Von Böing zu Boeing

Eine Unternehmergeschichte
Von Böing zu Boeing
Der fast 100 Jahre alte US-amerikanische Konzern verdankt
seine Existenz einem Auswanderer aus Hohenlimburg.
Im »Model 80A«, entwickelt 1928, waren erstmals Flugbegleiterinnen
mit an Bord.
B
oeing« – das klingt zunächst einmal phonetisch wie ein K.o.Schlag im Comic. Darüber hinaus aber
ist dieser Name seit Jahrzehnten ein
verlässliches Synonym für die Überlegenheit der amerikanischen Luft- und
Raumfahrttechnologie weltweit. Boeing
eben.
Dass dieses Großunternehmen seinen Namen und seine Existenz einem
gebürtigen Westfalen verdankt, ist viel
zu wenig bekannt. Der Vater des Gründers hieß noch Wilhelm Böing, als er
60
sich 1868 auf den Weg in die neue Welt
machte – wie so viele andere damals
auch. Er entstammte einer alten Bauernfamilie, die ursprünglich zwischen
Kamen und Heeren auf einem Schultenhof ansässig war. Schon im
17. Jahrhundert hatte sich ein nicht
erbberechtigter Sohn in Hohenlimburg
bei Hagen niedergelassen. Seine Nachfahren betätigten sich dort erfolgreich
als Kaufleute und als Betreiber von
Hammerwerken. Der 1846 geborene
Wilhelm absolvierte nach dem Besuch
der Gymnasien in Lippstadt und Arnsberg eine zweijährige Dienstzeit in der
preußischen Armee und kämpfte
1866 als Vizefeldwebel bei Königgrätz
gegen Österreich. Anschließend entschloss er sich zur Auswanderung.
Mit 60 Dollar Barvermögen in den
Vereinigten Staaten angekommen, begann er noch einmal ganz von vorn.
Er arbeitete zunächst als Knecht
und Bretterstapler, bevor er in Detroit die Tochter eines ebenfalls aus
Deutschland stammenden Unterneh-
Westfalenspiegel 6-2015
William Boeing (re.)
und Pilot Eddie
Hubbard, 1919
Fotos: The Boeing Company
William Edward Boeing
(1881–1956)
mers heiratete. Mit seinem Schwiegervater zusammen engagierte er sich
sehr erfolgreich im Holzhandel, wobei
der nicht unerhebliche Erbanteil des
1875 in Hohenlimburg verstorbenen
Vaters sicherlich hilfreich war. So wurde er bald ein vermögender Mann,
der in seinen Gefühlen und Erinnerungen der deutschen Heimat verbunden blieb, solange er lebte. Der einzige Sohn, William Edward genannt, war
acht Jahre alt, als der Vater im Alter
von nur 44 Jahren infolge einer verschleppten Grippe starb.
Williams Interesse an der gerade
aufkommenden Fliegerei ist auf das
Jahr 1910 datiert. Seinen Flugschein
erwarb er, der zuvor an der Yale University studiert hatte, vor 100 Jahren,
1915. Im Jahr darauf konstruierte er
gemeinsam mit einem Freund in Seat­
tle ein Wasserflugzeug und gründete
die »Pacific Aero Products Company«,
die später zur »Boeing Airplane Company« wurde. Zu Beginn des Ersten
Weltkriegs hatte er die Schreibweise
des alten Familiennamens Böing – auch
aufgrund der zunehmenden antideutschen Ressentiments in der Bevölkerung – zu »Boeing« amerikanisiert.
Das Unternehmen lieferte zunächst
Flugzeuge für den Einsatz auf den europäischen Kriegsschauplätzen. Nach-
dem diese Nachfrage mit dem Frieden
von Versailles weggebrochen war, verlegte man sich auf die Herstellung von
Schlafzimmermöbeln. Erst 1926 bekam das Unternehmen wieder Wind
unter die Flügel, indem es in den lukrativen Markt der US-Inlandspostdienste investierte und eine Reihe nationaler
Fluglinien erwarb. Die unübersehbare
Marktmonopolisierung beunruhigte die
Bundesregierung in Washington D.C.
unter Präsident Roosevelt. Sie zerschlug den Konzern 1934 »aus nationalen Sicherheitsgründen« und stellte
ihn unter staatliche Aufsicht. Die Eigentümerfamilie wurde großzügig abgefunden. William, der vergeblich Einspruch
eingelegt hatte, zog sich auf sein Anwesen in der Nähe von Seattle zurück,
um fortan Pferde zu züchten. Während
des Zweiten Weltkriegs diente er der
US-Regierung noch einmal als Berater,
danach betätigte er sich als Sponsor
karitativer Einrichtungen. 1950 vermachte er seinen Landbesitz einem
Kinderhospital und lebte fortan auf
einer Luxusjacht, mit der er die Weltmeere befuhr. Auf einer dieser Fernreisen ist William Edward Boeing 1956 im
Alter von 74 Jahren gestorben.
Nach dem Eintritt der USA in den
Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich
der Konzern auf die Produktion von
Fernbombern für die US-Airforce. Die
B-17 wurde zum Schrecken der deutschen Zivilbevölkerung. Im Kalten Krieg
entwickelte Boeing mit der B-47 und
der B-52 jene Flugzeugmodelle, die
weltweit für amerikanische Interessen
zum Einsatz kamen. Weil die strategische Reichweite dieser Bomber für
einen Angriff auf die Sowjetunion nicht
ausreichte, entwickelten die BoeingIngenieure ein Tankflugzeug, das später in der Zivilluftfahrt zur legendären
Boeing 707 weiterentwickelt wurde,
der Mutter aller Jets, die heute die
Welt umrunden.
Und die Böings in Hohenlimburg?
Nur einmal noch hat der erfolgreiche
Unternehmer seine Verwandtschaft in
Deutschland besucht – da er kein
Deutsch mehr sprach, war die Verständigung schwierig. Dafür kamen dann
allerdings kurz vor Kriegsende die
Boe­
ing-Bomber, die die Heimatstadt
der Familie in Schutt und Asche legten.
Sie löschten auf diese Weise auch mit
dem Geburtsregister die Herkunftshinweise und die Geschichte der eigenen
Familie aus. Und noch etwas ist zu vermerken: Das Geburtshaus von Wilhelm
Böing, das den Bombenkrieg glücklich
überstanden hat, dient heute als türkisches Kulturzentrum – wie schön!
Volker Jakob
61