Unsichtbare Minicomputer fürs Ohr

Markt
Dienstag, 11. August 2015 / Nr. 183
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11
BOTE DER URSCHWEIZ
Unsichtbare Minicomputer fürs Ohr
HÖREN Immer mehr Menschen leiden hierzulande unter
Hörschwierigkeiten. Doch oft
lassen sich Betroffene zu spät
helfen. Dabei bieten moderne
Hörgeräte nicht nur Komfort,
sie sind auch bezahlbar.
Zu viel laute Musik
und Lärm schaden
GEHÖR alm. Das Gehör kann über
einen längeren Zeitraum durch
ständigen Lärm am Arbeitsplatz
oder das permanente Hören lauter
Musik beschädigt werden. Die Folgen der Dauerbeschallung durch
MP3-Player für das Gehör von Jugendlichen untersucht unter anderem die Suva. Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt schätzt,
dass 7 Prozent der Nutzer portabler Musikwiedergabegeräte ihren
Ohren eine Belastung zumuten, die
den Grenzwert für Lärm am
Arbeitsplatz überschreitet. Grenzwertüberschreitung bedeutet hier
nicht «sicherer Gehörschaden»,
sondern «Gehörgefährdung».
ANDREAS LORENZ-MEYER
[email protected]
Sobald ein Geräusch an der Ohrmuschel eintrifft, beginnt das menschliche
Gehör, es zu verarbeiten. Die Schallwellen bewegen sich durch den Gehörgang
zum Mittelohr, wo sie das Trommelfell
vibrieren lassen. Diese Vibrationen bringen auch die Gehörknöchelchen zum
Schwingen, was sich auf die Flüssigkeit
in der Gehörschnecke überträgt, die zum
Innenohr gehört. Dort sitzen Tausende
von kleinen Haarzellen, welche die
Schwingungen in Nervensignale umwandeln und ans Hörzentrum des Gehirns
weiterleiten. Dort wird das Geräusch
schliesslich wahrgenommen, als Stimme,
als Klavierklänge oder als Nachbars Rasenmäher.
zum Hörgerät weiterleitet. Auch für die
Freizeit gibt es Hilfsmittel. Hörgeräte
lassen sich drahtlos mit dem Fernseher
oder der Stereoanlage koppeln. Zudem
werden Spezialtelefone für Schwerhörige angeboten. Derungs von Pro Audito
empfiehlt, ein Hörgerät mit einer Telefonspule zu kaufen. Denn nur mit der
lässt sich das Telefon auch nutzen. Den
Alltag erleichtern auch zusätzliche Fähigkeiten.
Jeder Dritte über 65 betroffen
Doch die Haarzellen in der Gehörschnecke sterben mit zunehmendem
Alter ab. Die klassische Ursache für
einen Hörverlust, der unumkehrbar ist.
Laut Pro Audito Schweiz ist hierzulande
jeder Dritte über 65 Jahren schwerhörig.
Erste Anzeichen für Altersschwerhörigkeit zeigten sich oft schon zwischen 40
und 50. Aber nicht nur Ältere sind betroffen. Schätzungsweise eine Million
Menschen mit Hörproblemen leben in
der Schweiz. 300 000 bis 500 000 haben
einen mittel- bis hochgradigen Hörverlust, der die tägliche Kommunikation
behindert, so Pro Audito. Die EurotrakStudie 2015 bestätigte zuletzt, wie ver-
«Betroffene lassen
sich rund 7 Jahre zu
spät mit Hörsystemen
versorgen.»
DORIS DERUNGS,
P R O AU D I TO
breitet Schwerhörigkeit in der Schweiz
ist. Bei der repräsentativen Befragung
gab jeder Zwölfte an, unter Hörproblemen zu leiden. 3,3 Prozent der Bevölkerung besitzen ein Hörgerät, es müssten
aber mehr sein. Der Anteil der Personen,
die etwas dagegen tun, liegt aber bei nur
41 Prozent. Nur 35 Prozent der Bevölkerung haben in den letzten fünf Jahren
einen Hörtest gemacht, 44 Prozent noch
nie. Von denen, die ein Hörgerät tragen,
gaben fast alle an, dass es ihre Lebensqualität verbessert. Sie neigen weniger
zu Depressionen, schlafen besser als
Menschen mit unversorgter Hörminderung, so die Studie. «Zielscheibe von
Gespött oder Ausgrenzung» werden die
wenigsten.
Problem nicht unterschätzen
Doris Derungs von Pro Audito: «Betroffene lassen sich im Schnitt rund
sieben Jahre zu spät mit Hörsystemen
versorgen.» Dass sich viele dem Problem
nicht stellen, bestätigt auch Thomas
Linder, Chefarzt am Luzerner Kantonsspital: «Eine schleichende Hörverschlechterung wird am Anfang meist
verdrängt.» Der Patient lerne selber, sich
auf das Lippenlesen zu konzentrieren,
meide lärmige Umgebung und beschuldige meist die anderen, undeutlich und
zu leise zu sprechen. Die Entscheidung
für ein Hörgerät stellt eine Hürde dar.
«Viele wollen sich damit nicht zeigen»,
sagt Linder.
Dabei ist mit Schwerhörigkeit nicht zu
spassen. «Fehlende Versorgung führt zu
sozialer Isolation», so Linder. Der Betroffene zieht sich zurück, meidet gesellige Anlässe, ermüdet rascher, weil er
IV zahlt 840 Franken pro Ohr
Auf den ersten Blick kaum zu erkennen: Moderne
Hörgeräte sind klein und extrem leistungsfähig.
Getty
Gerät ab 0 Franken
PREISE mim. Hörgeräte gibt es in
allen Formen und Farben. Teurere
Geräte bieten dank Synchronschaltungen bei Wind oder mit speziellen
Filtern mehr Komfort. Hoergeraetevergleich.ch vertreibt Geräte von
Unitron, einem kanadischen Hersteller, der zur Sonova-Gruppe gehört.
Einige Preisbeispiele (AHV-Zuzahlungen und Rabatte berücksichtigt):
" Budget «N Moxi Kiss 500» ab 0
Franken. Telefongespräche mit beiden Ohren sind damit aber nicht
möglich.
" Basis «N Moxi Kiss 600» ab 499
Franken. Telefongespräch mit beiden Ohren möglich.
" Standard «N Moxi Kiss 700» ab
1111 Franken. Mit Nachbildung der
natürlichen Akustik der Ohrmuschel.
" Advanced «N Moxi Kiss 800» ab
1799 Franken. Intelligente Funktionen für optimales Sprachverstehen
auch unter schwierigen akustischen
Verhältnissen.
sich stark konzentrieren muss, um das
Gesprochene zu verstehen. Am Ende
kann es sogar zu depressiven Verstimmungen kommen. Eventuell nehmen
ohne Hörgerät auch andere kognitive
Leistungen früher ab. Linder fasst es so
zusammen: «Den Prozess des Hörverlusts
kann ein Hörgerät nicht beeinflussen.
Aber eine zu späte Versorgung verschlimmert die direkten und indirekten Konsequenzen.»
Phonak ist ein Schweizer Hörgerätehersteller, zur Sonova-Gruppe gehörend.
Auch der Geschäftsführer von Sonova
Schweiz, Luca Mastroberardino, sieht
noch einen unnötigen Makel, der dem
Hörgerät anhaftet. Im Gegensatz zur
Brille. Schon bei geringer Schwächung
der Sehkraft legten sich die Leute eine
zu. Menschen mit Hörminderung fürch-
Hörprobleme der Schweizer 2015
8%
3,3%
Stärke der
Hörminderung
(Anteile)
haben eine Hörminderung
besitzen ein Hörgerät
14%
schwer
4%
profund
51%
moderat
ten dagegen immer noch oft, diskriminiert zu werden.
Keine Operation nötig
Hörgeräte sind heute kleine Minicomputer, die an einem lauten Ort den
Umgebungslärm unterdrücken, sodass
man den Gesprächspartner besser versteht. Die Versorgungsrate bei den unter
44-Jährigen ist deutlich gestiegen, so
Mastroberardino. Was an den unsichtbaren Im-Ohr-Geräten liegt, welche die
Akzeptanz von Hörgeräten erhöhen. Die
Modelle sitzen ganz diskret im Gehörgang kurz vor dem Trommelfell. Hier
müssen die Träger keine Angst um ihr
Image haben. Das Im-Ohr-Gerät setzt
ein Akustiker ein, eine Operation ist
nicht nötig. Bei den ganz schweren
Fällen kann ein Cochleaimplantat das
«Eine schleichende
Hörverschlechterung
wird am Anfang
meist verdrängt.»
T H O M AS L I N D E R
KA N TO N S S P I TA L LU Z E R N
Franken und für eine beidseitige Versorgung 1650 Franken. Die Hörversorgung in der Schweiz ist unbefriedigend,
stellt Derungs fest. Sie hält die IV-Pauschale für zu tief angesetzt, um mittelbis hochgradigen Hörverlust ausreichend zu versorgen. Die private Kostenbeteiligung von durchschnittlich rund
4000 Franken pro Hörgerät belaste sehr
viele Betroffene. Derungs fordert eine
höhere Kostenbeteiligung der IV.
Stiftung hilft bei Finanzierung
31%
Grafik: Oliver Marx
Quelle: Eurotrak-Studie 2015
Stellt sich die Frage der Bezahlbarkeit.
Ein Hörgerät muss erst einmal finanziert
werden können. Je nach Ausführung
kostet es zwischen 500 und 3000 Franken oder noch mehr. Bei schwerhörigen
Kindern übernimmt die Invalidenversicherung (IV) in der Regel die Kosten.
Bei Erwachsenen sieht es nicht so gut
aus. IV und Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) kürzten 2011 die
Pauschalen. Die IV zahlt pro Ohr 840
mild
Richtige sein. Diese elektronische Innenohrprothese wird an Kliniken wie dem
Luzerner Kantonsspital operativ eingesetzt. Das Implantat wandelt den Schall
in elektrische Impulse um, welche den
Hörnerv im Innenohr (Cochlea) stimulieren. So nimmt der Träger wieder
Sprache und Geräusche wahr. Das Implantat sitzt im Ohr, der dazu gehörende Audioprozessor mit Sendespule befindet sich wie ein Hörgerät hinter dem
Ohr. Das Hörgerät allein reicht im Berufsalltag manchmal nicht. Konferenzen
etwa bringen Schwerhörige mitunter in
schwierige Hörsituationen. Trotz Hörgerät verstehen sie nicht immer alles.
In diesem Fall kann ein Mikrofon auf
dem Konferenztisch die Gespräche einfangen und Hintergrundgeräusche herausfiltern, bevor es das Gesprochene
Jemand, der bei der Erstversorgung
schon 65 ist, muss mit der AHV-Pauschale auskommen. Diese beträgt 630
Franken, jedoch nur für ein Ohr. Nötig
sei aber, so Derungs, eine beidohrige
Versorgung und Finanzierung im AHVAlter. Der Mensch ist schliesslich auf
Stereohören ausgerichtet und benötigt
beide Ohren für die räumliche Orientierung. Wem ein Hörgerät zu teuer ist,
der kann sich über die Irma-WigertStiftung finanzielle Hilfe holen. Pro Audito unterstützt Antragsteller dabei.
Auch Linder vom Luzerner Kantonsspital findet: Die AHV sollte zwei Hörgeräte teilfinanzieren. Gerade Ältere sind
auf beidseitige Versorgung angewiesen.
Es bringe auch nichts, nur ein Auge mit
einem geschliffenen Brillenglas zu versorgen. Ist im berufstätigen Alter eine
normale Hörgeräteversorgung nicht
möglich, sollte sich der Patient als Härtefall bei der IV melden, rät Linder. Dazu
gebe es klare Kriterien. Der Akustiker
sollte seinen Kunden beim Antrag unterstützen. Die IV erteilt dann einer Zentrumsklinik wie dem Luzerner Kantonsspital den Auftrag, den Fall zu prüfen.