Wirtschaft und Religion bei Georg Simmel Pascal Berger Lehrgebiet für Allgemeine Soziologie am IfS der RWTH Aachen Er war “Nervous to the fingertips, of the almost frightening sensibility of the neurasthenic, Simmel is one of the most ingenious interpreters of psychic emotions, incomparable in the gift to feel the most subtle vibrations of the soul.” – Georg Simmel war Zeitzeuge eines stürmenden und drängenden Wachstums des noch jungen Deutschen Kaiserreichs zur Jahrhundertwende. Bevölkerung und Wirtschaft wuchsen geradezu explosiv, das Lebensbild vieler Menschen änderte sich in einem geradezu atemberaubenden Tempo. Während noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Gemütlichkeit zum Selbstverständnis der Deutschen zählte und die Postkutsche zwischen Berlin und Dresden alle 14 Tage verkehrte, war zur Jahrhundertwende davon nichts mehr zu spüren, das Leben in den deutschen Städten veränderte sich frappierend und schnell: Die mechanisierte Massenproduktion erlebte ihre Anfänge, die Telegraphie – das „Internet“ des viktorianischen Zeitalters – wurde zum Symbol und Medium des hektischen Börsentreibens, das Arbeitstempo in den Fabriken wurde merklich erhöht, die Geschwindigkeit der noch gar nicht vor so langer Zeit erfundenen Eisenbahnen beschleunigte sich auf 100 Stundenkilometer, das Fahrradfahren wurde zum Volkssport, in der Dampfschiffahrt gab es eine Jagd um Geschwindigkeitsrekorde, und die ersten PKWS – wenn auch noch kein Massenfortbewegungsmittel – prägten eindrücklich die Wahrnehmung der Bürger. Die Rigidität der feudalen Strukturen wurde gesprengt, ohne dass jedoch andere, feste Strukturen an ihre Stelle traten. Stattdessen wird der Übergang, die „schöpferische Zerstörung“ zum Normalzustand, die Dauervibration des hektischen Großstadtlebens zum Inbegriff der Moderne, und Charles Darwins 1858 publizierte „Origin of Species“ setzte den kontinuierlichen Formwandel des Lebens an die Stelle letzter apriorischer Gewissheiten - Kein Zweifel, die Zeichen standen auf Tempo, Bewegung, Metamorphose. Mit der Sprengung starrer Strukturen sah Simmel eine ungeheure, bis dato nicht dagewesene Chance auf Selbstbestimmung, zugleich aber auch – paradoxerweise – die Gefahr einer ebenso zunehmenden Fremdbestimmung. Wissenschaft und Aufklärung deskreditierten die religiösen Dogmen; zugleich wirkte das Individualisierungsversprechen der Geldwirtschaft ungemein attraktiv. So attraktiv, dass sie ihren Anspruch an das Individuum ins Absolute zu übersteigern vermag – und selbst zur modernen Form der Religion, zum „Mammonismus“ auszuarten droht. Geld, so Simmel, ist wie kaum ein anderes das Symbol einer absoluten Bewegung. In meiner Dissertation gehe ich dem Spannungsfeld von Wirtschaft und Religion nach, wie es Simmel in seinen Beobachtungen von Individuum und Gesellschaft zeichnet. Sie treten beide als Forderungen an das Handeln und Erleben dem Individuum gegenüber, und jede dieser Ordnungsarten fordert absolute Geltung. Es ist nach Simmel gerade das Bezeichnende der Moderne, dass es der Eigenverantwortlichkeit des Individuums obliegt, wie es mit diesen Forderungen umgeht: den Verführungen wie Bequemlichkeiten der Moderne nachzugeben, sich treiben zu lassen, in jedem Moment schon im nächsten zu sein, die Austauschbarkeit des Augenblicks vor Augen - oder den Halt in der Vollendung seines ur-eigenen Potenzials zu suchen.
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