Dr. med. Dünnbrettbohrer - Medizinische Hochschule Hannover

BLICK IN DIE ZEIT
NR. 227 | DIENSTAG, 29. SEPTEMBER 2015
HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG |
3
„Weissensee“ bringt die Wende
Das DDR-Epos geht in die dritte Staffel – und verhilft deutschen Serien zum internationalen Durchbruch
Von Jan Sternberg
V
ielleicht werden sie sich wundern darüber in Cannes. Nächste Woche wird die Filmproduzentin Regina Ziegler auf der
Fernsehmesse Mipcom dort die dritte
Staffel der DDR-Serie „Weissensee“ den
internationalen Einkäufern präsentieren.
Passend zum Jubiläum der deutschen
Einheit. Der große Jubeltag der Deutschen, der 9. November 1989, wird da
aber ganz anders erzählt als gewohnt.
Leise, ohne jeder Euphorie.
Die Nacht, in der „Wahnsinn!“ zum
geflügelten Wort wurde, verbringt Serienheld Martin Kupfer (Florian Lukas)
auf der Bornholmer Brücke, zweifelnd,
zögernd, während um ihn herum die
Massen westwärts fluten. Die anderen
Männer der Kupfer-Familie, Vater Hans
(Uwe Kockisch) und Bruder Falk (Jörg
Hartmann), schwitzen in ihre Stasi-Uniformen. Im düsteren Lagezentrum stehen sie wie Militärs, deren letzte
Schlacht verloren ist. Tonlos wird verkündet: „Heinrich-Heine-Straße: offen;
Invalidenstraße: offen.“
Ziegler aber ist sich sicher: „,Weissensee‘ wird zum großen Thema in
Cannes.“ Die ersten beiden Staffeln der
Saga um die Stasi-Familie Kupfer wurden in 28 Länder verkauft, Ziegler
schwärmt heute noch vom „Weissensee“-Event im Museum of Modern Art in
New York. Die dritte Staffel, die an diesem Dienstag, Mittwoch und Donnerstag in Doppelfolgen in der ARD läuft,
soll an diesen Erfolg anknüpfen. „,Weissensee‘ ist für mich das Beispiel, dass
Qualität und Quote keine Gegensätze
sein müssen“, lobt Ziegler ihr eigenes
Produkt.
Der Wendewinter aus Sicht einer Familie der DDR-Elite und ihres abtrünnigen Sohnes – ein internationaler Erfolg
der dritten Staffel von „Weissensee“
könnte auch international der Beweis dafür sein, dass es inzwischen konkurrenzfähige deutsche Fernsehserien gibt. Allzu
lange fragten sich Serienjunkies und
Fernsehkritiker ein ums andere Mal: Warum können die Deutschen nicht so etwas
wie „The Wire“, „Breaking Bad“, „Borgen“, „Lilyhammer“, „House of Cards“,
„Homeland“, „Orange Is the New Black“
– all diese hochgelobten amerikanischen
und skandinavischen Formate, für die der
englische Begriff „binge watching“ erfunden wurde, die Völlerei am Fernsehschirm, drei, vier, sechs Folgen hintereinander in einer Nacht?
Mit „Weissensee“ hat die ARD nun
die öffentlich-rechtliche Völlerei erfunden: Zwei Folgen an einem Abend, drei
Tage hintereinander, so wird die WendeStaffel in den Markt gedrückt. Produzentin Ziegler ist nicht uneingeschränkt
froh über das Experiment: „Es ist nicht
sicher, dass es funktioniert. Wir hatten
großen Erfolg auf dem Dienstagssendeplatz mit den ersten beiden Staffeln.“ An
einer guten Quote hängt unter anderem
die Entscheidung, ob die ARD eine vierte Staffel finanziert, auf die alle im Team
schon brennen.
Die aktuelle Staffel endet am 15. Januar 1990, mit dem Sturm auf die StasiZentrale in Ost-Berlin. Der smarte Karrierist Falk hat da seine Schäfchen schon
ins Trockene gebracht. Er kennt schon
wieder die richtigen Leute und er weiß,
dass Überzeugungen nichts mehr wert
sind. „Ich habe nie etwas anderes gelernt, als zu kämpfen“, sagt er. „Also
kämpfe ich.“ Martin hingegen erlebt seine private Vereinigung schon in der
Nacht des Mauerfalls, auf dem Futon der
Journalistin Katja Wiese (Lisa Wagner)
in einem vollgerümpelten Kreuzberger
Dachgeschoss. Mit ihr kommt eine
Hauptperson mit West-Hintergrund in
„Weissensee“ an, und zum Glück wird
diese tastende, misstrauische Ost-WestLiebe nur ganz selten mit hölzernen Dia-
Die etwas andere Geschichte: Zögernd steht „Weissensee“-Held Martin Kupfer alias Florian Lukas in der Nacht des 9. November 1989 inmitten jubelnder Menschen auf der Bornholmer Brücke.
Auf Deutsch gedreht: Tom Tykwer verfilmt
„Babylon Berlin“.
Zuerst in den USA zu sehen: RTLs Serie
„Deutschland 83“.
logen wie diesem überfrachtet: „Wie
konntest du nur leben in diesem Scheißstaat?“ – „Ihr Wessis kommt zweimal mit
Tagesvisum rüber und erzählt uns dann,
wie es bei uns war?“
Wie bereits in den ersten beiden Staffeln stehen in „Weissensee“ die Ostdeutschen vor der Kamera. Die Westdeutschen, der Schwabe Friedemann Fromm
und die Niedersächsin Annette Hess,
sind für Regie und Buch zuständig. Dennoch erklärt hier keiner dem anderen,
wie es war.
Dass mit „Weissensee“ ein historisches Thema zum internationalen Durchbruch deutscher Serien beiträgt, ist natürlich kein Zufall. Auf dem TV-Markt
funktionieren mit dem Siegel made in
Germany exakt dieselben Themen wie
einst bei den Oscars: Nazi und Stasi. Ab
26. November zeigt RTL „Deutschland
83“, produziert von Nico Hofmanns Potsdamer Firma Ufa Fiction. Die Hauptrolle
spielt der Lübecker Jonas Nay (zuletzt
im Lichtenhagen-Film „Wir sind jung.
Wir sind stark“ zu sehen). Nay mimt den
Ost-Soldaten Martin, der im Auftrag Mischa Wolfs als West-Rekrut Moritz in die
Bundeswehr eingeschleust wird. Aus
seiner graugrünen NVA-Welt wird er in
die quietschbunte Westwundertüte katapultiert. Das Besondere an „Deutschland 83“ ist nicht nur, dass mit Anna
Winger eine US-amerikanische Autorin
verantwortlich zeichnet, sondern dass
die Serie bereits vor ihrem Start hierzulande in den USA lief. „Faszinierend“
und „aufregend“ lobte die „New York
Times“, und der britische „Independent“
schrieb: „Auf einmal scheint die ganze
Welt deutsches Fernsehen zu wollen.“
Darauf hoffen auch Starregisseur Tom
Tykwer und die strategische Allianz aus
ARD, Sky und der Potsdamer Produktionsfirma X-Filme Creative Pool. Unter
dem Titel „Babylon Berlin“ verfilmen sie
die historischen Krimis von Volker Kutscher aus dem Berlin der Dreißigerjahre.
Drehbeginn der ersten Staffel soll im
Frühjahr 2016 sein, teilte Produzent Stefan Arndt kürzlich mit, voraussichtlich in
den Babelsberger Studios.
Gedreht wird übrigens auf Deutsch –
auf ausdrücklichen Wunsch des Bestsellerautors Kutscher, der sich da durchgesetzt hat. Was bedeutet: Deutsches
Fernsehen ist inzwischen selbst in synchronisierter oder untertitelter Form gut
genug, um auf internationalen Erfolg zu
hoffen. Das ist wirklich einmal etwas
Neues.
„Weissensee“, 29. und 30. September, 1.
z Oktober,
jeweils 20.15 Uhr
Fotos: ARD/RTL
nachgefragt
„Ausgrenzung hat hier leider Tradition“
Herr Lukas, in der Stasi-Familien-Saga
„Weissensee“ spielen Sie den abtrünnigen
Sohn Martin Kupfer. Warum ist er in der
Nacht des Mauerfalls nicht voll Freude?
Martin kann mit der Euphorie und dem
unreflektierten Jubel erst einmal wenig
anfangen. So ging es damals einigen.
Viele mussten mit dieser unerwarteten
Situation erst mal klarkommen. Das dauerte. Bei Martin wird das in der Nacht
des 9. November wie im Zeitraffer erzählt: Erst ist er skeptisch und unsicher,
vollkommen ahnungslos, was diese Ereignisse bringen werden, dann sieht er
die Möglichkeiten und die Chancen, die
sich ihm bieten. Er lernt in dieser Nacht,
etwas zu tun.
Wie war das bei Ihnen selbst?
Ich war überhaupt nicht euphorisch, bin
nicht sofort zur Mauer gerannt, als sie
offen war. Ich brauchte ein paar Monate,
um zu verstehen, dass nicht alles den
kapitalistischen Bach heruntergeht, sondern dass sich auch Chancen eröffnen.
Ich konnte schon 1990 meinen ersten
Film machen. Mit 16,17 ist man eben
noch naiv, begreift die historische Dimension nicht. Ich habe dann Abitur
gemacht, die Umbrüche und Unsicherheiten waren auch in der Schule
stark zu spüren. Nicht nur die Lehrer
waren verunsichert, auch wir Schüler.
Viele haben zunächst Sicherheit gesucht, sich am Vertrauten festgehalten, statt die Freiheit zu nutzen. Ich aber war sehr
schnell dankbar dafür
und werde immer dankbarer, je älter ich wer-
de, weil ich verstehe, was das damals für
eine Chance war. Mein Leben ist bestimmt viel besser verlaufen, als es ohne
Mauerfall verlaufen wäre. Aber das habe
ich mir mit 16 natürlich noch nicht vorstellen können.
Jede Figur in „Weissensee“ geht anders
mit der Überflutung durch die plötzliche
kapitalistische Warenvielfalt um. Mussten
Sie, wie Ihre Filmtochter, auch mal von
Ihren Eltern auf einer West-Berliner
Polizeiwache ausgelöst werden?
Nein. Als ich beim Klauen erwischt wurde, war ich schon volljährig. Kleinere Ladendiebstähle habe ich gemacht, ja. Ich
war auch überwältigt von diesem gigantischen Überangebot – und erinnere
mich auch noch, wie schnell man da abstumpft. Heute hoffe ich, nicht die Sensibilität verloren zu haben, dass diese Warenmaschine nicht alles ist.
Die dritte Staffel von „Weissensee“ endet
1990 mit dem Sturm auf die Stasi-Zentrale. Würden Sie gerne eine vierte
Staffel machen?
Zur Person
Florian lukas (42) hat in
der Wendezeit als 17-jähriger Ost-Berliner Theater gespielt. Das Schauspielstudium brach er
ab – und ist heute doch einer der
begehrtesten
Darsteller.
Wir wollen, dass es weitergeht mit
„Weissensee“. Regina Ziegler, die Produzentin, ist wild entschlossen weiterzumachen, alle anderen auch. Die ARD zögert noch. Es macht wahnsinnig großen
Spaß, und wir können auf so vielem aufbauen. Wir haben jetzt zehn Jahre erzählt – und nun kommt die NachwendeZeit. Meines Wissens gab es im
Fernsehen noch keine differenzierte
Auseinandersetzung damit. Es wäre eine
Riesenchance, wenn wir das vor dem
Hintergrund unserer Figuren erzählen
könnten. Was Martin betrifft: Ich weiß
nicht, wie es mit ihm weitergeht. Es werden Leute verlieren, und es werden Leute gewinnen, und vielleicht sind das
solche, die auch vorher auf der Gewinnerseite standen ...
Heute wird wieder gestritten, ob der
Osten fremdenfeindlicher ist als der
Westen. Muss diese Debatte sein?
Was ich nicht mehr hören kann, ist das
Mantra: „Der Osten ist nicht rechtsextremer als der Westen.“ Das ist einfach
nicht der Fall. Das Problem ist in den
vergangenen 25 Jahren nicht kleiner geworden, auch wenn man so tut, als gäbe
es das alles nicht. Der offiziell antifaschistische Staat DDR hat im Grunde
ähnlich gedacht wie die Nazis davor:
Anders denkende, anders aussehende
Menschen wurden ausgegrenzt und bekämpft. Und das Ausland war an allem
schuld. Ausgrenzung hat hier leider Tradition seit 1933, und dieses Erbe ist bisher geblieben.
Interview: Jan Sternberg
Dr. med. Dünnbrettbohrer
Die Zweifel an der Wissenschaftlichkeit und Originalität der Doktorarbeit von Ursula von der Leyen sind auch Ausdruck eines Missverständnisses
der Leyen vor, auf 27 der insgesamt 62
Seiten umfassenden Arbeit abgeschrieBerlin. Die Doctores der Medizin müs- ben oder falsch zitiert zu haben, und dosen mit einem sonderbaren Widerspruch kumentieren die angeblichen Plagiate
leben. In der Bevölkerung genießen sie mit einem Schaubild auf ihrer Internethohes Ansehen. In der Fachwelt aber seite. Demnach übernimmt die Autorin
hat der Ursprung ihres Titels, die Dok- teils über längere Passagen Formulietorarbeit, einen miesen Ruf. Keine ande- rungen aus anderen, älteren Publikatiore Promotion erweckt so viel Skepsis und nen, ohne dies kenntlich zu machen. Hat
Misstrauen wie die medizinische. Als sie da bewusst geschummelt oder die
Dr. Dünnbrettbohrer gelten Mediziner Passagen in der Annahme übernommen,
mit Titel oftmals, weil sie
es handle sich um Allgeihre
Doktorarbeit
vermeinwissen, auf das es ja
gleichsweise schnell und in
keinen Urheberschutz gibt?
Doktor
überschaubarem Umfang
Solche Fragen hat jetzt die
ist nicht gleich
fertig haben. Die Zweifler
Medizinische Hochschule
Doktor
finden nun neue BestätiHannover zu klären, wo von
gung – in den von der
der Leyen promoviert wurVroniPlag-Plattform
bede. Die Hochschule gab geskannt gemachten Details zur Promoti- tern bekannt, dass sie nach der Vorprüonsschrift von Ursula von der Leyen.
fung jetzt eine Hauptprüfung eingeleitet
Die Ärztin und heutige Bundesvertei- hat, was jedoch keinen Rückschluss auf
digungsministerin von der Leyen soll in das mögliche Ergebnis des Verfahrens
ihrer 25 Jahre alten Dissertation über zulasse.
Komplikationen bei der GeburtsvorbeWie auch immer er ausgehen wird –
reitung und vorzeitigem Blasensprung der Fall von der Leyen ist symptomaabgeschrieben haben. Die Mitarbeiter tisch. Zwar treffen die Plagiatsvorwürfe
von VroniPlag, dessen Kernteam aus gegen Prominente erstmals eine MediziWissenschaftlern besteht, werfen von nerin. Doch unter den Arbeiten, die
Von Marina KorMbaKi
nachträglich beanstandet werden, finden sich besonders oft solche von Medizinern – nicht nur bei VroniPlag. Man
kann dies mit der schieren Zahl an Medizinerpromotionen begründen. Immerhin stammten von den rund 28 000
erfolgreichen Doktorarbeiten im vergan-
genen Jahr 7300 von Medizinern – gut
jede vierte Promotion also. Dabei stellen
angehende Ärzte kaum 4 Prozent unter
den Studierenden in Deutschland. Der
Doktor scheint akademische Massenware zu sein. Sind niedrige Qualitätsstandards da nicht zwangsläufig?
Der Doktortitel – völlig überschätzt oder Nachweis von Qualifikation?
Foto: imago
„Nicht die Qualitätsanforderungen
sind gering, sondern die zur Verfügung
stehende Zeit ist knapp“, sagt Prof. Martin Lohse, Pharmakologe an der Universität Würzburg und Vizepräsident der
Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. „Anders als in anderen
Naturwissenschaften dauert die medizinische Doktorarbeit in der Regel ein halbes bis ein ganzes Jahr und erfolgt studienbegleitend – sie dient nicht in erster
Linie dem wissenschaftlichen Fortschritt,
sondern ist ein Beleg dafür, dass man
sich mal mit wissenschaftlichen Fragen
auseinandergesetzt hat“, sagt Prof. Lohse. „Sie entspricht der einstigen Diplomoder einer heutigen Master-Arbeit.“ Und
dann schiebt Prof. Lohse noch den bemerkenswerten Satz nach: „Ich glaube
nicht, dass ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit jemals aus einer medizinischen Doktorarbeit zitiert habe.“ Was
nach einer Entzauberung der Ärzteschaft klingt, verlangt nach einer Präzisierung: „Man muss unterscheiden zwischen dem medizinischen Doktortitel Dr.
med. und dem naturwissenschaftlichen
Dr. rer. nat.“, sagt Prof. Lohse. „Das sind
zwei verschiedene Diplome.“
Der Dr. med. ist die Regel an medizinischen Fakultäten, der Dr. rer. nat. die
Ausnahme. Um ihn zu erlangen, schwänzen Studenten Vorlesungen oder nehmen sich gleich eine einjährige Auszeit.
Das stark verschulte, eng getaktete Medizinstudium gewährt kaum Freiräume
für vertiefende Forschung. Doch beide
Titel hätten ihre Berechtigung: „Die Promotion während des Studiums ist wichtig, um wissenschaftlichen Nachwuchs
zu gewinnen“, sagt Prof. Matthias
Frosch, Präsidiumsmitglied des Medizinischen Fakultätentags. „Zudem müssen künftige Ärzte ja nicht bloß wissen,
wie man Blut abnimmt und Wunden
näht – um neue Therapien anwenden zu
können, müssen sie auch Studien deuten können.“ Prof. Frosch ist seit zehn
Jahren Dekan der Medizinischen Fakultät an der Universität Würzburg, auch er
hatte schon mehrere Plagiatsfälle abzuarbeiten. Muss denn heutzutage jeder
Arzt auch ein Doktor sein? „Nein“, sagt
Prof. Frosch. „Junge Mediziner finden
heute problemlos Arbeit, 40 Prozent der
Studenten promovieren ohnehin nicht
mehr.“ Um die anderen 60 Prozent aber
müsse man sich intensiver kümmern.