09/2016 Rechtsprechungsübersicht zur höheren Gewalt im

Mitteilungen der Juristischen Zentrale
VERTRAGSANWÄLTE
Nr. 09/2016
27.01.2016
ES
Rechtsprechungsübersicht zur höheren Gewalt im Reiserecht, § 651j BGB
Sehr geehrte Damen und Herren,
nach den aktuellen Terroranschlägen in beliebten Urlaubsgebieten wie Türkei oder
Ägypten, aber auch in europäischen Städten fragen viele Mitglieder nach, ob sie eine
bevorstehende Reise in solchen Fällen kostenlos stornieren können.
Gemäß § 651j BGB kann ein Reisender die Pauschalreise kündigen, wenn eine
Form der höheren Gewalt vorliegt, welche die Reise erheblich erschwert, gefährdet
oder beeinträchtigt und dieser Umstand bei Vertragsschluss nicht absehbar war.
Ein Indiz für das Vorliegen höherer Gewalt ist eine Reisewarnung des Auswärtigen
Amtes. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt jedoch, dass das Auswärtige Amt mit
Reisewarnungen äußerst zurückhaltend umgeht und die Gerichte den Begriff der höheren Gewalt durchaus weiter auslegen.
Es ist daher sinnvoll, sich bei der Beurteilung, ob ein Fall der höheren Gewalt vorliegt, nicht nur auf die Warnungen des Auswärtigen Amts zu beschränken, sondern
die Vielzahl bereits ergangener Urteile mit dem aktuellen Fall zu vergleichen.
Gerade bei der Beurteilung der „Terrorgefahr“ als Ereignis der höheren Gewalt sind
vereinzelte Anschläge, die dem allgemeinen Lebensrisiko des Reisenden unterfallen,
von zielgerichteten Angriffen gegen Touristen und Tourismuszentren abzugrenzen.
Hier ist jeweils für den Einzelfall zu beurteilen, inwieweit die Ereignisse einen kostenlosen Reiserücktritt rechtfertigen. In die Abwägung mit einbezogen werden dabei in
der Regel folgende Kriterien:




Schwere und Auswirkungen des Ereignisses
Zielrichtung des Anschlags (z. B. speziell Touristenzentren betroffen)
Ist das Urlaubsland bereits als krisengeschüttelt bekannt und wurde die Reise
trotzdem gebucht, muss der Reisende die Terrorgefahr einkalkulieren
Reisetermin unmittelbar im Anschluss an das Ereignis
2
Zur Unterstützung dient hier die aktualisierte Rechtsprechungsübersicht zu einschlägigen Urteilen der letzten Jahre.
Falls Sie zu dieser Problematik Urteile erstreiten, sind wir wie immer für eine Zusendung zwecks Aufnahme in die Rechtsprechungsübersicht sehr dankbar.
Mit freundlichen kollegialen Grüßen
Dr. Markus Schäpe
Leitung Juristische Zentrale
3
Höhere Gewalt im Reiserecht, § 651j BGB
Politische Einflüsse
Umstand
Höhere
Gewalt
Politische Unruhen auf
Sri Lanka
(1988)
nein
Golfkrise (1991)
ja
Politische Unruhen in
China (1989)
ja
Terroristischer
Anschlag an türkischer
Riviera (1993)
Terroranschlag in
Ägypten (1994)
Bombenanschläge auf
Sri Lanka
(1995)
Terroristische
Anschläge in Ägypten
Deklaration als
Kriegsgebiet durch die
PKK
Deklaration als
Kriegsgebiet durch die
PKK
Deklaration als
Kriegsgebiet durch die
PKK
nein
Begründung
Gericht
Aktenzeichen
Jahr
Politische Unruhen auf
Sri Lanka waren im Jahre OLG Düsseldorf 18 U 225/89 1990
1988 vorhersehbar
Ägyptenrundreise von
AG Stuttgart-Bad
9 C 1193/91 1991
Krise betroffen
Cannstatt
Aus ex ante Sicht war
nicht mit einer Beendigung
LG Frankfurt
2/24 S 302/90 1991
der Gefahrenlage zu rechnen
Einzelner Anschlag stellt
allgemeines Lebensrisiko
dar
LG Frankfurt
2/24 S 310/94 1995
Vorhersehbarkeit auf
Grund vorangegangener
AG Leverkusen
25 C 96/96
Anschläge
Höhere Gewalt erst bei flächendeckenden,
unkontrollierbaren innenein
AG Heidelberg
22 C 182/97
ren Unruhen mit bürgerkriegsähnlichem
Charakter
Einzelne Anschläge stellen
nein allgemeines Lebensrisiko LG Ludwigsburg 10 C 4460/97
dar
Eine Erklärung der PKK,
die gesamte Türkei sei
32 C
nein
AG Düsseldorf
Kriegsgebiet reicht nicht
12.616/99
aus
nein
ja
Drohung der PKK auch
Touristenzentren mit
Anschlägen zu überziehen
war zum Zeitpunkt der
Reise unvorhersehbar
AG Worms
nein
Auswärtiges Amt wies auf
keine konkrete Gefährdung hin
AG Hamburg
3 C 444/99
1996
1997
1998
1999
2000
17A C 471/99 2000
4
Vereinzelte
Anschläge der ETA in
Spanien (2001)
Anschläge vom
11.09.2001
Höhere Gewalt erst wenn
mit der ernsthaften
Möglichkeit gerechnet werAG Bad Homburg 2 C 1980/01 2001
nein
den muss, selbst Opfer
terroristischer Anschläge
zu werden
Folgeerscheinungen waren am 13.09.2001 nicht
ja
AG Hannover
511 C 1965/02 2002
absehbar
nein
Reisende hätten bei
Stornierung am
18.09.2001 abwarten müssen
(Reisebeginn Februar
2002)
AG Neuwied
Anschläge vom
11.09.2001
ja
Die Anschläge stellten für
eine Reise am 24.11.2001
bürgerkriegsähnliche
Zustände dar
LG Frankfurt
Sprengstoffattentat in
Sharm El-Sheikh
(2005)
nein
Anschläge vom
11.09.2001
4 zeitgleiche
nein
Anschläge in der Türkei
Israelische
Offensive im Gazastreifen (2008)
Politische Unruhen in
Ägypten (2011)
Massendemonstrationen in Ägypten (2013)
In Ägypten ist mit
Terroranschlägen zu rechnen
4 Anschläge stellen noch
keinen bürgerkriegsähnlichen Zustand dar
20 C 415/02
2002
2/24 S 239/02 2003
AG Bruchsal
3 C 125/06
2006
LG Düsseldorf
22 S 23/07
2007
nein
Kriegshandlungen sind voraussehbar und
beeinträchtigen
angrenzende Gebiete
nicht
AG Bonn
101 C 103/09 2009
ja
Reisender muss die Beeinträchtigung beweisen
AG Hamburg
17A C 331/11 2012
AG Hamburg
4 C 545/13
2014
AG München
231 C
9637/15
2015
ja
Gesamtpolitische Lage,
allg. Terrorgefahr und
nein
Ebola Epidemie in
Marokko
Dennoch kein Kündigungsgrund, da keine erhebliche
Gefährdung der Reise
Allgemeine Anschlagsgefahr in den Ländern des
Arabischen Frühlings;
Kenntnis bei Vertragsschluss
5
Umwelteinflüsse
Umstand
Höhere
Gewalt
Algenpest in Jugoslawien
ja
Blitzeinschlag
ja
Begründung
Algenpest stellt eine erhebliche
Beeinträchtigung dar
Blitzeinschlag in
Ferienhaus mit erheblichen Schäden stellt höhere Gewalt dar
Gericht
Aktenzeichen Jahr
LG Frankfurt
2/24 S 319/89 1991
LG Frankfurt
2/24 S 179/90 1991
Tropischer Wirbelsturm
ja
Wirbelsturm in der
Dominikanischen Republik
ist nicht vorhersehbar
Erdbeben
nein
Bloße Angst vor
Nachbeben berechtigt
nicht zur Kündigung
AG Nürtingen
nein
Keine konkrete Gefahr für
die Durchführung der
Reise
LG Köln
10 S 395/00
2001
BGH
X ZR 147/01
2002
Heftige Regenfälle,
Überschwemmungen
und Erdbeben in
Mexiko (1999)
Hurrikane in der
Dominikanischen
Republik (1998)
ja
SARS
(Lungeninfektion)
ja
Tsunami (2004)
ja
2 Wirbelstürme
ja
Chikungunya Erreger
nein
Waldbrände
ja
Behördliches Flugverbot wegen Aschewolke
ja
Eintritt des schädigenden
Ereignisses war mit erheblicher Wahrscheinlichkeit
(25 %) anzunehmen
LG Kleve
Epidemien sind höhere
AG Augsburg
Gewalt
Flutkatastrophe durch
Tsunami in Südostasien ist
AG Dachau
höhere Gewalt
Schädigendes Ereignis
stand mit erheblicher
AG Neuwied
Wahrscheinlichkeit bevor
Maßnahmen können vor
LG München
Infektion schützen
Waldbrände stellen NaturAG Weissenfels
katastrophe dar
Mangels Anreisemöglichkeit keine Teilnahme an
BGH
Kreuzfahrt
6 S 305/99
2000
16 C 1661/00 2001
14 C 4608/03 2004
3 C 687/05
2005
4 C 27/06
2006
22222/07
2008
1 C 626/10
2011
X ZR 2/12
2012
6
Sonstige Einflüsse
Umstand
Reaktorunfall in
Tschernobyl (1986)
Schiffskollision
Änderung der
Einreisebestimmungen
für Bulgaren in
Thailand (2002)
Verspätete
Jagdsaison in Sibirien
Vogelschlag am Flugzeug
Beschädigung eines
Atomkraftwerks in
Fukushima (2011)
Stand: 01/2016
Höhere
Gewalt
Begründung
Gericht
Aktenzeichen
Gesundheitsgefährdung
der Reisenden durch
BGH
VII ZR 60/89
ja
Strahlenbelastung war
nicht auszuschließen
Schiffskollision bei einer
Nilreise ist keine höhere
nein
LG Frankfurt
2/24 S 328/90
Gewalt, sondern
Unmöglichkeit
Beschaffung des Visums
war nicht mehr möglich
OLG Frankfurt
16 U 49/04
ja
und die Änderung nicht angekündigt
Jagdreise kann gekündigt
LG Mönchengladja
werden, wenn Jagdsaison
4 S 64/06
bach
erst später eröffnet wird
Betrieblicher
nein
Zusammenhang mit der
KG
8 U 15/09
Luftfahrt
AG Berlin-NeuLage im Atomkraftwerk
kölln
9 C 298/11
ja
konnte nicht mit Sicherheit
(ebenso AG
beurteilt werden
Frankfurt, AZ.: 31
C 2617/11)
Jahr
1989
1991
2004
2007
2009
2011