichkeit des Modells. als dass ich das irgendwie effizient mache und Insgesamt umfasst die Online-Umfrage 24 Hy- ich hab aber nur so halb halb“ (C). Im Kontext pothesen, zu denen die Experten aufgefordert dieser Balance schlägt Hippel et al. (2009, S. sind, ihren Zustimmungsgrad auf einer Skala 1403) vor, die Lead User-Suche bei einer hinrei- mit fünf Unterteilungen einzutragen. chenden Lead Userness zu beenden. Die Effizienz erhöht sich in diesem Fall zu Lasten der 3 Effektivität. Wie das obige Zitat aus Unterneh- Ergebnisse der problemkonzen- men C stellvertretend zeigt, wird dies von fast trierten Interviews allen Befragten abgelehnt (A, B, C, F), was die Die Ergebnisse der Interviews werden nachfol- besondere Bedeutung der Effektivität für die gend in für die Durchführung von Lead User- Industrie nochmals unterstreicht. Die Industrie Projekten relevante Potentialfelder unterteilt. verlangt also primär einen sehr effektiven Pro- Dabei wird zwischen der Effizienz versus Ef8 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt zess. Diese Effektivität entscheidet sich insbe- Im Hinblick auf die Suchmethodik ist es auffäl- sondere am Prozessanfang. Je weiter der Pro- lig, dass in der Praxis kein Endkriterium der zess fortschreitet, desto wichtiger wird die Effi- Lead User-Suche festgelegt wird, sondern wie zienz (A, E). Bspw. weist Unternehmen A da- bei Unternehmen B der Ablauf eines Zeitbud- rauf hin, dass „80 Prozent des Projekterfolgs in gets die Suchmethodik beendet. Falls absehbar den ersten 20 Prozent des Projekts liegen“, ist, dass dieses ex ante definierte Zeitbudget weshalb Unternehmen A sehr viel Zeit in die nicht ausreicht, wird an entsprechender Stelle definitorischen Aktivitäten (z.B. Zielformulie- um eine Verlängerung gebeten. Die Studie rung, Suchfeldeinschränkung) investiert. So zeigt, dass dies vor allem an zwei Faktoren dauert z.B. die Perfektionierung der Suchfeld- liegt: Zum einen haben die Methodenanwender einschränkung bei Unternehmen A etwa einen Probleme mit der Adoption der Lead User- Monat, also 20% der empfohlenen Projektdauer Definition auf ihre individuelle Situation („Was (vgl. Wagner, Piller 2011, S. 11). Obwohl diese genau ist ein Lead User für unser Projekt?“)(B, Aktivitäten keinen unmittelbaren Wert generie- C) und zum anderen fehlt eine explizite Zielde- ren, profitiert das Projektteam im späteren Ver- finition der Lead User-Suche („Wann haben wir lauf von einer klaren Definition des Projekter- einen Lead User gefunden? Und wie viele Lead gebnisses, was sich in einer vergleichsweise User benötigen wir?“)(B, C). Im Hinblick auf kurzen Projektdauer und weniger kritischen die Trendrecherche gibt es keine Anzeichen Problemen äußert (A). Damit vertritt Unter- dafür, dass diese anders abgewickelt wird. nehmen A die gleiche Meinung wie Cooper Um die Effektivität abzusichern, empfiehlt es (2014, S. 28). sich ein adäquates Risikomanagement. Ein Die Befragten schätzen den Zeitaufwand des typisches Lead User-Projekt ist vielen potentiel- Lead User-Projekts als sehr hoch ein (B, C). len Risiken ausgesetzt. Bspw. können gefunde- Dabei wird häufig auf die langwierige Trendre- ne Lead User aufgrund von Krankheit ausfal- cherche, die schwierige und aufwendige Lead len, wodurch ein Arbeitsaufwand von Wochen User-Suche und die ungewöhnlich lange Dauer unnötig wird (B, C). Unternehmen C nennt eine für einen Workshop verwiesen (A, B, C, E, F). Ausfallquote von etwa 10%. Auch kann die Obwohl Unternehmen B auf ausgereifte Pro- Tauglichkeit der selektierten Lead User für die jektstandardvorlagen und umfangreiche Erfah- Teilnahme am Workshop fragwürdig sein. So rungswerte mit Lead User-Projekten zurück- berichtet bspw. Unternehmen E von besonders greift, kommt es regelmäßig zu Zeitproblemen: extrovertierten Lead Usern, die sich geschickt „[W]ie viel Vorbereitung das braucht und vor in den Mittelpunkt manövrieren und das Ar- allem wie lange das dauert, diese Lead User zu beitsklima empfindlich stören. Ein weiteres finden [...]. Ich glaub, das unterschätzen wir Risiko besteht darin, dass entwickelte Ideen selber jedes Mal wieder aufs Neue.“ (B) Diese und Konzepte die Leistungsbereitschaft und Erkenntnisse bestätigen die Behauptungen von -fähigkeit eines Unternehmens übersteigen, Olson und Bakke (2001, S. 392) sowie Lüthje sodass die Sinnhaftigkeit des Projekts im Nach- und Herstatt (2004, S. 562 f., 565). Sie führen zur hinein in Frage gestellt wird (E, F). Bspw. wur- Implikation: Die industrielle Praxis würde die de bei Unternehmen E ein dermaßen radikal Lead User-Methode öfter anwenden, wenn die neuartiges Fahrzeuggestell entworfen, das von Trendrecherche und die Suchmethodik bei glei- dem Unternehmen aufgrund der hohen Investi- cher Effektivität effizienter wären. Nachfolgen- tionskosten nicht realisiert werden kann. Ob- de Diskussion fokussiert daher zum einen die wohl das Lead User-Projekt bei Unternehmen E Erhöhung der Effizienz und zum anderen die offiziell als erfolgreich gilt, sind die Projekter- Erweiterung und Absicherung der Effektivität. gebnisse jedoch aus diesem Grund bis heute 9 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Risiken Aufgetreten bei Entwickeltes Konzept kannibalisiert bestehendes Produkt im Portfolio A, F Selektierte Lead User können ausfallen (bspw. aufgrund von Krankheit) A, C Zu geringe Lead Userness (z.B. Lead User mit Bedarfs-, aber keinen Lösungsinformationen) A, C, F Entwickelte Ideen und Konzepte übersteigen Leistungsbereitschaft und -fähigkeit E, F Ergebnisse der Trendrecherche stellen sich im Laufe des Projekts als veraltet oder falsch heraus A Implizite Lead User-Bedürfnisse sind schwer zu erfassen und können falsch interpretiert werden A, C Lead User-Methodik ist nicht akzeptiert und führt zu Widerstand (z.B. in Form von Totschlagargumenten) A Workshoptauglichkeit der Lead User nicht gegeben (z.B. besonders extrovertierte Lead User, die sich in den Mittelpunkt manövrieren) E Meinung der Workshopteilnehmer spiegelt nicht die Bedürfnisse des eigentlichen Zielmarkts wider D, F Generieren von realitätsfernen Ideen im Lead User-Workshop E, F Implizite Wünsche der Lead User können falsch über das Projekt bzw. die Folgeprojekte transferiert werden Olson und Bakke (2001, S. 391) Zielmarkt folgt dem identifizierten Trend nicht Olson und Bakke (2001, S. 391) Lead User hat keine Zeit für Workshop; schwierige Termineinigung mit vielen Teilnehmern B, C Zu aktive Workshopbeteiligungen unternehmenseigener Mitarbeiter überdecken die Lead UserÄußerungen F Tabelle 3: Typische Risiken in einem Lead User-Projekt (eigene Darstellung) nicht weiterentwickelt worden. Tabelle 3 führt samkeit vor allem bei radikalen Innovationen weitere typische Risiken eines Lead User- innerbetriebliche Projekts auf. Obwohl z.B. Unternehmen D ein Unternehmen D lässt aufgrund dieser Ängste professionelles Risikomanagement anwendet, und Zweifel den Lead User am Ende des Work- zeigt die Studie, dass dies in der Industrie nicht shops unter dem Lastenheft unterschreiben und üblich ist: „[E]s gibt Leute, die sich gegen hält im späteren Entwicklungsprozess immer Hochwasser versichern, auch wenn sie oben am wieder mit diesem Rücksprache. Ein weiteres Berg wohnen. [...] [D]azu gehören wir [...] Beispiel für innerbetriebliche Widerstände sind nicht.“ (B) Die genannten Risiken sind keine „Totschlagargumente“, die sich auf bedrängte Exoten, Auftritts- Entscheidungsträger zurückführen lassen: „Das wahrscheinlichkeit typische Szenarien in Lead haben wir schon alles versucht“ oder „[Das] User-Projekten. Auf solche Fälle sollte ein Pro- [h]ätten die Japaner dann schon längst erfun- jektteam vorbereitet sein, indem es ein profes- den“ (A). Im Falle von Unternehmen E äußer- sionelles Risikomanagement z.B. nach PMBoK ten sich die Widerstände in einer anderen Art: führt. Die Geschäftsführung hat nicht mit einer der- sondern mit hoher Widerstände hervorrufen. maßen radikalen Produktänderung am Fahrge- In einem Lead User-Projekt arbeiten Personen stell gerechnet, die nicht nur eine riskante und zusammen, die sich oftmals vor dem Projekt sehr umfangreiche Investition wäre, sondern noch nicht kannten (A). Damit bei dieser Zu- auch bestehende Produkte kannibalisiert. Des- sammenkunft keine Zielkonflikte mit den indi- wegen reflektiert Unternehmen E, zur Vermei- viduellen Interessen und dem Projektziel ent- dung von Zielkonflikten auf höchster Unter- stehen, bedarf es einem adäquaten Stake- nehmensebene zu klären, ob eine radikale In- holdermanagement (A, B, E). Die frühzeitige novation wirklich gewollt ist und unterstützt Abstimmung der Projektziele mit den Stake- wird, bevor das Lead User-Projekt startet. Wie holdern ist wichtig (A, B, C, D, E). Unterneh- die Beispiele zeigen, spielt der Faktor Mensch men A berichtet bspw. von Ängsten vor dem eine erfolgskritische Rolle in Lead User- Öffnen des Innovationsprozesses, die gepaart Projekten. In der Praxis ist eine Vielzahl von mit Zweifeln gegenüber der Methodenwirk- Personen beteiligt, dessen Interessen zu einem 10 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt hohen Maße divergent sein können. Der Teil- Mehrwert für das Unternehmen generiert wird. nehmerkreis im Lead User-Workshop variiert Um die Projektinvestition abzusichern, emp- zwischen 15 (A, E) und 30 (C). Insbesondere im fiehlt Falle der Unternehmensberatungen können Prozessabfolge um den Schritt „Lead Userness- zusätzliche Personen in der Trendrecherche Überprüfung“ zu ergänzen. und Lead User-Suche involviert sein (A). Auf- Die grund der verschiedenen individuellen Interessen ist ein professionelles es sich, die Sinnhaftigkeit originäre der Lead User- Ergebnisvalidierung ergibt sich aus zwei Motiven. Zum einen hat Stakeholder- das Lead User-Projekt durch den radikalen management z.B. nach PMBoK zur Absiche- Charakter eine hohe strategische Bedeutung für rung der Projekteffektivität sinnvoll. Die meis- das Unternehmen (E, F). Zum anderen zweifeln ten der befragten Unternehmen benutzen einen Unternehmen an der Wirksamkeit der Open auf die spezifischen Projektrahmenbedingun- Innovation-Methoden und haben Angst vor gen angepassten Lead User-Prozess. Unter- einem Wissensabfluss sowie vor dem Nicht- nehmen A und C überprüfen aus Gründen der Erreichen des Projektziels (A, E). Zur Ergebnis- Qualitätssicherung bspw. die Lead Userness validierung wurden die Workshop-Ergebnisse bevor diese zum Workshop eingeladen werden. bei Unternehmen C von internen Mitarbeitern Unternehmen B lockert die harte Definition geclustert und von potentiellen Kunden sowie eines Lead Users auf, sobald diese in der Reali- von Marktexperten bewertet. Auch Unterneh- tät z.B. aufgrund unpassender Sprachenkennt- men F hat zur Validierung der Ergebnisse po- nisse (Klient verlangt deutschsprachigen Work- tentielle Kunden (nicht die Lead User) nach shop, Lead User spricht aber nur Englisch) der deren Meinung gefragt. Bei Unternehmen D Lead User in der Praxis nicht anwendbar ist. werden die Getriebeprototypen aufgrund des Unternehmen C und F lassen die Ergebnisse geringen Marktvolumens und der hohen Her- des Workshops wegen der hohen strategischen stellkosten unmittelbar für einen Lead User Bedeutung des Lead User-Projekts auf das Un- produziert. Dieser validiert die Ergebnisse des ternehmen validieren. Diese Schritte bleiben im Lead User-Workshops durch seine Unterschrift Lead User-Prozess der Literatur unberücksich- auf dem Lastenheft (D). Auffällig ist jedoch, tigt, womit sich eine Schere zwischen Theorie dass die Ergebnisvalidierung in den Interviews und Praxis offenbart. Aufgrund der häufigen mit beratenden Unternehmen keine Rolle spielt. Nennung und dem hohen Nutzen für die Qua- Grundsätzlich ist die hohe Effektivität wichti- litätssicherung, macht es Sinn, den originären ger als eine hohe Effizienz, womit insbesondere Prozess um die Schritte „Lead Userness- ein Überprüfung“ und „Ergebnisvalidierung“ zu adäquates Risiko- und Stakeholder- management sowie eine Überprüfung der Lead erweitern, wie nachfolgend erläutert. Userness und eine Ergebnisvalidierung Sinn Da die Auswahl der richtigen Lead User ein macht. Im Hinblick auf das integrale Manage- wesentlicher Erfolgsfaktor für ein Lead User- mentsystem ist das Innovationsmanagement Projekt darstellt (C, E), überprüfen die Unter- wegen der strategischen Ausrichtung am An- nehmen A und C die Lead User vor der Einla- fang und das Projektmanagement wegen der dung zum Workshop hinsichtlich der Lead operativen Ausrichtung am Ende des Prozesses Userness und der Workshoptauglichkeit. Be- bedeutsam. Überdies hat die Studie gezeigt, währt haben sich Telefoninterviews, Hausbesu- dass eine häufigere Methodenanwendung in che und das Skizzieren erster Ideen (A, C). Die der Industrie umso wahrscheinlicher ist, desto Auswahl von falschen Personen mit zu gerin- effizienter die Trendrecherche und die Lead gen Lead Userness-Eigenschaften kann im User-Suche wird. Letzteres appelliert vorder- schlimmsten Fall dazu führen, dass kein 11 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt gründig an die Forschung, eine effizientere nehmen B. Auffällig ist auch, dass zwei von Suchmethodik zu entwickeln. diesen drei genannten Unternehmen die Projektmanagementmodelle nicht zu unterschei- Auswahl des Projektmanagementmodells den wussten (B, E). So bestätigen die Interviews Die Studie zeigt, dass Lead User-Projekte bei die Behauptungen, die Praxis verlässt sich rela- allen Teilnehmern bewusst geplant werden (vor tiv häufig auf mangelnde Methodenkenntnisse allem Aufgaben-, Zeit-, Meilenstein- und Res- und sourcenpläne). Bei den beratenden Unterneh- eine schlechte Projektsteuerung (vgl. Verworn et al. 2000, S. 15; Herstatt, Verworn men kommen dafür Standardvorlagen, die 2007, S. 30; Herstatt et al. 2007b, S. 32 - 34). speziell für die Lead User-Methodendurch- Den Unternehmen A, C und D ist der agile führung entwickelt wurden, zum Einsatz (A, Ansatz bekannt. Unternehmen D wendet ihn B). Während Unternehmen A, B, D und E die jedoch nur bei besonders hohem Zeitdruck an Planung zu Beginn erstellen und somit dem und bislang noch nicht in einem Lead User- traditionellen Managementansatz folgen, wen- Projekt. Unternehmen C dagegen verfolgt als det Unternehmen C das agile Projektmanage- einziges der befragten Unternehmen das agile ment an. Unternehmen C verlässt sich auf Managementmodell im Lead User-Projekt. Ob Selbstkontrolle und -organisation, hält regel- das Managementmodell jedoch vollständig den mäßige Statusmeetings ab und berichtet in Ab- agilen Prinzipien folgt, bleibt offen. Agiles Pro- ständen von wenigen Wochen an den Projekt- jektmanagement ist der industriellen Praxis auftraggeber. also nicht fremd, allerdings vertrauen die meis- Zum Einsatz kommt das Projektmanagement in ten befragten Unternehmen (83%) der traditio- Lead User-Projekten in der Regel aufgrund nellen Herangehensweise nach PMBoK. Agiles intrinsischer Motivationen (B, C, E): „Das Pro- Projektmanagement in einem Lead User-Projekt jekt ist so komplex und so groß, das geht über wurde bereits in der Praxis getestet und hat so einen langen Zeitraum, dass man ohne ir- sich als sehr vorteilhaft erwiesen (C). Unter- gendeine Form des [...] Projektmanagements [..] nehmen A, B, C und E sind einstimmig der da nicht durchkommt. Also man hat ja auch Meinung, dass die Begeisterung und Leiden- Kollegen, die man an gewissen Punkten ein- schaft, die ein Projektteam für das Lead User- binden muss. [...] Und die sind dann einfach Projekt entwickelt, ausschlaggebend für die nicht verfügbar, wenn ich das nicht rechtzeitig Ergebnisqualität ist. Das Teamwork und die einplane.“ (B) Speziell für Lead User-Projekte Multidisziplinaritität werden dabei als sehr kann die vorwiegend extrinsische Motivation wichtig eingestuft (A, C, D). In einem Lead von Teammitgliedern, wie von Verworn et al. User-Projekt ist Leidenschaft für das Thema (2000, S. 15 f.) sowie Herstatt et al. (2007b, S. 29) und die Arbeit nicht nur für die Lead User postuliert, nicht bestätigt werden. Womöglich wichtig (vgl. Definition Lead User), sondern haben sich die Einsatzmotive über die Jahre auch für die Teammitglieder. Zusammen mit geändert. Es gibt jedoch viele Anzeichen dafür, der außerordentlichen Bedeutung des Team- dass das Projektmanagement bei manchen Be- works und der Multidisziplinarität sollte ein fragten nicht auf einem professionellen Niveau eingeschworener Teamgeist daher gefördert stattfindet (B, D, E). Bspw. haben Unternehmen werden. D und E trotz mehrjähriger Beteiligung in Ent- Bei Unternehmen C sind die Hauptmotive zum wicklungsprojekten Probleme, Standardabläufe Einsatz des agilen Ansatzes neben dem Fördern des Projektmanagements (z.B. die Projektsteue- des Teamworks das Vermeiden von starren rung) zu erklären. Ein weiteres Beispiel ist das Strukturen, die das innovationsfördernde Kli- Fehlen von Risikoplänen trotz umfangreicher ma empfindlich stören, sowie das Schaffen von Projektmanagementerfahrung wie bei Unter12 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Kontrollierbarkeit über Planungsunsicherhei- Nichtsdestotrotz bewertet die Praxis die etab- ten. Unternehmen B vertraut zwar den inflexib- lierten Innovationsprozesse als unüberschaubar len Strukturen des traditionellen Projektmana- und schwer verständlich (B, D, E), obwohl eine gements, beklagt aber gleichzeitig die Un- leichte Verständlichkeit von den Befragten als vorhersehbarkeit und die schlechte Planbarkeit wichtig für den Projekterfolg angesehen wird des Innovationsprozesses. Genannt wird hier (A, E). Um dem entgegen zu wirken, abstrahiert bspw. die ex ante definierte Suchstrategie, die Unternehmen C den Innovationsprozess auf sich im Laufe der Lead User-Suche oftmals wenige allgemeingültige Schritte, veröffentlicht ändert (B). Das agile Projektmanagement eignet ihn auf der Internetseite des Unternehmens und sich hinsichtlich der Selbstkontrolle, der sich fertigt regelmäßig interne Newsletter über die häufig ändernden Informationsbasis, der mög- Innovationsaktivitäten an. Dies schafft eine lichen kurzfristigen (Recherche- oder Lead unternehmensweite Transparenz und eine er- User-Such-) Strategieänderung und der leiden- höhte Innovationsakzeptanz (C). Bei allen an- schaftlichen Teamarbeit besser für Lead User- deren Studienteilnehmern sind solche Maß- Projekte als der traditionelle Ansatz. Dies spie- nahmen nicht erkennbar. Demzufolge ist es in gelt sich auch darin wider, dass Cooper (2014, der Praxis üblich, dass nicht alle Mitarbeiter S. 21), auf den das Stage Gate-Modell zurück- den aktuellen Projektstand kennen. geht, eingesteht, dass der agile Managementan- Ein aushängender Prozessplan, der für alle satz womöglich sein Modell ablösen oder zu- Projektstakeholder einsehbar ist und auf dem mindest ergänzen wird. Das wenig verbreitete der aktuelle Stand des Projekts eingetragen ist, agile Projektmanagement bietet große Verbes- würde die Transparenz fördern und Synergie- serungspotentiale für Lead User-Projekte. effekte mit anderen Projekten schaffen. Über- Strukturierung des Innovationsprozesses dies empfiehlt es sich auch, den Innovationsprozess zu einem grobschrittigen Plan zu Der Arbeits- und Koordinationsaufwand in standardisieren bzw. zu verallgemeinern, um Lead User-Projekten wird als sehr umfangreich die Verständlichkeit und Transparenz zu stei- bewertet (B, C). Die Projekte dauern in der Pra- gern. Nicht zuletzt erhöht eine bessere Prozess- xis zwischen vier und sechs Monate (A, C) und verständlichkeit auch die Identifikation und beschäftigen unmittelbar zwischen 15 (A, E) Leidenschaft für das Projekt. Im Hinblick auf und 30 (C) Personen. Aufgrund dieser Koordi- die Standardbildung kritisiert Unternehmen B nationskomplexität und den oben beschriebe- jedoch die teilweise unnötigen und unpassen- nen Risiken sollte ein Lead User-Projekt des- den Standardprozesse der Klienten, zu deren halb auf keinen Fall ad hoc abgewickelt wer- Einhaltung die Mitarbeiter oft verpflichtet sind. den. Wegen des unsicheren Ausgangs des Bei Nicht-Einhaltung kommt es auf die Gunst Workshops („[S]ind die Konzepte tatsächlich der Vorgesetzten an (B). Zu kleinschrittige Pro- umsetzbar für uns?“, E) sollte die Lead User- zesse führen zu Effizienzdefiziten und zu Methode vielmehr in einem eigenständigen Schwierigkeiten der Mitarbeiter, sich zu entfal- Projekt eingebettet sein. So fungiert es als Vor- ten, was die Kreativität belastet (vgl. Bahlow et projekt des Entwicklungsprojekts und lässt sich al. 2013, S. 12 f.). Der Faktor Mensch spielt so- auf die besonderen Umstände des Fuzzy Front wohl in Bezug auf die Projektteammitglieder Ends optimieren. als auch in Bezug auf die Lead User eine er- Die Studie zeigt, dass sich Stage Gate-Prozesse folgskritische Rolle. Sie generieren durch ihre in der Praxis bewährt haben und als hilfreich Kreativität sowie Fähig- und Fertigkeiten die und damit sinnvoll empfunden werden, da es Ideen, die unmittelbar zum Projektergebnis die Projektsteuerung und die Einbindung des führen. Dazu bedarf es Vertrauen und kreativi- Top Managements vereinfacht (A, D, E). 13 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt (vgl. agilem Projektmanagement, da es auf einer Kullmann et al. 2013, S. 4 - 7). Unternehmen A schlanken Planung und einem kurzen und fasst dies wie folgt zusammen: „Und oftmals, leicht verständlichen Regelwerk mit umfassen- da diese Regeln [...] zu streng und zu struktu- den Handlungsspielräumen beruht. Nicht zu- riert sind und den Ideen und den Kreativitäts- letzt zeigt die Erfahrung, dass agiles im Ver- prozess [..] [als] auch die ersten Ideen [...] sehr gleich zum traditionellen Projektmanagement stark hemmen. [...] [D]a verliert eine gute Idee die Projektdauer verkürzt (vgl. Sutherland et al. oftmals so richtig an Fahrt.“ Auch Unterneh- 2007, S. 1; D). tätsfördernden Handlungsspielräumen men C und E befürworten Handlungsspiel- Staffing und Wissensmanagement räume für das Projektteam. Nur Unternehmen Im Hinblick auf den Wissensfluss im Innova- D sieht in der strengen Einhaltung von Stan- tionsprozess zeigt die Erfahrung der Studien- dardprozessen jedoch keinen Gegensatz zwi- teilnehmer, dass das Projektstaffing und die schen Kreativität und Kontrollierbarkeit. Auswahl der „richtigen“ Workshopteilnehmer Ein stabil verlaufender Prozess ist also ebenso ausschlaggebend sind. Unternehmen B emp- wichtig wie flexible Handlungs- und Entschei- fiehlt seinen Klienten, diejenigen Mitarbeiter in dungsspielräume, um auf unvorhersehbare das Projekt zu involvieren, die im Anschluss im Ereignisse situationsadäquat reagieren zu kön- Entwicklungsprojekt teilnehmen würden. Dies nen. Stabil-flexible Standards sind allerdings beugt dem Not Invented Here-Syndrom vor (A, kein Widerspruch. Der agile Managementan- B) und deckt sich mit den Untersuchungser- satz verbindet beide Eigenschaften und stellt gebnissen von Roberts (2007, S. 47). Als Aus- den Menschen, die Effektivitätsanforderungen wahlkriterium nennt Unternehmen B die obli- und die Kooperation mit Kunden in den Mit- gatorische Fähigkeit, sich „mit den Lead Usern telpunkt. Die Einhaltung von gesetzten Regeln auf Augenhöhe [zu] unterhalten“ (B). Deshalb und die konsequente Dokumentationspflicht ist es unwahrscheinlich, dass bei zwei aufei- werden dafür zu Gunsten der Schaffung von nander folgenden Lead User-Projekten für ver- kreativitätsfördernden Freiräumen und gegen- schiedene Bedürfnistrends dieselben Mitarbei- seitigem Vertrauen als weniger wichtig priori- ter in Frage kommen (A). Daher ist es sinnvoll, siert. Stabil-flexible Standards diktieren dabei im Team einen Methodencoach zu integrieren, nicht die expliziten Handlungsschritte zum der projektübergreifend die methodisch korrek- Ziel, sondern fokussieren die Beschreibung der te und konsequente Durchführung verantwor- Ergebniseigenschaften und verlangen die Ein- tet. haltung von (relativ weit gefassten) Grenzen Überdies empfiehlt Unternehmen A den Klien- zur Wahrung der Reproduzierbarkeit und ten das Anwenden des Promotorenmodells. Kontrollierbarkeit (vgl. Bahlow et al. 2013, S. 12 Promotoren sind Teammitglieder, die ihre - 14). Macht, ihr persönliches Netzwerk oder ihre Das Einräumen von Handlungsspielräumen für fachliche Expertise zu Gunsten des Projekts jedes Teammitglied schafft Vertrauen, fördert nutzen (vgl. Witte 1973, S. 14 - 22; Hauschildt, das kreative Arbeitsklima und rückt den er- Salomo 2011, S. 125). „[J]edes Lead User-Projekt folgskritischen Faktor Mensch in den Mittel- bei uns muss mindestens einen Machtpromoter punkt der Projektabwicklung. Einmal mehr haben, mindestens zwei Fachpromotoren und bestätigt sich, dass der Einsatz des agilen Ma- mindestens zwei Prozesspromotoren.“ (A) Ziel nagementansatzes für Lead User-Projekte sinn- ist es, Innovationshemmnissen entgegenzuwir- voll ist. Um den Innovationsprozess gleichzei- ken. Es ist ein Best Practice bei Unternehmen A, tig leicht verständlich, leicht steuerbar und der sich aus der kritischen Reflektion von mehr schnell zu gestalten, lohnt sich der Einsatz von als 200 Lead User-Projekten ergeben hat. 14 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Bei der Gewährleistung, dass Ergebnisse des Im Hinblick auf den Wissensfluss innerhalb des Lead User-Projekts tatsächlich im Entwick- Lead User-Projekts hat sich der Einsatz von lungsprojekt verwirklicht werden, sind die Grafikern bewährt (A, C, E). Während der Aussagen der Studienteilnehmer divergent. Fachgespräche im Workshop können so nicht Unternehmen B berichtet von fehlenden Kont- nur die Bedürfnisse der Lead User visualisiert rollinstrumenten bei seinen Klienten, obwohl und dokumentiert, sondern auch die schwer projektübergreifende Mechanismen wie Lasten- identifizierbaren impliziten Wünsche aufge- und Pflichtenhefte grundsätzlich als sehr sinn- deckt und validiert werden. Des Weiteren zeigt voll bewertet werden. Dennoch behauptet Un- die Studie, dass die Förderung von Leiden- ternehmen A, dass das Erstellen eines Lasten- schaft und Projektidentifikation bei den Pro- und der jektbeteiligten in Bezug auf das Verstehen von Workshopergebnisse, wie es bspw. bei Unter- impliziten Wünschen hilfreich ist (A). „[W]enn nehmen D und F zu beobachten ist, eine gängi- [...] ein Projekt [..] diesem Team [..] auf die Nase ge Praxis darstellt. Auch Unternehmen F kann gedrückt wird, [...] dann müssen wir dort ein- sich die Nutzung von Lasten- und Pflichtenhef- mal Begeisterung schaffen. Und diese Begeiste- ten vorstellen, lehnt aber eine Erstellung unmit- rung kann das Team nur als gesamtes Team telbar nach dem Lead User-Workshop ab. We- auch aufrecht behalten.“ (A) Diese Begeisterung gen der strategischen Bedeutung der Ergebnis- äußert sich z.B. bei Unternehmen E in einer se seien diese vor der Lastenhefterstellung zu- aktiven Beteiligung im Projekt. Osterloh und nächst zu validieren. Unternehmen F dagegen Frey (2000, S. 545 - 547) bestätigen, dass eine ist der einzige produzierende Studienteilneh- intrinsische Motivation und Leidenschaft für mer, bei dem kein Lastenheft erstellt wird. Die- das Thema hilft, implizite Bedürfnisse zu ver- ser empfindet die Abschlusspräsentation des stehen. Mitarbeiter können sich besser in den projektdurchführenden Unternehmensberaters Kunden hineinversetzen. Pflichtenhefts zur Erfassung als ausreichend (F). Alle Teilnehmer stufen Eine geeignete Teambesetzung, Lasten- und indes die Gewährleistung, dass die Projekter- Pflichtenhefte sowie das regelmäßige Einbin- gebnisse in Folgeprojekten „gehört“ werden, den von Lead Usern in den anschließenden als wichtig ein. Entwicklungsprozess hilft, das generierte Wis- Lasten- und Pflichtenhefte stellen nicht das sen projektübergreifend zu übermitteln und einzige Kontrollinstrument dar. Unternehmen diesen Fluss zu steuern. Der Einsatz von Grafi- B empfiehlt das Einbinden von Lead Usern im kern im Lead User-Workshop und das Fördern anschließenden Entwicklungsprojekt (z.B. zum von Leidenschaft und Projektidentifikation bei Beseitigen von Unklarheiten via Telefon). In der den Unternehmensmitarbeitern verbessert das Gruppe Unternehmen Verständnis von impliziten Äußerungen der findet dies bei Unternehmen D Anwendung. Lead User. Visualisierungen sowie intrinsisch Obwohl Unternehmen D sehr auf den Schutz motivierte Mitarbeiter sorgen dann dafür, dass des eigenen Wissens bedacht ist, integriert es auch schwer formulierbare Wünsche projekt- die Lead User an mehreren Stellen im Innovati- übergreifend weitergegeben werden. der produzierenden onsprojekt, um die Kontinuität sicherzustellen. Kontinuierliches Lernen Die Studie von Sandmeier et al. (2010, S. 103) Vor allem Unternehmen A, B, C und D, welche kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass die re- die Lead User-Methode selbstständig durch- gelmäßige Einbindung von potentiellen Kun- führen (Unternehmen E und F haben die Pro- den in den Innovationsprozess einen kontinu- jektabwicklung an externe Unternehmensbera- ierlichen Relevanztest darstellt und letztendlich tungen abgegeben), haben tiefgehende Erfah- zu zufriedeneren Kunden führt. rungen mit der Projektierung gesammelt. „Also 15 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt ich glaube, es war nicht sehr effizient, nicht zukünftige Projekte nutzbar zu machen. Der optimiert. Könnte man jetzt in einem zweiten kontinuierliche Überlieferungsprozess ist dabei Workshop-Loop sicher besser machen“, resü- sehr unterschiedlich und lässt teilweise deutli- miert Unternehmen C. Die Interviews bringen che methodische Mängel erkennen. So laufen eine Vielzahl von Best Practices hervor, die in z.B. nicht dokumentierte Erfahrungen wie bei Tabelle 4 zusammengetragen sind. Unternehmen E Gefahr, verloren zu gehen (bspw. durch Fluktuation, Beförderungen oder Das Übertragen auf zukünftige Projekte wird in Abteilungswechsel). Vielmehr sollten Erfah- den Unternehmen sehr unterschiedlich gere- rungen regelmäßig im Kollektiv reflektiert, in gelt. Unternehmen E dokumentiert keine Erfah- Best Practices überführt und bspw. in einer rungen, sondern verlässt sich ausschließlich auf Datenbank konserviert werden. mündlich vorgetragene Erfahrungsberichte von Mitarbeitern aus Unternehmen C ehemaligen dagegen Training von Mitarbeitern Projektteams. reflektiert und Drei von vier Befragten, die die Lead User- verschriftlicht alle Erfahrungen und leitet kon- Suche selbst durchgeführt haben, berichten von sequent Maßnahmen für zukünftige Lead User- großen bis sehr großen Problemen mit der Projekte ab. Auch Unternehmen A dokumen- Übertragbarkeit der Lead User-Definition auf tiert Erfahrungen durch eine Verbesserung der das eigene Projekt (B, C, D). „Also ich selber bin Standardvorlage, wird dabei aber eher ad hoc etwas skeptisch, was die reine Lead User- geleitet. Der Erfahrung von Unternehmen A Methode angeht, weil mir einfach die Definiti- zufolge, dessen branchenübergreifende Einbli- on an manchen Stellen nicht wirklich weiter- cke aus etwa 200 durchgeführten Lead User- hilft, um diese Leute auch wirklich zu finden. Projekten stammen, werden Innovationsprojek- [...] Die Frage ist, für was ist der jetzt Lead te insbesondere in großen Unternehmen oft nur User? Für diesen einen Becher [, den er in seiner wenige Male im Jahr in einem projektübergrei- Freizeit entwickelt hat, Anmerkung des Verfas- fenden Rahmen angesprochen. Dies führt zu sers]? Generell für alle Joghurtbecher? Generell einem schlechten Wissens- und Erfahrungs- für Verpackungen? Also wie weit kann ich ihn transfer. Unternehmen A plädiert deshalb auf nutzen?“ (B) In einem solchen Fall vereinfacht einen regelmäßigen Austausch (mindestens alle Unternehmen B die Lead User-Definition so- drei Monate). weit, dass schließlich kreativere Nutzer heran- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der gezogen werden, was nicht im Sinne der origi- Praxis gezielt versucht wird, Erfahrungen für nären Lead User-Methode ist (B). Ähnliche Best Practices Referenz Vor allem zu Beginn der Lead User-Identifikation kann es Phasen ohne Ergebnisse geben. Die Erfahrung zeigt, dass sich eine konsequente Fortsetzung ohne Anpassung der Rahmenbedingungen bezahlt macht. B Projektübergreifende Kommunikation hilft, Synergien zu erkennen und auszunutzen (bspw. Kontakte). A Absicherung der Lead User-Aussagen durch zusätzliche Informationsquellen wie z.B. Marktanalysen. D Im Fall einer externen Projektdurchführung sind bei kritischen Entscheidungen wie z.B. der Auswahl der Lead User der Projektauftraggeber miteinzubeziehen. B Personen mit langjähriger Branchenerfahrung können sich vor allem beim Vorantreiben von radikalen Innovationen wie bei der Lead User-Methode bedrängt fühlen und den Projekterfolg empfindlich beeinflussen. A Lösungsträger sind im Lead User-Workshop tendenziell hilfreicher als Bedürfnisträger. Eine Kombination aus beiden ist dennoch anzustreben. C Die optimale Lead User-Anzahl liegt bei etwa 10 - 15 Personen. A, C Vor allem aufgrund des Personalwechsels macht es Sinn, Erfahrungen regelmäßig zu verschriftlichen. C Es hat sich bewährt, Lead User zu mehreren Zeitpunkten im Innovationsprojekt einzubinden. D Tabelle 4: Sammlung von Best Practices eines Lead User-Projekts (eigene Darstellung) 16 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Aussagen macht Unternehmen C, das haupt- Workshopmoderator ein umfassendes Metho- sächlich die Schwierigkeit und den hohen Zeit- dentraining erhält. aufwand bemängelt, den es für die Übertra- Zusammengefasst wird eine gute methodische gung der Definition auf das eigene Projekt be- Ausbildung von der Industrie gesamtheitlich darf. Seitens des Projektmanagements ist daher als wichtig empfunden, wobei für die selbst- darauf zu achten, ausreichend Zeit für die ständige Projektierung möglichst viele Mitar- Übertragung einzuplanen. Des Weiteren ist es beiter trainiert sein sollten. Ein breites Ver- in diesem Kontext sinnvoll, die Projektteam- ständnis für die Lead User-Methode wirkt nicht mitglieder bestmöglich zu schulen, um die Ri- zuletzt auch der teilweise schlechten Metho- siken in Verbindungen mit der erfolgskriti- denakzeptanz entgegen („[Das, Anmerkung schen Festlegung von Lead User-Kriterien ab- des Verfassers] [h]ätten die Japaner schön zusichern. Trotz alledem erreicht das Instrumentarium des Projektmanagements längst erfunden.“, A). seine Diese Ergebnisse implizieren: Wenn Lead User- Grenzen. Eine Unterstützung seitens der Wis- Projekte oft durchgeführt werden, sollte es ei- senschaft (bspw. durch die Bereitstellung von nen zentralen Methodencoach im Unternehmen Leitfäden zur Ermittlung der Lead User- Krite- geben. Diese Rolle kann wie bei Unternehmen rien für das eigene Projekt) ist wünschenswert. D bspw. ein Innovationsmanager übernehmen. Vor allem bei der ersten Durchführung der Wenn die Lead User-Methode selten oder nur Lead User-Methode sind dem Beratungsunter- einmalig zur Anwendung kommt, liegt es nahe, nehmen B zufolge große Schwierigkeiten zu einen externen Partner, der sich auf die Metho- überwinden, was auf die Trainings der Mitar- de spezialisiert hat, für die Projektdurchfüh- beiter zurückzuführen ist. Nur zwei von vier rung zu beauftragen. Vor allem die Adoption Studienteilnehmer aus der Kategorie der pro- der Lead User-Definition auf das eigene Projekt duzierenden Unternehmen führen die Lead bereitet nicht nur den Erstanwendern große User-Methode intern durch und haben zu die- Probleme und bedarf sowohl eine gute metho- sem Zweck eigene Kapazitäten aufgebaut (C dische Ausbildung als auch viel Übung. und D). Unternehmen E und F dagegen haben die Projektierung an externe Dienstleister vergeben. Beide Gruppen empfinden die individu- 4 elle Herangehensweise als sinnvoll und wür- Modellableitung: Weiterentwicklung des Agil/Stage Gate-Hybrids den dies im nächsten Lead User-Projekt wie- Wie gezeigt, benötigt die Lead User-Methode derholen. Als Grund für die externe Vergabe einen Rahmen, der es ermöglicht, Disziplin und gibt Unternehmen F an, sich die Projektierung Freiheit in Einklang zu bringen. Abgeleitet aus nicht zuzutrauen und keine nötigen Kapazitä- sieben industriellen Produktentwicklungspro- ten freigeben zu wollen, die folglich nicht für jekten schlagen Sommer et al. (2015, S. 42 f.) die Kernkompetenz eingesetzt werden können. einen Hybrid aus Scrum und Stage Gate vor. Unternehmen A, C und D sind der Meinung, Dieser Hybrid bildet den kompletten Innova- dass sich möglichst viele im Projektteam um- tionsprozess von Produkten in produzierenden fassend mit der Lead User-Methode auskennen Unternehmen ab - von der Ideengenerierung sollten, damit ein allgemeines Verständnis für bis hin zur Kommerzialisierung (vgl. ebd., S. 34, den Sinn und Zweck der Aufgabenerledigung 36, 42 f.). Er steht in keinem Zusammenhang existiert. So steigen auch die Motivation und mit der Lead User-Methode und verkörpert die Identifikation mit dem Projekt (C). Für Un- einen allgemeinen Produktentwicklungspro- ternehmen E, das die Projektierung nicht selbst zess (vgl. ebd., S. 34, 36, 42 f.). durchgeführt hat, ist es ausreichend, wenn der 17 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Da das Modell vor dem Hintergrund der Inter- nagementebenen (ebd., S. 42): strategische, tak- viewergebnisse auch für die Lead User-Projekte tische und operative (vgl. Abbildung 4). vielversprechende Eigenschaften aufweist (z.B. Auf der strategischen Ebene, auf der Entschei- anpassungsfähig aber strukturgebend, leicht dungen in Bezug auf das Produktportfolio des verständlich und lean aber effizient und effek- Unternehmens getroffen werden, gibt das Top tiv), dient es als Grundlage für die Theoriebil- Management als Projektauftraggeber die Rah- dung. Um den Ansatz des Hybrids für die Lead menbedingungen (inhaltlich, zeitlich und mo- User-Methode kompatibel zu machen, sind netär) vor. Das Top Management fungiert zu- einige Anpassungen notwendig. Dazu erklärt dem als Gate Keeper, da es zwischen den Sta- nachfolgender Abschnitt zunächst die Beson- ges den Fortgang oder Abbruch des Projekts derheiten des Hybrids nach Sommer et al. diktiert. Innerhalb der Stages wird das Projekt (ebd.), bevor es anschließender Abschnitt mit auf taktischer und operativer Ebene vorange- Hilfe der Ergebnisse der Fallstudienanalyse auf trieben. Auf taktischer Ebene koordinieren die spezifischen Anforderungen der Lead User- Team- und Abteilungsleiter Ressourcen und Methode adaptiert. Informationen über die aktuellen Projekte hin- Agil/Stage Gate-Hybrid nach Sommer et al. weg. Diese Koordination geschieht in regelmä- (2015) ßigen Meetings während der Stages. Auf operativer Ebene arbeitet das Projektteam, das die Mit dem Ziel der Performanceverbesserung Lieferung der Projektergebnisse verantwortet, von Produktentwicklungsprojekten verbinden mit Hilfe des agilen Projektmanagementmo- Sommer et al. (ebd., S. 42 f.) den verbreiteten dells Scrum (ebd., S. 42 f.). Stage Gate-Prozess mit Scrum. Industrielle Fallstudien zeigen, dass die Kombination in der Der Prozess folgt, wie in Abbildung 4 skizziert, Praxis bereits angewendet wird und signifikan- einem übergeordneten Stage Gate-Prozess mit te (vgl. den üblichen fünf Phasen und beliebig vielen ebd., S. 43). Der Hybrid unterscheidet drei Ma- Scrum Iterationen, die in die Stages eingebettet Performanceverbesserungen erzielt Abbildung 4: Agil/Stage Gate-Hybrid nach Sommer et al. (2015, S. 42) 18 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt sind. Als Schnittstelle zwischen Stage Gate und Workshoptauglichkeit („Ist ein konstruktives Scrum fungieren die Gates, in denen die strate- Arbeiten mit dieser Person im Lead User- gische, taktische und operative Ebenen aufei- Workshop möglich?“). In der Ergebnisvalidie- nandertreffen. In den Gates entscheidet sich der rung wird das Workshopergebnis (meist ein Fortgang oder der Abbruch des Projekts. Som- Konzept) durch situationsadäquate Instrumen- mer et al. (2015) integrieren des Weiteren eine te (z.B. Marktanalyse) geprüft, sodass sicher Machbarkeitsprüfung, die einen Schnelldurch- davon ausgegangen werden kann, dass die lauf des gesamten Innovationsprozesses dar- Meinung der Workshopteilnehmer den Ziel- stellt und die entwickelte Idee der ersten Stage markt repräsentiert. Die Modellentwicklung in hinsichtlich der Realisierbarkeit evaluiert (ebd., diesem Abschnitt legt aus diesem Grund einen S. 42 f.). Untypisch für Scrum schlagen Sommer fünfphasigen Lead User-Prozess zugrunde (vgl. et al. (ebd.) einen dedizierten Projektmanager Abbildung 5). Wegen der engen inhaltlichen vor. Dessen Aufgaben reichen von der Kom- Zugehörigkeit munikation zwischen den Stakeholdern über Überprüfung der Phase der Lead User-Suche die Informationsbeschaffung bis hin zur Orga- zugewiesen. Die Ergebnisvalidierung dagegen nisation adäquater Ressourcen, womit der Pro- erweitert den Prozess um eine fünfte Phase, da jektmanager ein Scrum Master mit erweiterter der Arbeitsinhalt je nach Validierungsmethode Verantwortung ist. Dieser entscheidet jedoch sehr umfangreich sein kann. nicht, wie bei PMBoK üblich, über den genauen ist die Lead Userness- In Anlehnung an das Stage Gate-Modell Arbeitsinhalt, verteilt innerhalb des Projekt- schließt eine Phase des Lead User-Prozesses, teams keine Aufgaben und trifft keine operati- die Stages entsprechen, mit einem Gate ab. In ven Entscheidungen, sodass das Prinzip der den Gates kommen alle Stakeholder zu einem Selbstorganisation und -steuerung des Projekt- Gate Review Meeting zusammen. Das Projekt- teams unangetastet bleibt. Der Bereichsleiter, team präsentiert die aktuellen Projektergebnis- der die Stimme des Kunden repräsentiert, se, sodass über den Projektfortgang entschieden übernimmt zusammen mit dem Projektmana- werden kann. Der Gate Keeper gibt bei einer ger die Scrum Rolle des Produktinhabers, wo- positiven Entscheidung die nächste Phase frei. bei Sommer et al. (ebd.) nicht auf die Abgren- Bei einer negativen Entscheidung sind Nachar- zung der Kompetenzen eingehen (ebd., S. 43). beiten zu erledigen (bedingter Fortgang) oder Agil/Stage Gate-Hybrid am Beispiel der Lead das Projekt wird als unter- oder abgebrochen User-Methode erklärt. Im letzten Fall sorgt der Gate Keeper so dafür, dass die im Lead User-Projekt gebunde- Geleitet von Erfahrungen hat die Industrie den nen Kapazitäten für andere Vorhaben frei wer- originären Lead User-Methodenprozess, wie in den, da bspw. andere Projekte wichtiger ge- der Fallstudienanalyse erläutert, weiterentwi- worden sind. Die strategische und taktische ckelt. Vor allem die Überprüfung der Lead Ebene aus dem Modell nach Sommer et al. Userness und die Ergebnisvalidierung haben (2015) sind so in den Gate Review Meetings sich in der Praxis als zweckmäßig erwiesen. Bei vereint. Im Rahmen eines Lead User-Projekts, der Lead Userness-Überprüfung lässt sich das das im Vergleich zum Entwicklungsprojekt Projektteam idealerweise bei Hausbesuchen kurz und weniger komplex ist, kann auf eine erste Ideen skizzieren und kontrolliert dabei Trennung verzichtet werden. Die operative sowohl das Vorhandensein von Bedarfs- und Ebene findet sich analog zum Modell nach Lösungsinformationen („Ist die Person tatsäch- Sommer et al. (ebd.) im agilen Projektmanage- lich ein Lead User für den spezifischen Bedarfs- ment wieder. trend? Und liefert sie Lösungen?“) als auch die 19 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Abbildung 5: Lead User-Prozess im Agil/Stage Gate-Hybrid (eigene Darstellung) Jede Stage besteht aus diversen Sprints, in de- gradig unsicheren Umgebung wie dem Fuzzy nen im gleichmäßigen Takt die Projektergebnis- Front End. se erarbeitet werden. Dieser Takt beträgt in den Das Entwicklungsteam trifft sich mit dem Stages 2 bis 5 zwei Wochen. Innerhalb der Stage Scrum Master jeden Tag zur gleichen Uhrzeit 1, der Projektdefinition, dauern die Sprints am gleichen Ort zum Scrum Meeting, um in wegen einem höheren Abstimmungsbedarfs maximal 15 Minuten den aktuellen Projekt- eine Woche. Im Vergleich zu den anderen Sta- stand abzugleichen. Auf der Agenda steht die ges bedarf es häufigerer Rückmeldung des Auf- Aufgabenverteilung innerhalb des Entwick- traggebers. Z.B. ist in dieser Stage das Projekt- lungsteams und nicht die Lösungsfindung von ziel zu formulieren, das Innovationsfeld festzu- fachlichen Problemen. Letzteres ist in anschlie- legen und ein grober Zeitplan zu erstellen. ßenden Meetings mit Teilgruppen des Teams Der Zeitplan aus Stage 1 dient primär der Ter- zu klären, sodass die Mitarbeiter, die von den minierung von Gates, sodass die Stakeholder Problemen nicht betroffen sind, nicht unnötig frühzeitig eingeladen werden können. Die ope- aufgehalten werden. In den Sprints erarbeitet rative Planung der Sprints („Wann führt wer das Projektteam die Forderungen des Auftrag- welche Aufgabe bis wann aus?“) bleibt davon gebers, die im Projekt Backlog 1 gesammelt unberührt und das Privileg des Projektteams. werden. Iterativ treibt so das Team das Projekt Auf operativer Ebene erfolgt die Planung ge- in inkrementellen Schritten voran (vgl. Abbil- mäß dem agilen Projektmanagement zu Beginn dung 5). In den Sprint Reviews werden die jedes Sprints und fällt damit in die Kategorie Teilergebnisse dem Projektinhaber 2 präsentiert der rollenden Planung. Für die Dauer der und vom Selbigen als erledigt markiert. Dabei Sprints herrschen statische Bedingungen. Än- stehen vorzeigbare bzw. realisierte Teilergeb- derungswünsche seitens des Projektauftragge- nisse im Vordergrund. Absichtserklärungen bers oder des Projektteams werden alle ein Anstelle von „Produkt Backlog“ verwendet das Modell den Begriff „Projekt Backlog“, um Dienstleistungen einzuschließen und Missverständnissen vorzubeugen. bzw. zwei Wochen im Sprint Review Meeting 1 berücksichtigt. Dies generiert Planungssicherheit und erhöht die Produktivität in einer hoch- Anstelle von „Produktinhaber“ verwendet das Modell den Begriff „Projektinhaber“, um Dienstleistungen einzuschließen und Missverständnissen vorzubeugen. 2 20 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt und Dokumentationen über Erledigtes, wozu Konzepte von Teammitgliedern des Entwick- PMBoK tendiert, sind uninteressant. Ein reali- lungsprojekts kann bei Missachtung die Folge siertes Teilergebnis ist bspw. ein Kurzportrait sein. eines potentiellen Lead Users oder ein Prototyp, management, das ebenfalls in den Sprint Pla- den ein Lead User bereits gebaut hat. Von einer nungsmeetings integriert wird, ist daher unab- Dokumentation über das, was das Team dafür dingbar. Dazu sind zunächst alle Stakeholder getan hat, um den Lead User zu finden, ist nach zu identifizieren und mindestens hinsichtlich den agilen Prinzipien abzusehen. der Erwartungen und der Einflüsse auf einer Ein professionelles Stakeholder- Skala zwischen Null und Zehn zu bewerten Aufgrund des Potentials, fundamental neuarti- (vgl. Andersen et al. 2009, S. 44 f.). Auch hier ge Produkte bzw. Dienstleistungen hervorzu- indizieren die höchsten Produkte der Kriterien bringen und damit womöglich bestehende zu die einflussreichsten Projektstakeholder, auf kannibalisieren, kommt für das Unternehmen dessen Erwartungserfüllung mit entsprechen- dem Lead User-Projekt stets eine sehr hohe den Strategien eingegangen werden sollte. strategische Bedeutung zu. Innerhalb von wenigen Monaten generiert ein Lead User-Projekt Aufgrund der Anfälligkeit gegenüber dem Not Ergebnisse, die den Unternehmenserfolg für Invented Here-Syndrom und der hohen strate- viele Jahre beeinflussen können. Das Top Ma- gischen Bedeutung des Projekts ist es im Sinne nagement sollte daher intrinsisch motiviert sein, des Stakeholdermanagements zweckmäßig, das am Lead User-Projekt teilzuhaben. Das Modell Promotorenmodell nach Witte (1973, S. 14 - 22) sieht vor, das Top Management in den Gates, zu integrieren. Es wirkt Innovationshemmnis- den kritischen Zeitpunkten, zu integrieren. So sen des Nicht-Wollens, Nicht-Könnens und wird nicht nur die Konsistenz mit der Unter- Nicht-Dürfens entgegen und fördert durch nehmensstrategie gefördert, sondern auch ge- engagierte währleistet, dass die Ergebnisse des Lead User- Machtquellen (hierarchische Stellung, fachliche Projekts nicht in Vergessenheit geraten. Die Expertise, persönliche Beziehungen) zurück- Risiken in einem Lead User-Projekt sind um- greifen, das gezielte Vorantreiben des Projekts fangreich und vielschichtig, weshalb es einer (vgl. Hauschildt, Salomo 2011, S. 122 - 126). professionellen Handhabung bedarf. Sinnvoll Untenstehende Rollenauflistung geht detaillier- ist daher ein mitlaufendes Risikomanagement, ter auf die Promotorenrollen ein. welches das Projektteam mit jedem Sprint Pla- Mitarbeiter, die auf besondere Das Projektteam aus drei bis sechs Personen nungsmeeting aktualisiert. Potentielle Risiken (vgl. Wagner, Piller 2011, S. 11) sollte für die sollte das Projektteam sammeln und hinsicht- komplette Projektdauer zusammenarbeiten und lich der Eintrittswahrscheinlichkeit, der Aus- sich multidisziplinär zusammensetzen. Emp- wirkungen und dem Erkennungszeitpunkt auf fehlenswert ist die Abdeckung der Kompetenz- einer Skala zwischen Null und Zehn bewerten bereiche Ingenieurwesen, F&E, Marketing und (vgl. Carbone, Tippett 2004, S. 31 f.). Die Multi- Vertrieb, wobei zusätzliche Bereiche von den plikation dieser drei Dimensionen ermöglicht Projektrahmenbedingungen es, die gravierendsten Risiken (höchstes Pro- abhängen. Die Teammitglieder sollten mit den Lead Usern dukt) zu identifizieren und adäquate Maßnah- fachlich ebenbürtig kommunizieren können, men zur Vermeidung einzuleiten. um zum einen die „richtigen“ Lead User ausviele zuwählen und zum anderen bereits vor dem Stakeholder (intern und extern bis zu 30 Perso- Workshop erste Ideen zu sammeln. Von einer nen) Erwartungen, die es bestmöglich zu erfül- bspw. phasenabhängigen Änderung der Team- len gilt. Innovationshemmnisse wie z.B. das besetzung ist unbedingt abzuraten, da sie den An ein Lead User-Projekt erheben bewusste oder unbewusste Boykottieren der 21 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Wissensfluss über den Lead User- Prozess hin- Methodencoach weg negativ beeinflusst. Der Methodencoach Lead User-Methode ver- Im Kontext der Lead User-Methode existieren fügt über fundiertes Wissen und ausgiebige im Agil/Stage Gate-Hybrid verschiedene Pro- Übung in Bezug auf die Lead User-Methode jektrollen, die es wegen der hohen strategischen und steht dem Projektteam methodisch zur Bedeutung des Projekts mit Sorgfalt zu beset- Seite. Er verantwortet die methodische Konsis- zen gilt. tenz des Lead User-Prozesses. Diese Rolle kann auch von externen Unternehmensberatungen Projektauftraggeber übernommen werden. Der Projektauftraggeber, meist ein Mitarbeiter Gate Keeper aus dem Top Management (z.B. Leiter der Technik), möchte radikal neuartige Lösungsan- Als Gate Keeper kommen prinzipiell nur Top sätze in einem bestimmten Innovationsfeld Manager (z.B. Leiter Technik) in Frage, da diese generieren. Dieser gibt dem Projektinhaber den Rolle einer entsprechenden Entscheidungs- Projektierungsauftrag und verantwortet die kompetenz bedarf. Es ist das Bindeglied zwi- Einbettung des Projekts in die Unternehmens- schen strategischer und operativer Ebene. strategie. Machtpromoter Projektinhaber Der Machtpromotor (meist Top Manager, z.B. Der Projektinhaber, ein Mitarbeiter aus dem Leiter Technik) nutzt seine hierarchische Stel- Middle Management (z.B. Produktmanager), lung zu Gunsten des Projekts, indem er bspw. verantwortet die Effektivität des Projekts, gibt über die Ressourcenzuteilung entscheidet. Er ist dem Entwicklungsteam das Projekt Backlog vor durch die Erhaltung und Verbesserung der und entscheidet im Sprint Review über die Wettbewerbsfähigkeit Freigabe von Teilergebnissen. Hauschildt, Salomo 2011, S. 126). Es sollte min- motiviert (vgl. destens einen Machtpromotor im Lead User- Entwicklungsteam Projekt geben. Im Entwicklungsteam herrschen keine Hier- Fachpromoter archieunterschiede. Alle Teammitglieder sind gleichgestellt und verantworten die effiziente Fachpromotoren (z.B. Ingenieure) kennzeich- Durchführung des Projekts. Es arbeitet nach nen sich durch besonders fundiertes Fachwis- den - sen, die den Barrieren des Nicht-Könnens ent- steuerung und -disziplin. Das Team selektiert gegenwirken (vgl. ebd., S. 126). Sie sind Exper- selbst, welche Teilergebnisse in welchem Sprint ten auf dem Innovationsgebiet und stellen dem erledigt werden und schwört sich gemeinsam Projekt ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zur darauf ein, das gesetzte Sprintziel (Sprint Verfügung. Es sollten mindestens zwei Fach- Backlog) zu erreichen. promotoren im Lead User-Projekt existieren. Scrum Master Prozesspromoter Der Scrum Master verantwortet die methodi- Prozesspromotoren (z.B. langjährige Mitarbei- sche Konsistenz des agilen Projektmanage- ter) nutzen ihre besonders gut ausgeprägten ments. Er leitet die Meetings und sorgt sich um persönlichen Beziehungen zu Gunsten des Pro- die Einhaltung der Regeln. Daher sollte diese jekts und kümmern sich um die reibungslose Rolle hinsichtlich der Projektmanagementin- Kommunikation zwischen den Stakeholdern. strumente sehr gut ausgebildet und erfahren Es sollten mindestens zwei Prozesspromotoren sein. im Lead User-Projekt teilnehmen. Prinzipien der Selbstorganisation, 22 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Eine Person kann mehrere Rollen verkörpern. heft übersetzt wird. Das Lasten- und Pflichten- Bspw. macht es Sinn, den internen Methoden- heft dient in Gate 5 schließlich als Entschei- coach für die Lead User-Methode auch als dungsgrundlage für die Initialisierung eines Scrum Master und - ein gutes persönliches Entwicklungsprojektes. Netzwerk im Unternehmen vorausgesetzt - als Nicht zuletzt sollten im Sinne der projektüber- Prozesspromotor einzusetzen. Ebenfalls ist es naheliegend, dass der greifenden Qualitätssicherung im anschließen- Projektauftraggeber den Entwicklungsprojekt die Lead User regel- gleichzeitig die Rolle des Projektinhabers und mäßig eingebunden sein. Dieser kontinuierliche des Gate Keepers einnimmt. Die Rollenvertei- Relevanztest gewährleistet zum einen, dass die lung bleibt jedoch stark von den spezifischen impliziten Wünsche richtig verstanden wurden, Gegebenheiten im Unternehmen abhängig. Für und zum anderen, dass die Ergebnisse des Lead den Workshop stoßen weitere Unternehmens- User-Workshop tatsächlich umgesetzt werden. mitarbeiter hinzu, sodass insgesamt das Ver- Unzufriedene Lead User im Entwicklungspro- hältnis zwischen Lead Usern und internen Mit- jekt deuten schließlich im Sinne eines KPI‘s auf arbeitern im Workshop etwa 0,5 bis 0,7 beträgt einen Misserfolg im Entwicklungsprojekt hin. (vgl. Wagner, Piller 2011, S. 18). Zur Vorbeu- Die Online-Befragung validiert schließlich die gung des Not Invented Here-Syndroms werden richtige Interpretation der Interviews. Außer- idealerweise die Unternehmensmitarbeiter im dem bestätigt sie die Praxistauglichkeit des Workshop integriert, die im Anschluss das Modells. Vor allem die Agilität, die regelmäßi- Entwicklungsprojekt verantworten oder zu- ge Einbindung des Top Managements und die mindest daran beteiligt sind. In der Sprint Ret- Selbstorganisation stechen bei den Experten als rospektive reflektiert das Projektteam im Kol- besonders positiv hervor. Aufgrund der gerin- lektiv den abgeschlossenen Sprint durch zwei gen Stichprobe (n=11) versteht sich dieser Test Fragen: Was lief besonders gut/schlecht? Was der Praxistauglichkeit als erstes Indiz und be- soll im nächsten Sprint genauso/anders ge- darf einer belastbareren Untersuchung. macht werden? Die Antworten implizieren Best Practices, die das Team idealerweise in einer unternehmensweiten Datenbank konservieren. 5 Da jeder Sprint mit einer Retrospektive ab- Diskussion Die Untersuchungsergebnisse und insbesonde- schließt, tauscht das Team Erfahrungen in kur- re der entwickelte Agil/Stage Gate-Hybrid für zen Abständen aus und lernt kontinuierlich. ein Lead User-Projekt bieten unmittelbare Im- Ein Teammitglied kann so unmittelbar im plikationen für die Wissenschaft und Praxis. nächsten Sprint von Erfahrungen eines anderen Nachfolgend werden diese aus einem kriti- Teammitglieds profitieren, sodass die Effizienz schen Blickwinkel hinterfragt und in den bishe- und Effektivität steigt. Die unternehmensweite rigen Forschungsstand eingeordnet. Bereitstellung gewährleistet ein projektübergreifendes Lernen. Implikationen für die Wissenschaft Hinsichtlich des projektübergreifenden Wis- Aus Sicht der Wissenschaft ist die Idee, agiles sensflusses zeigt die Fallstudienanalyse, dass Projektmanagement und Stage Gate miteinan- sich Lasten- und Pflichtenhefte in der Praxis der zu verbinden, nicht neu (vgl. Cooper 2014, bewährt haben. Das Modell sieht deshalb vor, S. 21). Bspw. schlagen Link (2014, S. 84 - 89) als Abschluss der Ergebnisvalidierung in Stage und Sommer et al. (2015) zwei Modelle vor, die 5 ein Lastenheft (bedarfsorientiert) zu erstellen, sich jedoch auf das ebenfalls in Stage 5 in die firmeninterne tionsprozess - von der Idee bis zur Kommerzia- Sprache (technologieorientiert) in ein Pflichten- lisierung - beziehen. Neuartig ist im vorliegen23 den kompletten Innova- Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt Implikationen für die Praxis den Arbeitspapier allerdings die Anwendung auf den Lead User-Prozess und die Adaption Für die Praxis bietet das entwickelte Modell ein auf die besonderen Rahmenbedingungen im mächtiges Werkzeug für die Organisation und Fuzzy Front End. Die bewusste Verbindung Durchführung der Lead User-Methode. Da der von Projektmanagement und der Lead User- Einsatz der Methode mit einem sehr großen Methode ist bisher eine Lücke in der Literatur Arbeits- und Koordinationsaufwand einhergeht und besitzt eine sehr hohe Praxisrelevanz. Die und viele Risiken involviert sind, macht es Untersuchung leistet somit einen Beitrag in der Sinn, die Methode in einem Projektformat ab- relativ jungen Forschung zur Integration von zuwickeln. Auch wenn PMBoK den derzeitigen Innovations- und Projektmanagement (vgl. Industriestandard darstellt, ist diese Herange- Brady, Söderlund 2008, S. 465). Sie bedient die hensweise im Lead User-Kontext ungeeignet. „Forderung nach mehr anwendbaren, relevan- Agiles Projektmanagement schafft dagegen ten und integrierten Theorien“ (Greer, Lei 2012, eine Beherrschbarkeit über Unsicherheiten und S. 65) und versucht, die Schere zwischen Theo- Chaoszustände, wie sie im Fuzzy Front End rie und Praxis zu schließen (vgl. Tzeng 2009, S. typisch sind. 388; Bogers et al. 2010, S. 866; Gianiodis et al. Da agile Methoden jedoch im Branchendurch- 2010, S. 532). schnitt wenig verbreitet sind, dürfte bei der Neu ist auch die Sichtweise auf die Lead User- Modelleinführung in die Praxis mit relativ gro- Methode. Während viele Arbeiten wie bspw. ßen Ängsten und Zweifeln sowie einer Routine- Wagner und Piller (2011) und Churchill et al. trägheit zu rechnen sein. Stabil-flexible Prozess- (2009) die Lead User-Methode vom Innova- standards funktionieren nur dann, wenn Vor- tionsprozess losgelöst als Vorgehensbeschrei- gesetzte den Mitarbeitern Handlungsspielräu- bung betrachten, geht die vorliegende Untersu- me einräumen. Sie wirken kreativitätsfördernd, chung von einem Lead User-Projekt aus und benötigen aber großes Vertrauen, denn Vorge- beschäftigt sich mit der Einbettung in den In- setzte verlieren ein gewisses Maß an Prozess- novationsprozess (z.B. projektübergreifender kontrolle und Mitarbeiter werden transparenter Wissensfluss). Daneben legt sie den Fokus auf (vgl. Kullmann 2013, S. 32 f.; Bahlow 2013, S. 48 die Umsetzung der Methode in der Praxis, an- f.). Grundsätzlich ist deshalb zu klären, ob die- statt wie ein Großteil der Untersuchungen (vgl. ses Vertrauen existiert oder aufgebaut werden z.B. Hippel 1994) die zugrundeliegenden Phä- kann (vgl. Bahlow 2013, S. 48). Statistisch gese- nomene zu hinterfragen (vgl. Greer, Lei 2012, S. hen führt agiles Projektmanagement allerdings 65). häufiger zum Projekterfolg als der traditionelle Nichtsdestotrotz stoßen die Instrumente des Ansatz (vgl. PMI 2015, S. 16 f.), womit die Mo- professionellen Projektmanagements bei inhalt- tivation zur Einführung eines vertrauensbasier- lichen Fragen (z.B. effizientere Suchmethodiken ten Führungsstils steigen dürfte. und ideale Validierungsverfahren der In der Untersuchung wird deutlich, wie stark Workshopergebnisse) an ihre Grenzen. Die der Projekterfolg vom Faktor Mensch abhängt. Untersuchung zeigt, dass ungenutzte Potentiale Sie generieren die Ideen, tragen die Erfahrun- auch in diesen Bereichen vorliegen. Projektma- gen und das Wissen in sich und schaffen nagement kann an dieser Stelle zwar grund- schließlich die Innovationsfähigkeit des Unter- sätzliche Leitgedanken liefern (z.B. Beenden der nehmens. Deshalb sollte ein innovatives Unter- Suche, wenn ex ante definiertes Ziel erreicht - nehmen diese Kapazität zu schätzen wissen. und nicht, wenn eingeplante Zeit abgelaufen), Dies wird auch durch Hinterhuber (2012, S. 64 das inhaltliche Problem an sich jedoch nicht f.) bestätigt, der den Faktor Mensch nach einer lösen. Dafür wurde es nicht konzipiert. exzellenten Führung (Projektmanagement) und 24 Working Paper Nr. 90 Tobias S. Schmidt, Jens Lehnen, Cornelius Herstatt einer guten Strategie (Innovationsmanagement) explorative und weniger deskriptive Erkennt- im Innovationsvorhaben als drittwichtigste nisse, sodass diese Faktoren im Hinblick auf die Schlüsselgröße des Projekterfolgs einstuft. Forschungsfrage eine untergeordnete Rolle spielen. Eine Fehlinterpretation der qualitativen 6 Daten in der Fallstudienanalyse kann durch die Fazit Validierung der Die eingangs gestellte Forschungsfrage, ob Pro- ausgeschlossen werden. hemmnissen im Lead User-Kontext helfen Zukünftige Forschung sollte sich auf der einen kann, lässt sich anhand der Fallstudienanalyse Seite mit der detaillierteren Auflösung der Po- bejahen. Das entwickelte Modell als Hybrid aus tentiale (deskriptiv und kausal) beschäftigen. Scrum und Stage Gate liefert dazu eine Mög- Auf der anderen Seite sind sowohl weitere lichkeit, dies in der Praxis zu bewerkstelligen. Problemfelder als auch andere Lösungsmög- Somit ist auch die zweite Forschungsfrage, wie lichkeiten vorstellbar, die die Potentiale anders genau die Leistungsfähigkeit des Innovations- als das entwickelte Modell ausschöpfen. Denk- prozesses mit eingebetteter Lead User-Methode bar ist z.B. im Hinblick auf die Strukturierung verbessert werden kann, exemplarisch beantDie Expertenbewertung mittels quantitativer Expertenbefragung weitestgehend jektmanagement beim Abbau von Innovations- wortet. Haupterkenntnisse des Innovationsprojektes eine Scrum of Scrum- bestätigt Lösung (vgl. Link 2014, S. 79). Auch engere schließlich die Praxistauglichkeit des Modells Verknüpfungen zum Lean Innovation- (vgl. und verifiziert die Erkenntnisse der Fallstudi- Schuh et al. 2009) und zum Design Thinking- enanalyse. Ansatz (vgl. Link 2014, S. 88) bieten zusätzliche Der Hybrid als Hauptergebnis der Arbeit Verbesserungsmöglichkeiten schafft Reproduzierbarkeit und Steuerbarkeit für den Lead User-Prozess und dessen Einbettung in den im Lead User-Prozess und gewährt kreativitäts- Innovationsprozess. Eine detaillierte, umfang- fördernde Handlungsspielräume. Er versteht reiche Analyse der praktischen Umsetzung des sich als stabil-flexibler Prozessstandard und Lead User-Ansatzes ist ebenfalls hilfreich, um generiert eine Symbiose aus Disziplin und Frei- den Ansatz auf Basis praktischer Erfahrungen heit. Stage Gate und agiles Projektmanagement evaluieren und weiterentwickeln zu können. schließen sich nicht aus, sondern lassen sich gut kombinieren. Vor allem im unsicheren und chaotischen Fuzzy Front End, in dem die Lead 7 User-Methode angewendet wird, bietet der Andersen, Erling, Kristoffer Grude und Tor Haug (2009): Goal Directed Project Management: Effective Techniques and Strategies. 4. Aufl. London, Philadelphia: Kogan Page. Hybrid unter anderem Struktur, einen verbesserten Wissensfluss und eine hohe Leistungsfä- Literaturangaben Bahlow, Jörg (2013): „Sieben Prozessweisheiten in der Einführung“. In: Agiles Projektmanagement in der Praxis der Produktentwicklung. Hrsg. von Bullinger, Angelika. Chemnitz: aw&I Wissenschaft und Praxis Technische Universität Chemnitz. Kap. 9, S. 46–49. higkeit. Limitiert wird die Aussagekraft des vorliegenden Arbeitspapiers zum einen durch die mögli- Bahlow, Jörg, Martin Helfer, Gerhard Kullmann und Jörg Longmuß (2013): „Scrum als Methode für agiles Projektmanagement“. In: Agiles Projektmanagement in der Praxis der Produktentwicklung. Hrsg. von Bullinger, Angelika. Chemnitz: aw&I Wissenschaft und Praxis Technische Universität Chemnitz. Kap. 4, S. 11–19. cherweise unvollständige Problemliste. Zum anderen führt die Halbstandardisierung des Frageleitbogens zu einer schwierigen Vergleichbarkeit. Überdies indiziert die empirische Bogers, Marcel, Allan Afuah und Bettina Bastian (2010): „Users as Innovators: A Review, Critique, and Future Research Directions“. In: Journal of Management 36 (4), S. 857–875. 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