Das „verschollene“ Mindener Fragment Christherre-Chronik. Bifolium aus einer mitteldeutschen Handschrift auf Pergament. [Westfalen (?), erstes Drittel des XIV. Jahrhunderts]. Blattgröße 273 x 205 mm, Schriftspiegel 212 x 169 mm (Zeilengerüst mit Tinte vorgezeichnet; am Rand Einstichlöcher). Textualis in 2 Spalten zu je 38 Zeilen. Versanfangsbuchstaben als Majuskeln, diese in eine eigene Spalte ausgerückt und auf den SS. 1r, 1v, und 2r rubriziert. Abschnittsgliederung durch (neun) zweizeilige Initialen, blau und rot, mit Fleuronée in der Gegenfarbe. Reimpunkte hinter jedem Vers. Offenbar das einzig erhaltene Fragment dieser Handschrift. Das vorliegende Doppelblatt enthält die Verse 7422-7573 und 8182-8337 (nach dem Text der Göttinger Handschrift, Transkription von Monika Schwabauer; online) der Christeherre-Chronik. Es handelt sich, wie aus der Anzahl der fehlenden Verse ersichtlich ist, um das erste und sechste Blatt eines Sexternus. Die Christherre-Chronik ist eine anonyme Weltchronik in mittelhochdeutschen Reimpaaren. Benannt ist sie nach ihrem Eingangsvers: Crist herre keiser uber alle craft. Sie wurde in Thüringen am Hofe Heinrichs des Erlauchten (regierte 1247–1288) verfaßt, vermutlich von einem Geistlichen im Dienst dieses Herrschers. Nach einem langen stark theologisch geprägten Prolog erzählt sie die Geschichte des Alten Testaments von der Schöpfung bis zum Buch der Richter, wo sie nach 24.330 Versen abbricht. Mehrere Anspielungen auf die „Weltchronik“ Rudolfs von Ems – darunter auch der Eingangsvers (Rudolf beginnt mit Richter Got, herre ubir alle kraft) – lassen vermuten, dass der Christherre-Dichter bewusst eine geistliche Antwort auf den höfischen Rudolf bieten wollte. Im späten 13. Jahrhundert wurde die Christherre-Chronik durch Teile aus anderen Werken fortgesetzt, darunter aus der Chronik Rudolfs. Auch mit den Weltchroniken Jans des Enikels und Heinrichs von München wurde sie in Kompilationen zusammengesetzt. Unser Doppelblatt bringt die unvermischte Überlieferung des Textes „Die Blätter bieten den Text von Y und stimmen abgesehen von wenigen Sonderlesarten durchgängig mit Y1 überein [...]“ (Plate S. 275). Von der unvermischten Überlieferung sind weniger als einhundert Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts bekannt, viele davon nur aus Fragmenten wie Falzresten etc. (vgl. Plate SS. 26-46). Unser Blatt wurde früher ins 13. Jahrhundert datiert, laut Mitteilung von Hrn. Dr. Martin Roland an den Handschriftencensus ist jedoch von einer Entstehung im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts auszugehen. Da sich das Blatt im 17. Jahrhundert im Paderborner Kloster Abdinghof befand (s. u.), ist eine Entstehung dort nicht auszuschließen, zumal sich im ehemaligen Benediktinerkloster ein Skriptorium befand. Angestaubt und etwas fleckig, Ränder etwas knittrig. Blatt 2v mit der Signatur [des Klosters Abdinghof]: „Litt. H No 1492“ im unteren Rand. Beiliegend zwei Schreiben (s. u.) das Blatt betreffend. Provenienz: I) Das Doppellatt diente „einem am 10. october 1643 angefangenen güter- und einkünften-verzeichnisse des Paderbornschen klosters Abdinghof auf papier als umschlag“ (E. F. Mooyer, zit. nach ph. Strauch); II) Nachlaß eines „hiesigen [Mindener] regierungsarchivars (lt. K. Fuhlhage); III) Privatbesitz Prof. Fuhlhage [Minden] lt. beiliegendem Brief vom 19. Juni [19]18 an einen ungenannten Amtsgerichtsrat; IV) von diesem im August 1918 erworben (lt. beiliegendem Schreiben auf Briefpapier des Beziks-Oberlandesgerichts Naumburg a. d. Saale. Literatur: K. Fuhlhage, Fragmente von Rudolfs Weltchronik II, (in:) Zeitschrift für deutsches Alterthum XXV (1881), SS308-312 (mit Abdruck); Ph. Strauch, Zu Zs. 25, 308ff. (in:) Zeitschrift für deutsches Alterthum XXVI, (1882), S. 200 (Korrektur und Ergänzunagen zu Fuhlhage); Goedeke, Grundriß(2) I, 128 (unter „neuerlich gefundene Bruchstücke“); D. Klein, Heinrich von München und die Tradition der gereimten deutschen Weltchronistik (in:) Studien zur 'Weltchronik' Heinrichs von München, I: Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte, hg. von H. Brunner, Red.: D. Klein, S. 94, Nr. 91; R. Plate, Die Überlieferung der 'Christherre-Chronik' S. 36, Nr. 49 und S. 275f.; eine Abschrift des Textes von E. F. Mooyer (Minden, 11. Juni 1844) aus dem Grimm-Nachlaß befindet sich in der Staatsbibliothek Berlin (Ms. germ. qu. 970). Bl. 1r Bl. 1v Bl. 2r Bl.2v
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