Himmlische News Bericht vom Bodenpersonal Spitalseelsorge 2015 INHALTSVERZEICHNIS Editorial 3 Interreligiöse Begegnungen Marcel Ebel, Rabbiner Neugierig auf das, was noch kommt Edouard Battegay, Professor Dr. med. Franziska Krähenmann, Dr. med. Muris Begovic, Imam Mann ohne Bart Frauensolidarität S. Thandayuthapanikkurukkal, Hindu-Priester Ein Stossgebet an Krishna Kelsang Dechog, buddhistische Nonne Yidham Rigdakshang, Mitarbeiter Ein Segen Spiritualität trägt Jörg Brühlmann, Bestatter 5 7 8 9 11 13 14 15 17 18 21 22 23 24 Jahresrückblick der Seelsorge – Höhepunkte Interreligiöser Bettag 2015 25 5 Jahre Neo-Dank-Gottesdienste 26 Engelprojekt 28 Gut zu wissen: Care Team / Seelsorge 2 29/31 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser Als Seelsorgerinnen und Seelsorger am Unispital Zürich bewegen wir uns zunehmend in einem multireligiösen Umfeld. Wir begegnen Patienten, Angehörigen und Mitarbeitenden mit verschiedenstem kulturellem und religiösem Hintergrund. In Mehrbettzimmern, Begegnungsräumen, Untersuchungszimmern, Hausfluren kommen die Angehörigen der grossen Religionen einander näher. Bei Mitarbeitenden ist ein reges Interesse zu spüren. Sie wollen mehr wissen über Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und deren Rituale am Lebensanfang und Lebensende. In den Medien sind die interreligiösen Begegnungen ebenfalls ein Thema. 2014 feierte der „Interreligiöse Runde Tisch“ vom Kanton Zürich sein 10jähriges Jubiläum. Im Dezember 2014 wurde das „Haus der Religionen“ in Bern eröffnet. Das erste Jahr stärkte die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben der Religionen und Kulturen. Aleviten, Buddhisten, Christen, Hindus und Muslime feiern seitdem in ihren Sakralräumen unter einem Dach. Juden, Bahai und Sikhs beteiligen sich an gemeinsamen Veranstaltungen. Es ist noch nicht lange her, da wurde das „Zürcher Lehrhaus“ zum „Institut für interreligiösen Dialog“ umbenannt. Ende Oktober 2015 organisierte dieses Institut das „Festival der Religionen“ an verschiedensten Orten in der Stadt Zürich. Es bot zahlreiche Zugänge zu Kirchen, Moscheen, Tempeln, Synagogen und Gemeinschaftszentren. Im Januar dieses Jahres feierten wir 150 Jahre rechtliche Gleichstellung der Juden in der Schweiz. Viele Flüchtlinge, die bei uns Obdach suchen, sind Muslime, eine kleinere Minderheit gehört einer christlichen Kirche an. 3 Neben unseren konfessionellen Besuchen, die nach wie vor unseren Schwerpunkt bilden, übernehmen wir im Alltag auch eine Vermittlerrolle: Wenn Patienten es wünschen, suchen wir für sie einen Vertreter ihrer Religionsgemeinschaft, damit sie sich hier im Spital verstanden und begleitet fühlen. Im vergangenen Jahr organisierten wir Weiterbildungen zu den verschiedenen Weltreligionen für Mitarbeitende und Freiwillige. Dabei wurden Vertreter der einzelnen Traditionen miteinbezogen. Am Bettag kamen Christen, Juden und Muslime zum ersten interreligiösen Gebet in unserer Spitalkirche zusammen. Als reformiertes und katholisches Seelsorgeteam erarbeiteten wir gemeinsam einen Situationsbericht zum Thema „Seelsorge im multireligiösen Umfeld des USZ“. Zudem machten wir einen Ausflug zum ThaiBuddhistischen Kloster in Gretzenbach/SO. Beim dortigen Eingang steht ein Plakat, das die Eintretenden darauf hinweist, die BuddhaFiguren nicht als Dekorationsmaterial zu missbrauchen. Zu Recht wehren sie sich gegen eine interreligiöse Vereinnahmung, die alles miteinander vermischt und keinen Respekt mehr zeigt vor der Tradition anderer. In diesem Jahresbericht stellen wir die interreligiösen Begegnungen in den Mittelpunkt. Wir empfingen einen Rabbiner und einen Imam zu einem Interview, besuchten eine buddhistische Nonne in ihrem Meditationszentrum und einen Hindu-Priester in seinem Tempel. Wir laden Sie ein, unsere dabei gemachten Erfahrungen zu teilen. Wir hoffen, dass die Neugier und das Verständnis für einander wachsen können in einem Umfeld, das nicht frei ist von Vorurteilen und Vorbehalten. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre des Bodenpersonals. Für die Seelsorge am USZ Audrey Kaelin und Dieter Graf 4 Marcel Ebel, Rabbiner Was ist das Gottesverständnis im Judentum? Im Judentum ist Gott unsichtbar, nicht körperlich. Wir haben keine Vorstellung von Gott. Eigentlich ist das Verständnis von Gott dasselbe wie im Christentum, jedoch ohne die Trinität. Gott ist der Schöpfer der Welt und leitet sie. Seine Hand ist im Spiel, nur sind wir uns dessen oft nicht bewusst. Der Name Gottes darf nicht ausgesprochen werden. Wir behelfen uns damit, dass wir z.B. vom „Ewigen“ reden. Was ist der Stellenwert des Lebens? Das Leben ist unendlich wertvoll und ein Geschenk Gottes. Wir Menschen dürfen nicht darüber bestimmen. „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt!“ Schwangerschaftsabbruch ist nur als medizinische Indikation erlaubt, nicht aber aus materiellen oder sozialen Gründen. Das Leben der Mutter geht dem Leben des Kindes vor. Ein behindertes Kind ist auch ein Geschenk Gottes. Bis 40 Tage gilt ein Kind als nicht beseelt, nur als Gewebe. Nach 42 Tagen ist es für uns lebendig. Bis zum Zeitpunkt der Geburt gilt es als Teil der Mutter. Wir segnen kein ungeborenes Kind, auch keine Totgeburt. Suizid verstehen wir als Krankheit. Grosse Krisen verstehen wir als einen Ruf Gottes zur Umkehr. 5 Inwiefern ist Ihr Alltag vom Glauben geprägt? Der ganze Tag – vom Aufstehen bis zum ins Bett gehen – ist von unserem Glauben geprägt. Wir beten dreimal am Tag: Morgen, Mittag und Abend. Das ganze Leben ist ein Gottesdienst. Wie sehen Sie den Zusammenhang von Krankheit und Religion? Krankheit ist keine Strafe und kein besonderer Grund, Busse zu tun. Sie ist vielmehr göttliche Bestimmung. So lange Leben da ist, ist das Leben lebenswert. Oft werden Meinungen von verschiedenen Ärzten eingeholt. In der modernen Medizin gibt es zunehmend Grenzfälle, wobei jeder für sich angeschaut werden muss. Passive Sterbehilfe ja, Palliative Care ja, aktive Sterbehilfe nein. Sterben, Tod und Trauer: Welche Rituale für Sterbende und Verstorbene gibt es? Wie wird die Trauerzeit gestaltet? Bei Sterbenden beten wir oft Psalmen und das Glaubensbekenntnis, das Schma Israel. Die einzige Pflicht für die Angehörigen ist die Beerdigung, die möglichst schnell stattfinden muss. Die Trauerzeit beginnt erst nach der Beerdigung. Zuhause sitzen wir dann auf niedrigen Bänken, tragen keinen Schmuck, kämmen uns nicht. Jemand von der Gemeinde kommt vorbei. Erst dann fängt das Trösten an. Wichtig ist uns, das Leben zu bejahen. Fühlen Sie sich als Jude in der Schweiz akzeptiert? Ich kenne gar nichts anderes. Ich bin hier in Zürich geboren und aufgewachsen. Ich bin Mitglied der „Israelitischen Cultusgemeinde Zürich“. Die ICZ, 1862 gegründet, versteht sich als Einheitsgemeinde und ist mit knapp 2500 Mitgliedern die grösste jüdische Gemeinde der Schweiz. Seit 2007 ist sie eine im Kanton Zürich anerkannte Gemeinde. In der Schweiz leben rund 18‘000 Juden. Aufzeichnung: Audrey Kaelin 6 Neugierig auf das, was noch kommt Begegnung mit einer Jüdin An einem späten Nachmittag bittet mich die Pflege, Frau R. zu besuchen. Aus Krankheitsgründen liegt sie isoliert in einem Einzelzimmer und hat wenig Besuch. Ihre Konfession ist nicht bekannt. Als ich an ihr Bett trete, blicken mich neugierige und sehr wache Augen an. Sie redet und erzählt gerne. Vor einigen Jahren hat sie ihren Ehemann durch den Tod verloren. Weil sie zuhause schwer stürzte, kam sie in eine Einrichtung für betreutes Wohnen, wo sie alles andere als glücklich ist. Ihre MitbewohnerInnen bekommt sie kaum zu Gesicht, und wenn, dann sind diese nicht interessiert an einem Gespräch. Sie weiss sich jedoch zu helfen: Draussen vor der Pflegeeinrichtung sitzt sie gerne auf einer Bank und liebt es, mit der Dorfbevölkerung ins Gespräch zu kommen. Doch jetzt plagen sie diverse Hautprobleme, die einen Spitalaufenthalt nötig machen. Ja, wäre doch ihr Mann noch bei ihr, so sähe das ganz anders aus, sagt sie. Mit ihm sei sie schon oft in Israel gewesen. Im Gespräch stellt sich heraus, dass sie eine Vorliebe für Geschichten aus der Bibel hat, vor allem aus dem ersten Testament. Sie gehe auch regelmässig in die Andachten, welche die reformierte Pfarrerin im Heim halte. Ganz beiläufig erwähnt sie dann, dass ihr Mann reformiert war und sie Jüdin sei. Ihre Eltern und viele Verwandte hätte sie durch den Holocaust verloren, doch darüber will sie jetzt nicht mit mir sprechen. Ich spüre bei ihr eine Scheu und eine Verletzlichkeit, die sie schützen will. Bald kann Frau R. das Spital verlassen. Am liebsten ginge sie dann in eine Institution mit jüdischem Hintergrund, der ihr etwas Heimat vermitteln könnte… Aufzeichnung: Alberto Dietrich 7 Edouard Battegay, Professor Dr. med. Klinik für Innere Medizin Meine jüdischen Vorfahren väterlicherseits lebten ursprünglich in elsässischen Dörfern um Basel. Sie kamen dann 1805 nach Basel. Meine Mutter stammt aus Bagdad. Nach 1950 hatten die babylonischen Juden, denn so nannten sie sich, aus dem modernen Irak fliehen müssen, meist nach Israel. So entstamme ich verschiedensten örtlichen und religiösen Traditionen. Ich selber bin jüdisch traditionell, d.h. irgendwo zwischen liberal und orthodox. Ich befolge viele religiöse Regeln nicht. Hingegen halte ich bestimmte Grundregeln ein und lebe in einem Umfeld aus universellen, jüdischen und schweizerischen Werten. Der jüdische Kalender, insbesondere die wichtigsten Feste, spielen eine Rolle in meinem Leben. Zu meiner Familie: Ich bin verheiratet und habe drei erwachsene Kinder. Zwei Kinder leben in Israel und ein Kind lebt gegenwärtig in London. Mein Wertesystem reflektiere ich oft und dies hilft mir als Arzt. Ich bin überzeugt, dass mein jüdischer Erlebnisrahmen den Zugang zu Patienten in existenziellen Notsituationen irgendwie erleichtert. Im Spital geht es oft um Existenzielles, sowohl im Erleben von Patienten als auch Mitarbeitenden, und deshalb muss hier auch Spiritualität in verschiedenen Spielformen Platz haben. Für mich bedeutet Jude sein Zugang zu einer bereichernden Gedankenwelt mit einer spezifischen schicksalshaften, historischen und wertbasierten Perspektive. Der Kontakt zwischen Angehörigen von verschiedenen Religionen ist hier durch sehr viel gegenseitigen 8 Respekt geprägt. Das ist wichtig, gerade weil sich Juden in aller Welt heutzutage bedroht fühlen. Ich bin als Jude nicht ein Sonderfall und will dies auch nicht sein. Ich bin ein normaler Schweizer, will meinen Beitrag leisten und bin hier Teil eines grossen, belebenden und stimmigen Mosaiks. Aufzeichnung: Audrey Kaelin Franziska Krähenmann, Dr. med. Leitende Ärztin auf der Geburtshilfe Bei meiner Arbeit in der Geburtshilfe habe ich es mit verschiedenen Religionen zu tun. Interkulturelle Fragen und Rituale interessieren mich. Eltern und ihre Kinder brauchen gerade in schwierigen Situationen Sicherheit und Empathie. Auf unseren Stationen sind Frauen in der Pränatalsituation oder im Wochenbett. Ich denke an eine Begebenheit, als eine Frau informiert wurde, ihr Kind werde die Geburt wohl nicht überleben. Die Hebamme organisierte einen orthodoxen Priester, der gleich zusagte. Dieser kam ein 9 erstes Mal in der Wehenphase, dann wieder, als das Kind lebend auf die Welt kam und taufte es. Die Eltern machten so einen Weg von der Panik zum Getragensein. Leider hatte dieses Kind keine Nieren und konnte demzufolge nicht lange überleben. Die Musik, der Gesang und das Geigenspiel im Besonderen bedeuten mir viel. Ich liebe Kirchenmusik als Ausgleich zu meiner Arbeit. Damit stelle ich mich in eine mehrere Jahrhunderte alte spirituelle Tradition. Das Unser Vater wurde hier auch schon mal in der aramäischen Version gebetet. Ich selber bin von der christlichen Tradition geprägt, habe deren Gottesbilder verinnerlicht. Nun bin ich gefordert, mich zu öffnen. Wir haben einen hohen Anteil an Immigrantinnen, die hier gebären. Dazu kommen sprachliche Probleme. Viele sind noch nicht lange in der Schweiz und ohne ihr gewohntes Umfeld, entwurzelt ohne ihre Mütter, Väter und Grossmütter. In dieser Situation besinnen sie sich auf ihre spirituellen Ressourcen, was ich bei den Einheimischen weniger wahrnehme. Nicht nur bei den Patientinnen und Patienten, auch beim Personal haben wir viele religiöse Orientierungen. Viele Hebammen und Pflegefachfrauen haben grosse spirituelle Kompetenzen, die sie für die Menschen auf unserer Station einsetzen. Ich glaube, dass Gott immer der gleiche ist. Trotz all den verschiedenen Regeln und Interpretationen der Menschen. Ich denke, jeder Mensch hat sein eigenes Glaubensmodell. Bei manchen Frauen steht „ohne Bekenntnis“ oder „konfessionslos“. Doch „wer bei einer Geburt dabei sein kann, hat Gott auf frischer Tat ertappt“. Das bringt die Frauen und ihre Familien ins Staunen. Aufzeichnung: Dieter Graf 10 Muris Begovic, Imam Was ist das Gottesverständnis im Islam? Wir glauben an Gott, den Einen, den Ewigen, den Schöpfer des Sichtbaren und Unsichtbaren. Gott erhält alles und wird uns auferwecken. Er hat 99 Namen, die seine Eigenschaften beschreiben, wie der Allwissende, der Barmherzige. Im mystischen Islam gibt es den 100-sten Namen. Diesen kann man in einer persönlichen, spirituellen Erfahrung erkennen. Wie ist der Stellenwert des Lebens? Das Leben ist heilig. Gott gibt das Leben und er ist auch derjenige, der es nimmt. Der Mensch darf nicht über Anfang und Ende des Lebens bestimmen. So ist Schwangerschaftsabbruch nur erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Suizid und aktive Sterbehilfe sind nicht erlaubt. Bei der passiven Sterbehilfe gibt es wiederum verschiedene Meinungen. Für den gläubigen Muslim ist der Tod nicht das Ende, sondern der Übergang in einen anderen Seinszustand. Inwiefern ist Ihr Alltag vom Glauben geprägt? Unsere Religion gibt uns vor, wie unser Alltag zu gestalten ist. Somit ist uns bewusst, was wir dürfen und was nicht. Die Gemeinschaft hilft uns die Regeln einzuhalten, beispielsweise den 11 Fastenmonat Ramadan. Täglich wenden wir uns fünf Mal im Gebet Richtung Mekka. Zu diesen Regeln gehört auch, dass jeder Muslim einmal in seinem Leben Mekka besucht. Ich war vor acht Jahren in Mekka - für mich ein tiefes, unvergessliches Erlebnis. Denn jahrelang war ich im Gebet auf diesen Ort ausgerichtet und dann war ich da… Wie sehen Sie den Zusammenhang von Krankheit und Religion? Geburt und Tod, aber auch Krankheit und Leiden, gelten dem gläubigen Muslim als Ausdruck göttlichen Willens. Durch die Krankheit wird uns bewusst, dass wir vergänglich sind. Wir haben die Möglichkeit, das Beste aus unserer Situation zu machen. Der Prophet Muhammed sagte: „Bereite dich auf die Krankheit vor, solange du gesund bist; bereite dich auf den Tod vor, solange du lebst.“ Sterben, Tod und Trauer: Welche Rituale für Sterbende und Verstorbene gibt es? Wie wird die Trauerzeit gestaltet? Wenn jemand im Sterben liegt, ist es in der Regel die Familie, die den Sterbenden begleitet. Manchmal wird der Imam gerufen. Der Koran wird vorgelesen, das Glaubensbekenntnis vorgebetet und der Sterbende spricht es nach. Wenn der Kranke verstorben ist, wird oft ein islamisches Bestattungsinstitut gerufen, das für die rituelle Waschung und Beerdigung zuständig ist. Nachdem der Verstorbene in Leintücher gewickelt wird, wird das Totengebet gesprochen. Es gibt keine oder nur eine kurze Predigt, denn der Tod ist für sich eine Predigt. Das Grab ist so angelegt, dass die rechte Seite des Verstorbenen in Richtung Mekka liegt. Die Überführung in die Heimat wird oftmals gewünscht, ist aber sehr teuer. Viele können sich das nicht leisten. Die Trauerzeit dauert gemäss der Prophetentradition drei Tage. In dieser Zeit. kümmern sich die Verwandten und Nachbarn um die Trauernden. 12 Fühlen Sie sich als Muslim in der Schweiz akzeptiert? Ja, ich fühle mich akzeptiert, solange ich keine Extrawünsche habe. Die Organisation „Vereinigung der islamischen Organisationen Zürich“ (VIOZ), 1995 gegründet, versteht sich als Sprachrohr für alle Muslime. Ich als Imam und Sekretär der VIOZ bin immer wieder konfrontiert mit Anfragen und Anliegen verschiedenster Art. Aktuell leben rund 433‘000 Muslime in der Schweiz. Aufzeichnung: Audrey Kaelin Mann ohne Bart Begegnung mit einem Muslim Er fastet auch nicht und geht kaum zur Moschee. Er betet nicht auf traditionelle Weise. Auf Schweinefleisch und Alkohol verzichtet er nur, wenn die Eltern dabei sind. Sie sind vor seiner Geburt aus der Türkei in die Schweiz eingewandert. Er ist 22 Jahre alt. Als ich ihn besuche, ist er gerade am Laptop am Gamen. Lustiger Muslim, das! Oder sind es nur meine Klischeevorstellungen, die plötzlich lustig und etwas antiquiert wirken? Über den Besuch der christlichen Seelsorgerin – er liegt schon so lange Zeit auf der Station! – freut er sich. Sein Glaube ist in ihm selbst gewachsen, auch durch die Erfahrung, wie fragil sein Leben, seine Gesundheit sind. Das Leben ist kostbar, nicht nur seins, alles Leben. Die chronische Krankheit, die ihn von Geburt an begleitet, hat ihn das gelehrt. Er weiss, dass er über kurz oder lang nur auf eine neue Lunge hoffen kann. Und doch geht etwas ganz Fröhliches, Unbeschwertes von Herrn K. aus. Eine Heiterkeit und Neugier aufs Leben, die religiöse, kulturelle oder gesellschaftliche Vorurteile einfach sprengt. Spiritualität als sanfte Subversion, als innere Freiheit, da finden sich muslimischer Patient und christliche Seelsorgerin prima! Einfach leben und Mensch sein. Und am Schluss des Besuchs gibt mir der Lebenskünstler noch einen Megasatz mit: „Tja, vom 13 Schicksal habe ich gesundheitlich keine guten Karten bekommen. Aber mit denen, die ich habe, spiele ich gut!“ Aufzeichnung: Barbara Oberholzer Frauensolidarität Begegnung mit einer Muslima Am späten Nachmittag bat mich die Pflege, so schnell als möglich auf die Wochenbettstation zu Fr. N., einer muslimischen Patientin, zu kommen. Ihr Sohn war kurz zuvor, nach einem zu frühen Blasensprung in der 22. Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen und hatte leider keine Lebenschance. Fr. N. sei unendlich traurig und wünsche sich ein seelsorgliches Gespräch. Als ich das Patientenzimmer betrat, sassen Fr. N. und ihre beiden Schwestern um das Körbchen des verstorbenen Sohnes und weinten. Sie baten mich sofort in ihre Mitte. Fr. N. erzählte weinend von den letzten 24 Stunden. Nach und nach klopften immer wieder Frauen an der Türe – die Mutter und Schwiegermutter, Verwandte, Freundinnen – alle kamen, um Fr. N. beizustehen und mitzutrauern. Sie lauschten der traurigen Geschichte der letzten Stunde, erzählten von ihren Familien oder schwiegen einfach. Und immer wieder baten sie mich in ihrer Mitte zu bleiben. Irgendwann fragte ich sie, ob ich ein Iman rufen soll oder ob wir zusammen beten sollen für den kleinen Jungen und seine Eltern. Ein gemeinsames Gebet zu sprechen, fanden sie sehr schön. Sie beteten laut in ihrer Muttersprache – ich leise zur Gottesmutter. Noch lange blieb ich bei den Frauen und erlebte eine wunderbare Wärme, Achtsamkeit und Frauensolidarität. Aufzeichnung: Lisa Palm 14 Sarahanabavanathan Thandayuthapanikkurukkal Swamygal, Hindu-Priester Was ist das Gottesverständnis im Hinduismus? Es gibt einen Gott. Er ist der Schöpfer, der Erhalter und der Zerstörer. Er zeigt sich in verschiedenen Gestalten. Die Religionen sind verschiedene Wege zum gleichen Ziel. Wie ist der Stellenwert des Lebens? Der Mensch ist göttlich. Unsere Seele ist göttlich, unser Körper ein Tempel. Gott ist Liebe. Wo Liebe ist, ist heiliger Raum. Wenn wir unsere Lebenszeit mit Liebe füllen, ist sie heilig. In unserem Leben häufen wir Karma an. Gutes Karma verhilft zu einer guten Wiedergeburt. Mit unseren Taten können wir unser Karma korrigieren, das entspricht auch der Lehre vom Dharma, dem kosmischen und sozialen Gesetz. Das Kastensystem hingegen lehne ich ab, denn dieses ist von Menschen gemacht. Das Leben gläubiger Hindus wird ab dem siebten Schwangerschaftsmonat von Ritualen begleitet. Das findet seine 15 Fortsetzung am 31. Tag nach der Geburt. Am 48. Tag kommt die Familie mit dem Kind in den Tempel, um eine Opfergabe darzubringen. Ihre erste Mahlzeit nehmen Mädchen im fünften und Buben im sechsten Monat im Tempel ein. Nach dem ersten Jahr gibt es ein Begrüssungsritual im Tempel, zwei Jahre später wird der Beginn des Lernens gefeiert. Der Beginn der Pubertät sowie die Heirat werden ebenfalls im Tempel begangen. Mit diesen Riten wird das Leben geheiligt. Schwangerschaftsabbruch, Suizid und aktive Sterbehilfe sind nicht erlaubt. Inwiefern ist Ihr Alltag vom Glauben geprägt? Und wie zeigt sich das? Als vollamtlicher Hindupriester stehe ich um 4.00/5.00 Uhr auf und meditiere, um mein Denken zu reinigen. Ein gläubiger Hindu hat zu Hause einen Schrank oder ein Zimmer mit den Bildern und Statuen der Götter. Am Morgen vor der Arbeit betet er einige Minuten in seiner Andachtsecke. Dasselbe tut er am Abend nach vollbrachtem Tagewerk. Viele Gläubige kommen am Dienstag oder Freitag in den Tempel. Bevor sie ihn betreten, waschen sie sich und verzichten auf den Genuss von Fleisch und Fisch. Wie sehen Hindus den Zusammenhang von Krankheit und Religion? Die Menschen denken oft, Krankheit sei eine Strafe Gottes. Aber Gott straft nicht. Wenn ich krank werde, dann habe ich nicht genügend auf meine Gesundheit geachtet. Was bedeuten Sterben und Tod im Hinduismus? Wenn jemand hochbetagt in seiner allerletzten Lebensphase nicht loslassen und sterben kann, bringen ihm die Angehörigen Milch (Gabe Shivas) und Reis. Liegt ein Hindu – in meinem Fall sind es meistens Tamilen – im Sterben, gehe ich auf Wunsch der Familie zu ihm und bete. Ist er verstorben, so verrichte ich diesen Dienst ebenfalls. Zwischen Tod und dem 31. Tag hält sich die Seele an einem der sieben heiligen Orte auf. Dann entscheidet Gott, ob die Seele wiedergeboren wird. Wenn ein Mensch gut gelebt hat, tritt 16 er aus dem Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) aus und ist endgültig bei Gott. Wie verläuft die Trauerzeit? Sie dauert 31 Tage. Während dieser Zeit geht die Familie weder in den Tempel noch nimmt sie an einem Fest teil. Viele halten sich ein ganzes Jahr daran. 31 Tage nach dem Tod besuche ich das Haus des Verstorbenen für eine Gedenkfeier. Circa ein Jahr nach dem Tod versammelt sich die Familie des Verstorbenen im Tempel. Der genaue Zeitpunkt dieser Puja wird durch den Stand der Sonne und des Mondes bestimmt. Fühlen Sie sich als Hindu in der Schweiz akzeptiert? Ja. Seit 1989 lebe ich hier. Anfangs habe ich sechs Jahre lang als Pflegeassistent in einem Altersheim in Zürich gearbeitet. Dort habe ich oft sterbende Menschen begleitet. Später gründete ich den ersten Tempel in der Schweiz. In der Zwischenzeit gibt es deren 26. Ich wurde als Brahmane in Sri Lanka geboren, habe Sanskrit gelernt und die Veden gelesen. Seit 2010 lebe und arbeite ich in Dürnten. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. – Die Anzahl von Hindus in der Schweiz beläuft sich auf ca. 41‘000 Personen (0,5% der Bevölkerung), neun von zehn sind ausländischer Herkunft. Aufzeichnung: Dieter Graf Ein Stossgebet an Krishna Begegnung mit einer Hindu-Frau Ein roter Punkt auf der Stirn ist das Zeichen für eine verheiratete Hindu-Frau. Im Spital muss sie den Punkt wegnehmen, ungern zwar, aber es muss sein. Sie hat immer ein Bild von Krishna zusammen mit Radha, seiner ewigen Gefährtin und Geliebten, bei sich. Auch vor gut eineinhalb Jahren, als ich sie kennen gelernt habe, waren ein Bild und eine kleine Statue auf dem Fenstersims für sie vom Bett aus gut sichtbar. Ihr tägliches Morgengebet zu 17 Krishna um Kraft und der Besuch des Tempels, wenn möglich, stärken sie. Das braucht sie auch, denn sie hatte vor ca. eineinhalb Jahren eine grosse Operation. Damals konnte sie kaum reden und sie bat mich, für sie ein Mantra zu sprechen. Es war eindrücklich, ihr Stimme geben zu dürfen. Stück für Stück hat sie sich ins Leben zurückgekämpft, immer wieder ein Stossgebet an Krishna gerichtet, liebevoll begleitet und unterstützt von ihrer Familie. Regelmässig kommt sie zur Kontrolle ins USZ. Wir freuen uns beide über diese Gelegenheit, einander wieder zu sehen. Aufzeichnung: Elisabeth Cohen Kelsang Dechog, buddhistische Nonne Kadampa Tempel Zürich Was ist das Gottesverständnis im Buddhismus? Im Buddhismus geht es nicht um den Glauben an einen Gott, der die Welt erschaffen hat und erhält. Unser eigenes Bewusstsein erzeugt unsere persönliche Erfahrungswelt. Buddha ist unser Vorbild. Er hilft uns, seine Lehre (Dharma) im eigenen Herzen umzusetzen. Buddha ist mit einem spirituellen Arzt und seine Lehre mit Medizin vergleichbar. In der Meditation wird seine Lehre vertieft und Behinderungen im Geist werden 18 aufgelöst. Wir beten zu Buddha und empfangen Segnungen und Inspiration. Die spirituelle Gemeinschaft (Sangha) hilft uns bei der Umsetzung der Meditationen im Alltag. Wie ist der Stellenwert des Lebens? Der Stellenwert des Lebens ist hoch, denn es besitzt alle notwendigen Freiheiten und Ausstattungen, um unser Bewusstsein zu verbessern und Erleuchtung zu erlangen. Im Buddhismus sind Körper und Geist zweierlei. Geist und Bewusstsein treten bei der Zeugung in den Körper der Eltern ein und beginnen sich mit dem neuen Körper zu identifizieren. So befindet sich schon zu Beginn der Schwangerschaft ein kleines Wesen mit Gefühlen im Bauch der Mutter. Wenn der Körper stirbt, geht das Bewusstsein ins nächste Leben über. Suizid oder aktive Sterbehilfe machen aus buddhistischer Sicht keinen Sinn, da das Leiden, die Probleme und die Gewohnheiten einfach im nächsten Leben weitergehen. Der Tod erlöst nicht vom Leid. Inwiefern ist Ihr Alltag vom Glauben beeinflusst? Mein Leben als buddhistische Nonne ist von meinem Glauben geprägt. Es geht nicht um Perfektionismus, sondern um den Versuch, im Einklang mit der Sichtweise und der Absicht Buddhas zu leben. Viele Mönche und Nonnen sind berufstätig. Sie können den ganzen Tag in ihrer Arbeit gemäss den Absichten und Sichtweisen Buddhas leben. Es besteht kein Widerspruch zwischen der Lehre Buddhas und unserem Alltag. Auch Menschen aus anderen Religionen können durch buddhistische Meditationen hilfreiche Einsichten gewinnen. Hilfreich finden es die meisten Buddhisten, morgens und abends zu meditieren. Wie sehen Sie den Zusammenhang von Krankheit und Buddhismus? Um Krankheit besser zu verstehen, betrachten wir das Gesetz von Ursache und Wirkung. Wir erkennen, dass neben den äusseren Umständen, die eine Krankheit oder einen Unfall verursachen, immer auch eine innere Ursache gegeben sein muss. Ansonsten lässt sich kaum erklären, warum zum Beispiel von zehn 19 Kettenrauchern nur drei an Lungenkrebs erkranken. Prägungen von negativen Handlungen aus diesem oder früheren Leben können eine Krankheit hervorrufen. Negatives Karma wird gereinigt durch die Kraft des Bedauerns, die Kraft des Vertrauens, die Kraft des Gegenmittels (z.B. Mitgefühl statt Abneigung) und die Kraft des Versprechens. Für Buddhisten muss Krankheit nicht unbedingt etwas Schlechtes sein, sondern kann neue Türen öffnen und für einen inneren Weg motivieren. Unser Körper ist unbeständig und vergänglich, doch unser Geist und unser Bewusstsein gehen weiter. Deshalb arbeiten wir an unserem Bewusstsein, um gute Gewohnheiten mitzunehmen, wenn es weitergeht. Was bedeuten Sterben und Tod im Buddhismus? Welche besonderen Rituale gibt es? Wenn die Person verstorben ist, sollte sie noch drei Tage liegen bleiben, da der Geist den Körper vielleicht noch nicht verlassen hat. Auch ist es wichtig, die tote Person nur am Scheitel zu berühren und auf keinen Fall an den Händen oder Füssen. Das hilft dem Bewusstsein, eine gute Wiedergeburt anzunehmen. Eine Powazeremonie dient der Bewusstseinsübertragung für Verstorbene, damit eine gute Wiedergeburt möglich wird. Negatives Karma wird so gereinigt und mit dem Bewusstsein von Buddha Avalokiteshvara verbunden. So können wir sicher sein, dass die Person ein Reines Land erreicht hat, wo es keine unkontrollierte Wiedergeburt gibt und ihr Bewusstsein kein Leiden mehr erfährt. Es gibt keine Trauerzeit. Durch Mitgefühl und Gutes tun wird die Trauer verwandelt. Fühlen Sie sich als buddhistische Nonne in der Schweiz akzeptiert? Ja, durch die Aufnahme von tibetischen Flüchtlingen in der Schweiz ist es für uns Buddhisten einfacher geworden. Ich gehöre der Neuen Kadampa Tradition, von Kelsang Gyatso gegründet, an. – In der Schweiz leben rund 41‘000 Buddhisten (0,5% der Bevölkerung). Aufzeichnung: Dieter Graf 20 Yidham Rigdaktshang Mitarbeiter Gastronomie Schon oft bin ich Yidham Rigdakshang im Bistro Süd begegnet, wenn ich an der Kasse meinen Badge auflegte, um zu bezahlen. Nun hatte ich die Gelegenheit zu diesem Gespräch und möchte davon einiges berichten. Yidham Rigdaktshang ist Tibeter und arbeitet seit 10 Jahren am USZ im Bereich Gastronomie. Er arbeitet als sogenannter „Springer“ im Bistro Süd, im Personalrestaurant, im Dick & Davy, im Kiosk und im Bistro Nord 1. Für ihn ist es sehr wichtig, ein gutes Herz zu haben, anderen Menschen zu helfen und freundlich zu den Mitmenschen zu sein. Hier im Unispital begegnet er oft Patientinnen und Patienten oder Besuchern, die Hilfe brauchen. Oft hilft er auch mit einem freundlichen Wort. Der Buddhismus ist für ihn Religion und Lehre. Er betet privat, aber auch im klösterlichen Tibet-Institut Rikon. Dort treffen sich viele Tibeter zu den hohen Festtagen, wenn die Geburtstage von Buddha und vom Dalai Lama gefeiert werden. Meditation ist etwas Schwieriges. Wichtig sei es, die Religion zu kennen, sagt er. Einfach nur entspannen oder Gedanken an Geld oder anderes zu haben, sei keine Meditation. Wenn jemand gestorben ist, dann beten die Mönche im Auftrag der Angehörigen ein Jahr lang jeden Tag, dass der Verstorbene ein gutes neues Leben nach der Reinkarnation hat. Mönche kommen auf Wunsch von Patienten auch ins USZ. Sie beten für sie, geben 21 Hoffnung und Kraft. Immer wieder betont Yidham Rigdaktshang, dass es wichtig ist, Gutes zu tun. – Es tut gut, ihm zu begegnen, mit seiner Freundlichkeit, seinem Lächeln, seinem offenen Herzen! Aufzeichnung: Axel Landwehr Ein Segen Begegnung mit Eltern ohne Bekenntnis Das Mädchen passt auf ein DIN-A4-Blatt, so klein ist es. Es ist so entstellt, dass selbst die erfahrene Hebamme erschrickt, als sie es sieht. Die Eltern haben gesagt, dass sie ihr Kindchen nicht sehen möchten, zu gross sei der Schmerz. Der Vater möchte möglichst schnell wieder ins alte Leben zurückgehen. Die Mutter ist hin- und hergerissen, zwischen bodenloser Trauer und dem Wunsch, möglichst stark wie ihr Mann zu sein und ihre Gefühle herunterzuschlucken. Trotzdem lässt sich das Paar darauf ein, in den Trauerraum neben der Gebärabteilung zu kommen. Ein abgedunkeltes Zimmer mit vielen Kerzen, das den Gefühlen Schutz gibt. Dort liegt ihr Kindchen - zugedeckt in einem Körbchen. Irgendwann tasten sich die Hände der Eltern über das Tuch. Sie spüren das Köpfchen und den kleinen Oberkörper ihres Kindes. In diesem Moment sind sie ganz bei ihrem Töchterchen. Nur dieser kostbare Moment zählt. Und plötzlich sagt der Vater zu mir: „Können Sie es segnen? Wir glauben ja nicht daran, aber Sie schon!“ Aufzeichnung: Margarete Garlichs 22 Spiritualität trägt Begegnung mit einer Frau ohne Bekenntnis Ich werde zu einer Frau ohne Bekenntnis gerufen. Frau R.* wünsche ein Seelsorgegespräch vor ihrer Operation. Die Patientin hat das Bedürfnis, von sich zu erzählen. Sie hätte eine schwierige Kindheit gehabt. Nachdem sie mitangesehen hätte, wie ihre kleine Schwester von einem Auto überfahren wurde und starb, sei sie „depressiv“ geworden. Irgendwie hat all das Schwere dazu geführt, dass sie nicht mehr an die Institution „katholische Kirche“ glauben kann und ist ausgetreten. Frau R. versichert aber, sie habe ihren eigenen Glauben, der ihr Kraft gebe. Seit einem Jahr geht es ihr gesundheitlich nicht gut, sie fühlt sich sehr schwach. Sie hofft, dass sie durch die bevorstehende Operation wieder zu Kräften kommt. Ich höre zu und versuche, Frau R. das Gefühl zu geben, dass sie akzeptiert ist. Beim Abschied sage ich ihr, dass ich während der Operation an sie denken werde. Zwei Wochen später muss Frau R. wiederum ins Spital. Man hat einen Tumor bei ihr entdeckt. Wiederum treffen wir uns vor der Operation. Sie weint. Sie hat Angst vor dem Eingriff. Ihre ältere Schwester ist an Krebs gestorben. Zwei Tage später besuche ich sie auf der Station. Die Operation ist gut verlaufen. Der Tumor war klein und konnte entfernt werden. Frau R. ist so froh, dass eine Chemo nicht nötig ist. Wieder zuhause schreibt sie mir eine E-Mail: „Sie haben mich durch Ihre Präsenz durch eine schwierige Zeit getragen. Beim Gedanken an unseren Austausch, empfinde ich eine stark spirituelle Note. (…) Ich bin durch die Krise näher zu mir gekommen. Ich möchte diesem Gefühl Sorge tragen.“ Aufzeichnung: Audrey Kaelin, * Initiale geändert 23 Jörg Brühlmann, Bestatter Oft ist die Hoffnung, die mit einem Spitaleintritt verbunden ist, vergebens. Dann müssen die Hinterbliebenen bei Jörg Brühlmann im Büro West A 18 anklopfen. Er arbeitet seit 10 Jahren als Bestatter im USZ. „Im Jahr 2014 starben 994 Menschen bei uns im Spital, das sind fast vier Personen pro Arbeitstag. Vermutlich wären sie lieber zuhause gestorben als bei uns.“ Die meisten der Verstorbenen waren Christen (61%), gefolgt von Muslimen (5%), Hindus (1%) und Juden (1%). Der Anteil von Personen ohne Bekenntnis, bzw. keiner Religion nimmt zu und betrug im Jahr 2014 32%. Der Grossteil der Verstorbenen wurde kremiert (73%), der Rest hatte eine Erdbestattung. Schwieriger wird es für Jörg Brühlmann, wenn ein Verstorbener ins Ausland (am häufigsten nach Südeuropa, den Balkan, Indien, Afrika) überführt werden soll. Kulturelle und sprachliche Barrieren muss er mit den Angehörigen überwinden. Oft sind auch die Kosten ein Thema: Je nach Distanz betragen sie mehrere tausend Franken. Ein wichtiger Teil seiner Arbeit ist die Begleitung der Hinterbliebenen und die Hilfe bei den administrativen Abläufen: „Viele sind dermassen aufgewühlt, dass sie gar nicht in der Lage sind, zuzuhören. Es ist gut, dass vieles schriftlich abgegeben wird, dann geht es nicht verloren.“ 24 Jörg Brühlmann: „Was sehr beeindruckend und für mich unvergesslich war, waren afrikanische Angehörige im Aufbahrungsraum, die für den Verstorbenen Lieder sangen und tanzten. – Ein anderer Brauch, der mir geblieben ist, sind die Nahrungsmittel, die der Gottheit geopfert und im Aufbahrungsraum hingestellt wurden. Ich weiss allerdings nicht mehr, um welche östliche Religion es sich handelte.“ Aufzeichnung: Audrey Kaelin Interreligiöser Bettag 2015 Das Unispital ist ein Ort, wo sich Christen, Juden und Muslime immer wieder begegnen. Sei es als Patientinnen und Patienten im 25 selben Zimmer, sei es als Angehörige auf dem Flur oder als Mitarbeitende in den vielen verschiedenen Funktionen im Dienst an kranken Menschen. Die drei grossen Offenbarungsreligionen haben vieles gemeinsam: Abraham ist ihr gemeinsamer Stammvater, auf ihn berufen sie sich. Er war es auch, der drei Männer auf der Durchreise zu sich einlud, ihnen die Fusse wusch und sie bewirtete. Von diesem vorbildlichen Gastgeber liessen wir uns inspirieren. „Abraham – Ibrahim“ stand auch im Zentrum dieses ersten interreligiösen Gebetes am Eidgenössischen Dank- Buss- und Bettag im USZ. Eine Vertreterin der Jüdischen Cultusgemeinde, eine Muslima und wir Christen brachten unsere Gedanken ein. Besonders war auch die musikalische Begleitung mit Orgelklängen und Klezmer Musik. Zwei Mädchen von der Türkisch-Islamischen Gemeinschaft Rüti (Bild) sangen verschiedene Lieder. Mit dem gesungenen Wunsch: „We shall overcome“ schlossen wir die eindrückliche Feier ab. Draussen im Foyer gab es Getränke, etwas zum Knabbern und die Gelegenheit, über die Religionsgrenzen hinweg sich gegenseitig besser kennen zu lernen. Aufzeichnung: Dieter Graf und Elisabeth Cohen 5 Jahre Neo-Dank-Gottesdienste Am letzten Maiwochenende 2015 verwandelt sich nun schon zum fünften Mal, die im Alltag zur Stille und Besinnung einladende Spitalkirche des Universitätsspitals Zürich zu einer Oase der kindlichen Lebendigkeit und Freude! 80 Kinder der Jahrgänge 2011/2012, die ihren Lebensanfang für eine kürzere oder längere 26 Zeitspanne als „Frühchen“ auf der Neonatologie verbracht hatten, folgten der Einladung zum Neo-Dank-Gottesdienst und strömten mit ihren Geschwistern, Eltern, Grosseltern, Verwandten und Freunde in die Spitalkirche. Für ihre Eltern war dieser Gang mit starken, sowohl schönen als auch schwierigen Erinnerungen verbunden – viele hatten zu Beginn des Lebens ihrer Sprösslinge eine Achterbahn von Gefühlen zwischen Bangen und Hoffen erlebt. Doch die Kinder eroberten unbeschwert und in Windeseile den Gottesdienstraum, sangen begeistert die Kinderlieder mit, hörten die Geschichte von Jakob und der Himmelsleiter und erlebten in einem andächtig stillen Moment in den Armen ihrer Eltern, dass sie von Gott gesegnet sind. Am Ende verabschiedeten sich die Familien mit strahlenden Augen und Dankbarkeit. Vielen Eltern war in dieser Stunde wieder einmal 27 richtig bewusst geworden, dass ihre Kinder einen ganz starken Schutzengel an ihrer Seite hatten und noch immer haben. Aufzeichnung: Lisa Palm und Margarete Garlichs Engelprojekt Engel haben Einzug gehalten in unsere Spitalkirche in der Adventszeit. Ganz unterschiedliche Engel: Grosse und kleine; fest stehende und schwebende; ernsthafte und verspielte; aus Stoff, aus Papier, von Kindern gebastelte. Sie erfüllen die Kirche mit Wärme und goldenem Schein. Und sie erzählen auf ihre Weise von Gott, der ankommt bei uns. Der uns beflügelt, geleitet, tröstet, mit Leben und Licht erfüllt – auch in der dunkelsten Zeit. Aufzeichnung: Barbara Oberholzer und Elisabeth Cohen 28 Isabelle Haller Leiterin Care Team Die einjährige Pilotphase ist abgeschlossen. Wie geht es nun weiter? Das Care Team ist in den Routinebetrieb übergegangen. Mich persönlich freut die grosse Interdisziplinarität des Care Teams: 21 Mitarbeitende aus den Bereichen Pflege, Sozialdienst, Seelsorge und MTTB, die diese wertvolle Aufgabe mehrheitlich in ihrer Freizeit und im Nebenerwerb ausführen. Jede Berufsgruppe bringt ihre Stärken mit und trägt dazu bei, dass wir Angehörige in Krisensituationen umfassend betreuen können. Wo leistet das Care Team Einsätze? Schwerkranke, verunfallte oder sterbende Patienten benötigen eine intensive medizinische und pflegerische Betreuung. Für die Begleitung der Angehörigen, die sich unerwartet mit dieser schwierigen Situation konfrontiert sehen, bleibt den Behandlungsteams häufig nicht genügend Kapazität. Das Care Team schafft hier Entlastung. Die Einsatzorte sind zurzeit vorwiegend auf den Intensivstationen, dem Notfall und dem Schockraum, vereinzelt auch auf den Bettenstationen oder im Aufbahrungsraum. Aus zahlreichen Rückmeldungen der verschieden Stationen und der Care Team-Mitarbeiter selbst geht hervor, dass unsere Arbeit sehr geschätzt und als sinnvoll empfunden wird. Nebst der Entlastung des Personals, was bringt euer Einsatz? Die Angehörigen werden durch unsere Begleitung oft ruhiger und sind dann in der Lage, sich wieder zu sammeln. Das hilft, wenn weitere Gespräche und Behandlungen nötig sind. 29 Welche Rolle nimmt die Seelsorge ein? Die Zusammenarbeit mit den vier Seelsorgenden finde ich sehr bereichernd. Der anfängliche Respekt vor dem Rollenwechsel vom Seelsorger zum Care Giver hat sich schnell verflüchtigt und gelingt fliessend. Primär handeln wir religionsunabhängig. Treten im Lauf eines Einsatzes religiöse Aspekte in den Vordergrund, können die Seelsorgenden zusätzliche Unterstützung bieten. So konnte zum Beispiel ein Seelsorger eine hinduistische Familie beim Abschiedsritual für ihren verstorbenen Angehörigen begleiten. Wird es gewünscht, kann die Seelsorge auch eine längerfristige Betreuung übernehmen oder Kontakte zu Kirchgemeinden vermitteln. Wie tauschen sich die Mitarbeitenden aus? Wir haben Teamsitzungen, Supervision und Weiterbildungen. Wie arbeitet ihr? Ein Beispiel: Ein Motorradfahrer ist schwer verletzt und liegt bei uns auf dem Notfall. Sein Zustand ist kritisch. Die Angehörigen sind von der Polizei informiert worden. Eine grosse Gruppe Angehöriger versammelt sich daraufhin auf dem Notfall. Sie sind aufgewühlt, einige stehen unter Schock. Ein Mitglied des Care Teams wird aufgeboten, nimmt Kontakt mit den Angehörigen auf und begleitet sie in einen ruhigen Raum. Generell kümmern wir uns um Grundbedürfnisse: Wir bringen etwas zu trinken oder essen, holen Decken für zitternde Personen. Wir vermitteln Sicherheit. Auf Wunsch der Angehörigen sind wir beim ersten aufklärenden Arztgespräch anwesend. Nach erfolgter Notfalloperation des Verunfallten begleitet das Care Team-Mitglied die Angehörigen zur Intensivstation der Unfallchirurgie und stellt für sie den Kontakt zu der dortigen Pflege und den Ärzten her. Jeder Einsatz ist individuell, dabei werden die Care Team Mitarbeitenden vielschichtig gefordert. Aufzeichnung: Dieter Graf 30 Das ökumenische Seelsorgeteam im Dezember 2015 Hinten (v.l.n.r.): Elisabeth Suter, Walter Albrecht, Elisabeth Cohen, Dieter Graf, Barbara Oberholzer. Vorne (v.l.n.r.): Alberto Dietrich, Audrey Kaelin, Axel Landwehr. Des Weiteren gehören zum Team: Margarete Garlichs, Lisa Palm, Marika Kober und Monique Henrich Gut zu wissen: Rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr, sind wir für Sie erreichbar, über den Empfang, Tel. 044 255 53 33. Unsere Spitalkirche ist Tag und Nacht geöffnet! Neben dem Bistro Süd. Wir feiern jeden Sonntag Gottesdienst um 10.15 Uhr. Raum der Stille – eine Oase für alle in der Eingangshalle Nord 2. 31 Puente della reina, Jakobsweg, Spanien Impressum: Herausgeber: kath. und ref. Seelsorge USZ Verantwortliche Redaktion: Audrey Kaelin, Dieter Graf, Susanne Sigrist Ali, mit Beiträgen vom gesamten ökumenischen Team Zürich, Februar 2016 32
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