Strafprozessrecht II (FS 16), Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Daniel Jositsch, 18. März 2016 Vorgelegt von Darina Maria Frangi Selbstbegünstigung im Strafverfahren 1. Einleitung Wer jemanden gemäss Art. 305 Abs. 1 StGB der Strafverfolgung, dem Strafvollzug oder dem Vollzug einer der in den Artikeln 59-61, 63 und 64 vorgesehenen Massnahmen entzieht, das heisst begünstigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Angela Magdici, ehemalige Aufseherin im Gefängnis Limmattal, verhalf dem Sexualstraftäter, Hassan Kiko, in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2016 zur Flucht. Gemäss Art. 305 Abs. 1 StGB macht sich Magdici wegen Begünstigung strafbar. Kiko hingegen bleibt straflos, weil sein selbstbegünstigendes Verhalten nicht unter den Straftatbestand von Art. 305 Abs. 1 StGB fällt.1 Das Beispiel aus der Praxis verdeutlicht die unterschiedliche, rechtliche Handhabung von Begünstigung und Selbstbegünstigung. Unter Begünstigung wird die mindestens teilweise wirksame Hinderung der schweizerischen Strafrechtspflege verstanden, geschützt werden soll demnach die Zuverlässigkeit und Integrität der funktionierenden Strafrechtspflege.2 Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf der Selbstbegünstigung, also dem Fall, in dem sich der Betroffene selbst vor einer androhenden Strafverfolgung bzw. einem Strafvollzug entzieht. 2. Inhalt der Selbstbegünstigung 2.1 Einfache Selbstbegünstigung Schon gemäss Wortlaut von Art. 305 StGB wird klar, dass keine strafbare Begünstigung begeht, wer sich selber der Strafverfolgung oder –vollstreckung entzieht.3 Folglich kann 1 2 KUNZ NINA/ HUDEC JAN, Gefängnis Limmattal, Aufseherin flieht mit Gefangenem, NZZ online vom 9.02.2016, http://www.nzz.ch/zuerich/aktuell/gefaengnis-limmattal-aufseherin-flieht-mit-gefangenemld.5157. BGE 9 IV 120; 99 IV 275; 101 IV 315; 104 IV 242; DELNON VERA/RÜDY BERNHARD, in NIGGLI ALEXANDER/WIPRÄCHTIGER HANS (Hrsg.), Strafrecht II, Art. 111 – 392 StGB, Basel 2013 (zit.: BEARBEITER, BSK, Art. x N y), Art. 305 N 5; TRECHSEL STEFAN/AFFOLTER-EIJSTEN , in: TRECHSEL STEFAN/PIETH MARK (Hrsg.), Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl., Zürich 2011, (zit.: BEARBEITER, Praxiskommentar, Art. x N y), Art. 305 N 1. 1 sich nur der Begünstigung strafbar machen, wer selber nicht bereits aufgrund einer Vortat im Visier der Strafbehörden steht.4 Das Prinzip der Straflosigkeit bei (einfacher) Selbstbegünstigung prägt das gesamte Strafverfahren. Insbesondere wird dies beim rechtsstaatlichen Grundsatz deutlich, wonach niemand sich selbst belasten muss.5 Davon ausgenommen sind gewisse Fälle des Nebenstrafrechts, wie bspw. Art. 51 i.V.m. 92 SVG (Pflichtwidriges Verhalten bei Unfällen). Das BGer begründet diese Ausnahmen damit, dass die Auslegung einer Strafbestimmung nach ihrem wahren Sinn auch zu Ungunsten eines Angeschuldigten zulässig sei.6 Ebenfalls nicht straffrei gemäss Art. 305 StGB e contrario bleibt, wer selber schuldlos ist und fälschlich angibt, den Schuldigen nicht zu kennen.7 2.2 Qualifizierte Selbstbegünstigung Von qualifizierter Selbstbegünstigung wird gesprochen, wenn die selbstbegünstigende Verhaltensweise seinerseits eine strafbare Handlung darstellt. Im Gegensatz zur einfachen Selbstbegünstigung steht sie grundsätzlich unter Strafe.8 Dabei ist aber nicht die qualifizierte Selbstbegünstigung selbst strafbar, sondern der jeweilige Straftatbestand, der damit erfüllt wird. HAUSWIRTH wählt die etwas präzisiere Formulierung der „Verwirklichung eines Straftatbestandes in Selbstbegünstigungsabsicht“.9 Diese Formel der Strafbarkeit der qualifizierten Selbstbegünstigung findet aber nicht in allen Fällen Anwendung.10 Klar ist, dass sich die Straflosigkeit des Selbstbegünstigers nur auf die Begünstigung selbst beschränken kann. Andere Delikte, welche im Zuge der Selbstbegünstigung zugleich begangen werden, wie bspw. die Ermordung eines Zeugen oder eine Urkundenfälschung, sind nicht von der Straflosigkeit erfasst, da dabei nicht das 3 4 5 6 7 8 9 10 BGE 73 IV 239; 96 IV 168; 115 IV 230 f.; 118 IV 260. CASSANI URSULA, Commentaire du droit pénal suisse, Partie spéciale, Vol. 9: Crimes ou délits contre ladministration de la justice, art. 303-311 CP, Bern 1996 (zit.: CASSANI, Art. x N y), Art. 305 N 6 und 8 f.; DELNON/RÜDY, BSK, Art. 305 N 11. HASLER THOMAS, Ein Volk von Vorbestraften, Selbstbegünstigung ist nicht strafbar. Das schützt uns alle, Tagesanzeiger online vom 16.02.2016, http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/ein-volkvon-vorbestraften/story/26393839. BGE 115 IV 55. AGVE 1990 Nr. 24; TRECHSEL/AFFOLTER-EIJSTEN, Praxiskommentar, Art. 305 N 13. Vgl. etwa BGE 124 IV 130; 118 IV 260, 115 IV 230; TRECHSEL/AFFOLTER-EIJSTEN, Praxiskommentar, Art. 305 N 13. HAUSWIRTH ANDREAS, Die Selbstbegünstigung im Schweizerischen Strafrecht, Diss., Bern 1984, (zit.: HAUSWIRTH, S. x), S. 47. SCHRÖDER KERSTIN, Freiheitsentzug im Jugendstrafverfahren, Eine dogmatische Analyse mit Blick auf die Legitimation einer Fürsorge- und Erziehungshaft, in: Luzernen Beiträge zur Rechtswissenschaft, Bd. 52, Zürich 2011, (zit.: SCHRÖDER, S. x), S. 99. 2 in Art. 305 StGB geschützte Rechtsgut verletzt wird. 11 Das blosse Motiv der Selbstbegünstigung wirkt folglich nicht automatisch strafbefreiend.12 Straflos bleibt nach herrschender Ansicht hingegen die gleichzeitige Mitbegünstigung eines Dritten, was den Fall betrifft, „wenn die von einem Tatbeteiligten zugunsten eines anderen Tatbeteiligten begangene Erschwerung der Verfolgung notwendigerweise mit einer Selbstbegünstigung einhergeht und von einem auf diese gerichteten Willen getragen wird.“13 Ebenfalls straflos bleibt die Begünstigung, wenn der Verfolgte/Verurteilte dem Dritten Hilfe leistet oder diesen anstiftet, ihn (den Verfolgten/Verurteilten) zu begünstigen,14 dies obwohl Fremdbegünstigung nach Art. 305 StGB unter Strafe steht. Die Unterscheidung von Strafbarkeit und Straflosigkeit lässt sich damit rechtfertigen, dass in letzteren Fällen keine Verletzung eines anderen, sondern des von Art. 305 StGB geschützten Rechtsguts vorliegt. Entscheidend ist somit die ratio legis des Art. 305 StGB. 15 Aufgrund der Akzessorietät der Teilnahme stehen darüber hinaus auch die Anstiftung und Gehilfenschaft zur Selbstbegünstigung durch einen Dritten nicht unter Strafe.16 DONATSCH/WOHLERS weisen für die Gehilfenschaft allerdings darauf hin, dass diese nur straflos bleibt, wenn die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung nicht konkret durch das Verhalten des Dritten erschwert wird.17 Dem ist zuzustimmen, da andernfalls gerade ein Fall von täterschaftlicher Fremdbegünstigung vorliegt. Im anfänglich erläuterten Beispiel hat sich Magdici gerade deswegen strafbar gemacht, weil sie die Strafvollstreckung konkret erschwerte, indem sie Kiko aus der Zelle befreite. 11 12 13 14 15 16 17 STRATENWERTH GÜNTER/BOMMER FELIX, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II: Straftaten gegen Gemeininteressen, 7. Aufl., Bern 2013, (zit.: STRATENWERTH/BOMMER, § x, Rz. y), § 57, Rz. 14. TRECHSEL/AFFOLTER-EIJSTEN, Praxiskommentar, Art. 305 N 13. STRATENWERTH GÜNTER/WOHLERS WOLFGANG, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 3. Aufl., Bern 2013, (zit.: STRATENWERTH/WOHLERS, Art. x N y), Art. 305 N 8. CASSANI URSULA, Commentaire du droit pénal suisse, Partie spéciale, Vol. 9: Crimes ou délits contre ladministration de la justice, art. 303-311 CP, (zit.: CASSANI, Art. x N y), Art. 305 N 25 ff.; HAUSWIRTH, S. 54 ff.; STRATENWERTH/WOHLERS, Art. 305 N 8; TRECHSEL/ AFFOLTER-EIJSTEIN, Praxiskommentar, Art. 305 N 13. SCHRÖDER, S. 99. STRATENWERTH/WOHLERS, Art. 305 N 8; TRECHSEL/ AFFOLTER-EIJSTEIN, Praxiskommentar, Art. 305 N 13. DONATSCH ANDREAS/WOHLERS WOLFGANG, Strafrecht IV, 4. Aufl., Zürich 2011 (zit.: DONATSCH/WOHLERS, S. x), S. 467 f. 3 2.3 Abgrenzung zur Hinderung einer Amtshandlung Das Bundesgericht stellte fest, dass derjenige, der zur Vermeidung einer Strafverfolgung aus einer polizeilichen Kontrolle flüchtet, zwar nicht auf Basis von Art. 305 StGB belangt werden kann, allerdings gemäss Art. 286 StGB wegen Hinderung einer Amtshandlung bestraft werden kann. 18 Die h.L. widerspricht der bundesgerichtlichen Praxis m.E. zu Recht mit der Begründung, dass jede Selbstbegünstigung auch eine Amtshandlung darstelle und mit einem (beschränkten) Fluchtverbot die Straflosigkeit der Selbstbegünstigung unterlaufen werde.19 3. Rechtsgrundlagen der Straflosigkeit der Selbstbegünstigung STRATENWERTH/BOMMER sehen den sachlichen Grund der Straflosigkeit der (einfachen) Selbstbegünstigung wie beim Nemo-tenetur-Prinzip in der Unzumutbarkeit des Betroffenen sich selber auszuliefern. 20 Die Begründung ist m.E. zu eng, da sie nur passives Verhalten erklärt, nicht aber den Fall, wenn sich der Betroffene aktiv einer Strafverfolgung oder Strafvollstreckung entzieht. Fraglich ist, ob die Straflosigkeit (darüber hinaus) auf einem übergeordneten Recht im Sinne eines Verfahrensgrundrechts beruht, das dem Betroffenen einen weitreichenderen Schutz bieten würde. Die Überlegung ist insofern entscheidend, als dass bspw. ein Freiheitsentzug zur Verhinderung einer Verdunklungshandlung das Verfahrensrecht auf Selbstbegünstigung tangieren würde, wenn man die Straflosigkeit der Selbstbegünstigung auf ein übergeordnetes Recht zurückführen könnte.21 Art. 305 StGB soll einerseits deutlich machen, dass Selbstbegünstigung hinsichtlich des vom Artikel geschützten Rechtsgutes straflos ist, andererseits soll eben gerade sichergestellt werden, dass die Zuverlässigkeit und Integrität der funktionierenden Strafrechtspflege strafrechtlichen Schutz geniesst.22 Wer gegen dieses Rechtsgut vorgeht, verletzt es. Der Unterschied bei der Selbstbegünstigung ist lediglich, dass die Verletzung, die sich direkt auf die Selbstbegünstigung bezieht, ohne Strafe bleibt. Der Selbstbegünstiger geniesst mit anderen Worten eine Besserstellung gegenüber dem Femdbegünstiger, einen 18 19 20 21 22 BGE 124 IV 127 ff.; 85 IV 142. DELNON/RÜDY, Art. 305 N 37; FLACHSMANN STEFAN, in: DONATSCH ANDREAS (Hrsg.), StGB Kommentar, Schweizerisches Strafgesetzbuch und weitere einschlägige Erlasse mit Kommentar zu StGB, JStG, den Strafbestimmungen des SVG, BetmG und AuG, 19. Aufl., Zürich 2013, (zit.: BEARBEITER, StGB-Kommentar, Art. x N y), Art. 286 N 10. STRATENWERTH/BOMMER, § 57, Rz. 12; So auch SCHRÖDER, S. 100. SCHRÖDER, S. 101. BGE 104 IV 242; 101 IV 315; DELNON/RÜDY, BSK, Art. 305 N 5. 4 verfahrensrechtlichen Anspruch auf Selbstbegünstigung gibt es hingegen nicht. 23 Die Unterscheidung ist entsprechend nicht auf ein übergeordnetes Recht zurückzuführen. Die Straflosigkeit der Selbstbegünstigung ist damit gerechtfertigt, dass jegliche gegen die Strafandrohung gerichtete, natürliche Reaktion deswegen geduldet werden muss, da es dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb geschuldet ist, einer gegen sich angedrohten Strafe entgegenzuwirken. 24 In der Schweiz steht die (einfache) Selbstbegünstigung folglich aufgrund einer kriminalpolitischen und normativen Wertung nicht unter Strafe, nicht aber aufgrund eines übergeordneten Verfahrensgrundrechtes.25 4. Fazit Die (einfache) Selbstbegünstigung, das heisst der Fall, in dem sich der Betroffene selbst vor einer androhenden Strafverfolgung bzw. einem Strafvollzug entzieht, ist in der Schweiz straflos. Dies lässt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 305 Abs. 1 StGB e contrario ableiten. Der Grundgedanke dahinter liegt darin, dass es dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb entspricht, sich selber zu begünstigen. Die Straflosigkeit beschränkt sich dabei allerdings nur auf die Begünstigung selbst. Werden im Zuge der Selbstbegünstigung weitere Straftatbestände erfüllt, bleiben diese nicht straffrei. Dagegen liegt kein tatbestandsmässiges Verhalten vor, wenn im Zuge der Selbstbegünstigung kein anderes, sondern das von Art. 305 StGB geschützte Rechtsgut verletzt wird. Entscheidend ist die ratio legis des Art. 305 StGB. Straflos bleiben somit die Fälle, in denen mit der Selbstbegünstigung ein Dritter mitbegünstigt wird, wenn der Verfolgte/Verurteilte dem Dritten Hilfe leistet oder diesen anstiftet, ihn (den Verfolgten/Verurteilten) zu begünstigen, sowie (aufgrund der Akzessorietät der Teilnahme) bei der durch Dritte geleisteten Anstiftung und Gehilfenschaft zur Selbstbegünstigung, sofern die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung nicht konkret durch die Gehilfenschaft erschwert wird. 23 24 25 SCHRÖDER, S. 102. REHBERG JÖRG, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 4. Aufl., Zürich 2011, (zit.: Rehberg, § x, S. y), § 94, S. 357; Ähnlich auch BETTENHAUSEN RÜDIGER, Begünstigung im schweizerischen Strafrecht, Diss., Basel 1970, (zit.: BETTENHAUSEN, S. x), S. 76. SCHRÖDER, S. 104. 5 Eigenständigkeitserklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende schriftliche Arbeit selbstständig und nur unter Zuhilfenahme der in den Verzeichnissen oder in den Anmerkungen genannten Quellen angefertigt habe. Ich versichere zudem, diese Arbeit nicht anderweitig als Leistungsnachweis verwendet zu haben. Eine Überprüfung der Arbeit auf Plagiate unter Einsatz entsprechender Software darf vorgenommen werden. 18. März 2016 Darina Maria Frangi 6
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