Verstörung

Verstörung
Flug 4U9525 Die Ermittler tasten sich an eine
Erklärung heran, was den Kopiloten zu seiner
Tat trieb. Andreas Lubitz, der das Fliegen
liebte, musste fürchten, seine Lizenz zu verlieren.
Hobbysportler Lubitz beim Lufthansa-Halbmarathon in Frankfurt am Main 2013
24
DER SPIEGEL 15 / 2015
Titel
ie Suche nach der Wahrheit ist mühsam, sie führt in die französischen
Alpen und in deutsche Konzernzentralen, in eine Universitätsklinik und ein
Parkhaus, in Arztpraxen und Behörden; an
so viele Orte und auch zu einem unauffälligen, weiß gestrichenen Einfamilienhaus
am Stadtrand von Montabaur.
Ein Nachmittag gegen 16.20 Uhr: Ermittler betreten das Haus. Sie dürfen jetzt alles
durchwühlen, jeden Raum, auch die Garage, ein Richter hat es ihnen in einem
Beschluss erlaubt. Aber der Staatsanwalt
entscheidet, die Polizisten nur in einen einzigen Raum zu schicken. In das Jugendzimmer von Andreas Lubitz, dem Kopiloten von Flug 4U 9525.
Der Vater ist dabei, als die Ermittler sich
umsehen. Die Beamten schreiben nichts
von dem Drama, das in dieser Szene liegt,
sie notieren in nüchternen Worten: „Bei
der Durchsuchung wurden u. a. Bücher
zum Thema Flugunfälle und -katastrophen
und ein Joystick für Flugsimulatorspiele
aufgefunden.“
Mehr Berichtenswertes gibt es aus Sicht
der Ermittler nicht, der Einsatz in Montabaur ist offenbar schnell beendet, während
die Kollegen noch Lubitz’ Wohnung in
Düsseldorf durchsuchen.
Bücher also, ein Joystick. Und jetzt?
Mehr als anderthalb Wochen sind vergangen, seit ein Flugzeug an einer Felswand im Département Alpes-de-HauteProvence zerschellte. 150 Menschen fanden den Tod, 149 von ihnen ohne Schuld,
ohne Zutun und bis mindestens acht Minuten vor dem Absturz ohne Ahnung davon, dass sie gleich sterben würden.
Und dazu der eine im Cockpit, hinter
verschlossener Tür, allein: Andreas Lubitz,
27 Jahre alt, aufgewachsen in Montabaur,
der als Jugendlicher schon Segelflieger
lenkte und seit anderthalb Jahren Germanwings-Maschinen. Der in diesen Minuten
offenbar töten wollte, sich selbst und damit
auch die anderen. Und der, weil er trotz
seiner Erkrankung auf dem Kopilotensessel saß, auch töten konnte.
Die Ermittler sammelten, wie es in den
internen Zusammenfassungen heißt, Hinweise in der Düsseldorfer Wohnung: „umfangreiche Zusammenstellung von privaten Dokumenten gefunden, aus der eine
Krankengeschichte des Co-Piloten hervorgeht“. Und sie entdeckten tags darauf
seinen Pkw am Flughafen: „im Parkhaus
Mietwagenzentrum in der 7. Etage auf dem
Lufthansaparkdeck sichergestellt“, „eine
Spurensuche und -sicherung am Fahrzeug
durch die KTU ist veranlasst“.
In der Düsseldorfer Wohnung fanden
sie auch jenen Tablet-Computer, der mehr
über die letzten Tage des Andreas Lubitz
verrät: dass er im Internet nach „medizinischen Behandlungsmöglichkeiten“ suchte, wie die Staatsanwaltschaft bekannt gab.
FOTO: EXKLUSIVFOTO / WOLFGANG NASS / BILD-ZEITUNG
D
Aber auch nach Informationen über „Arten und Umsetzungsmöglichkeiten einer
Selbsttötung“ sowie „Cockpittüren und deren Sicherheitsvorkehrungen“.
Es kommen mittlerweile viele Fundstücke zusammen, sie fügen sich zu einem
Bild; Andreas Lubitz war offenbar ehrgeizig und erfolgreich, unauffällig und umsichtig, fleißig und vom Fliegen fasziniert,
zugleich krank und vermutlich verzweifelt.
Und doch bleiben viele Fragen: Wer wusste, was in Lubitz’ Kopf vorging, wer konnte es ahnen? Wer hätte etwas unternehmen
können, wer hätte vielleicht sogar etwas
melden müssen?
Andreas Lubitz war vor sechs Jahren
nachweislich krank. 2009 unterbrach er die
Pilotenausbildung und begab sich in psychotherapeutische Behandlung. Der Arzt
stellte „Suizidalität“ fest, Selbstmordgefahr, doch die Behandlung schien erfolgreich. Die Bundesrepublik Deutschland
stellte ihm schließlich die „Lizenz für Berufspiloten“ aus, Germanwings einen Arbeitsvertrag.
Seine Papiere zeugen davon, dass nicht
alles perfekt war. Der Vermerk „SIC“ bedeutet „besondere regelhafte medizinische
Untersuchungen“. Lubitz’ Tauglichkeitszeugnis, das sogenannte Medical, verweist
auf eine Sondergenehmigung mit der Nummer FRA 091/09. Darin findet sich ein
Hinweis auf die frühere Depression und
eine Warnung: Bei Wiederauftreten der
Symptome erlischt die Genehmigung.
Man kann sich kaum vorstellen, welchen Stress dieser eine Satz in dem Mann,
der das Fliegen so liebte und davon lebte,
ausgelöst haben mag. Andreas Lubitz flog
unter Vorbehalt, ihm muss klar gewesen
sein: Geht er zu einem Fliegerarzt, der
eine Depression diagnostiziert, ist es mit
der Fliegerei vorbei.
Fliegerärzte sind, anders als gewöhnliche
Ärzte, verpflichtet, eine solche Diagnose
an das Luftfahrt-Bundesamt in Braunschweig zu melden. Die Behörde muss
dann unverzüglich ein Verfahren einleiten.
„In solchen Wiederholungsfällen kommt es
praktisch nie vor, dass die Sondergenehmigung noch mal erteilt wird, selbst wenn die
depressive Phase überwunden wird“, sagt
der Medizinprofessor Dirk-Matthias Rose
vom Flymed Aeromedical Center in Frankfurt am Main, einem der großen flugmedizinischen Zentren in Deutschland.
Zuletzt fühlte sich Andreas Lubitz nicht
gesund. Trotzdem verrichtete er seinen
Dienst. Dass er nur wenige Flugstunden –
rund 630 – vorzuweisen hatte, was in den
vergangenen Tagen für manche Diskussion
in der Öffentlichkeit sorgte, lag nicht an
ihm. Er zählte zu den Ersten Offizieren;
davon gab es, wie es aus der Lufthansa
heißt, in der letzten Zeit bei Germanwings
eher zu viele, weshalb sie seltener zum
Einsatz gekommen seien.
Andreas Lubitz konsultierte Fachärzte
für Neurologie und auch solche für Psychiatrie, er ging zu niedergelassenen Medizinern ebenso wie in die Universitätsklinik Düsseldorf, wie die Ermittler herausfanden. Die Staatsanwaltschaft schickte
Beamte zu zahlreichen Medizinern: „Weiterhin wurden heute 5 Arztpraxen, die von
dem Kopiloten aufgesucht wurden, durchsucht und die Krankenakten des Kopiloten
sichergestellt“, heißt es in einer Zusammenfassung der Ergebnisse.
Nachdem der Name Andreas Lubitz öffentlich bekannt geworden war, meldeten
sich weitere Ärzte und berichteten, dass
er auch bei ihnen gewesen sei. „Für einen
jungen Mann hat er eine erstaunliche Anzahl von Ärzten konsultiert“, heißt es aus
Kreisen der Ermittler. Der 27-Jährige rannte von Arzt zu Arzt, er wollte wohl nichts
unversucht lassen, um geheilt zu werden;
und vielleicht wollte er zugleich vermeiden, dass ein einziger Mediziner über Dauer, Häufigkeit und Schwere seiner depressiven Phasen vollständig im Bild war.
Wenn nicht alles täuscht, was die Ermittler bis Donnerstag zusammengetragen haben, ist der tödliche Sinkflug die Tat eines
kranken Menschen. Das ist es, was den
Umgang damit so schwierig macht. Ein
technischer Defekt, ein terroristischer Akt,
eine Naturkatastrophe oder die Unachtsamkeit eines Menschen – nichts davon
würde für solche Verstörung sorgen.
Der Fall des Kopiloten aber löst eine
Ahnung aus, die eine Angst ist: dass nicht
nur jeder zum Opfer hätte werden können,
weil er innerhalb Europas fliegen wollte,
mit einer deutschen Airline, die als sicher
gilt. Sondern dass, unter unglücklichen
Umständen, jeder zu einem Täter werden
kann. Schwere psychische Krankheiten
wie jene, mit denen Andreas Lubitz offenbar kämpfte, können jeden ereilen: den
Bruder, den Sohn, die Freundin, einen
selbst. Und jeder hätte dann die Möglichkeit, auch andere Menschen zu verletzen.
Eine Pilotenlizenz braucht es dafür nicht;
ein Kfz-Führerschein reicht für eine Geisterfahrt auf der Autobahn aus.
Auch deshalb wäre es leichter zu ertragen, wenn jemand Fehler gemacht hätte.
Die Fehler könnte man vermeiden, beim
nächsten Mal, die Sicherheit wäre zurück.
In den vergangenen Tagen blickten deshalb
viele auf Germanwings und Lufthansa.
Der Verdacht lautete, dass Lufthansa
und ihre Tochterfirma Germanwings etwas
wussten oder jedenfalls etwas hätten wissen können – und fahrlässigerweise nichts
unternahmen. Lubitz hatte ja die Verkehrsfliegerschule 2009, nachdem er die Ausbildung unterbrochen hatte, über eine „abgeklungene schwere depressive Episode“
informiert, wie die Lufthansa mitteilte.
Er durfte seine Ausbildung fortsetzen.
Möglicherweise werden sich auch StaatsDER SPIEGEL 15 / 2015
25
anwälte noch damit auseinandersetzen, ob aufzusuchen und sich in Behandlung be- zahlreiche Ermittler im Einsatz; sie sichten
geben. Der Medizinische Dienst der Luft- unter anderem Kartons voller Akten und
diese Entscheidung vorwerfbar ist.
Opferanwälte bringen sich bereits in hansa ging kein Risiko ein, er schrieb ihn vernehmen die Eltern des Kopiloten, dessen Freundin und viele weitere Zeugen.
Stellung. An Bord waren drei US-Ameri- „vorübergehend fluguntauglich“.
Der Druck ist groß, die Erwartungen der
Selbst wenn im bestehenden System keikaner, ihre Hinterbliebenen dürfen nach
US-Recht klagen, was zu hohen Schadens- ner schuldhaft gehandelt hat, bleibt die Öffentlichkeit sind es auch. Die Lage der
ersatzsummen führen könnte, wenn der Frage, was sich aus dem Absturz von Flug Ermittler ist nicht einfach, sie stehen unter
Lufthansa eine Verletzung der Aufsichts- 4U 9525 für die Sicherheit in der Luftfahrt- Beobachtung. Der Hamburger Rechtsanpflicht nachgewiesen würde. „Wir prüfen, branche oder auch in anderen Bereichen walt Gerhard Strate hat gar eine Dienstob wir auch für die deutschen Opfer eine lernen lässt. „Eine solche Tat muss jeder aufsichtsbeschwerde gegen einen Sprecher
Klage vor den Gerichten in den USA er- Arbeitgeber auf seinem Gefahrenradar ha- der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft eingeheben können“, sagt Elmar Giemulla, ben“, sagt Bernd Pokojewski, ehemaliger reicht, wegen dessen Erklärung: „Der CoRechtsanwalt und Luftrechtsexperte aus Ausbilder beim Spezialeinsatzkommando Pilot war vor mehreren Jahren – vor ErBerlin. Immerhin habe die Flugschule der der Frankfurter Polizei. „Die meisten Täter langung des Pilotenscheins – über einen
beschäftigen sich bereits seit Wochen, seit längeren Zeitraum mit vermerkter SuiziLufthansa einen Standort in Arizona.
dalität in psychotherapeutischer BehandDie Lufthansa kann darauf verweisen, Monaten mit ihren Plänen.“
In den USA wird dazu viel geforscht, lung.“ Dies stelle eine „Mitteilung von
dass Lubitz während des Todesflugs „ein
voll gültiges Tauglichkeitszeugnis der Klas- seit dem 7. Dezember 1987. An diesem Tag Privatgeheimnissen“ dar, so Strate, und
se 1“ besaß, wie der Konzern in einer Pres- gelang es dem gekündigten Mitarbeiter die sei wohl strafbar, europarechtlich versemitteilung betonte. Und von den jüngs- einer US-Airline, eine 44er Magnum an boten und überdies mit einem Bußgeld
ten Arztbesuchen hat die Lufthansa, wie Bord eines Verkehrsflugzeugs zu schmug- bewehrt.
Auch die Politiker suchen noch nach
sie beteuerte, nichts erfahren. Lubitz sagte geln. Auf eine Spucktüte schrieb er eine
nichts, die behandelnden Ärzte meldeten Botschaft an jenen Manager, der ihn ent- dem richtigen Umgang mit dem Unglück.
offenbar auch nichts, weshalb nun über lassen hatte und mit im Flieger saß. An- Bundesinnenminister Thomas de Maizière
schließend erschoss er den Mann, eine Ste- (CDU) stellte zur Diskussion, die Ausweisdie Schweigepflicht diskutiert wird.
Mindestens zweimal muss sich jeder wardess und die Piloten, dann leitete er pflicht auf allen Flügen im Schengen-Raum
wieder einzuführen; den Absturz des FlugPilotenanwärter bei der Lufthansa einem den Sturzflug ein. 43 Menschen starben.
FBI-Statistiken zeigen, dass Amoktäter zeugs hätte dies natürlich nicht verhindert,
ausführlichen psychologischen Gespräch
stellen – einmal vor Beginn der Ausbil- in zwei Drittel der Fälle ihre sinistren Plä- Lubitz wäre durch alle Passkontrollen
dung, einmal danach. Intern werden diese ne angekündigt oder angedeutet haben. marschiert. Und Bundesverkehrsminister
Termine „Drogenfreiheitsgespräch“ ge- Dies geschieht in mehr oder weniger ver- Alexander Dobrindt (CSU) ließ erst mal
nannt. Denn ein Zweck ist auch herauszu- deckten Botschaften, die der Täter entwe- drei Arbeitsgruppen bei der Bundesstelle
finden, wie es die Jungpiloten mit legalen der im Gespräch mit seinen Mitmenschen für Flugunfalluntersuchung einsetzen.
Deren Experten sind damit beschäftigt,
fallen lässt oder in sozialen Netzwerken
und illegalen Drogen halten.
Das Gespräch dauert jeweils rund eine niederschreibt. Manchmal kritzelt er sie die erste Blackbox, den Stimmenrekorder,
Stunde. Ist das Drogenthema abgehandelt, sogar bei Besprechungen auf einen Block. noch einmal auszuwerten. Auch die zweite
Wer bei seinem Suizid weitere Men- Blackbox – der Flugdatenschreiber, am
versuchen die Fachleute herauszufinden,
wie es sonst um den Seelenzustand der schen mit ins Verderben stürze, sagt Poko- Donnerstagnachmittag endlich gefunden –
Probanden steht. Jeder, der für Lufthansa jewski, der wolle eine Botschaft senden: soll wichtige Informationen liefern.
Die Welt wird in den nächsten Tagen
oder Germanwings fliegen will, muss da- Seht her, wie ungerecht ihr mich behandelt
ran teilnehmen. Lubitz durchlief beide habt, wie sehr ihr mich gequält und unter- und Wochen mehr erfahren. Und doch damit leben müssen, dass die Ermittlungen,
schätzt habt.
Runden ohne Beanstandungen.
Das ist eine Vermutung, nicht unbegrün- die Durchsuchungen, Befragungen, AusDass die Lufthansa keinesfalls jeden
durchwinkt, zeigt ein tragischer Fall, der det, aber eben eine Vermutung. Um sich wertungen nie zu einer sicheren Erkenntsich vor wenigen Wochen an der Verkehrs- der Wahrheit weiter anzunähern, wird es nis darüber führen werden, was im Kopf
fliegerschule ereignete: der Selbstmord auf die Ermittler ankommen. Die Police von Andreas Lubitz vorging, an jenem
eines Schülers. Er hatte seine Ausbildung judiciaire und die Staatsanwaltschaft Mar- Morgen im Cockpit von Flug 4U 9525.
im Oktober unterbrochen; damals hatte seille arbeiten gemeinsam mit der SonderDinah Deckstein, Jörg Diehl, Martin Knobbe,
er nach einer Beratung durch den Aus- kommission „Alpen“, der zwischenzeitlich
Martin U. Müller, René Pfister, Sven Röbel,
bildungsleiter und eine Lufthansa-Exper- 200 Beamte zugeordnet waren. Auch bei
Barbara Schmid, Fidelius Schmid,
Gerald Traufetter, Markus Verbeet
tin zugestimmt, eine psychiatrische Klinik der Staatsanwaltschaft Düsseldorf sind
26
DER SPIEGEL 15 / 2015
FOTOS: PATRICK BREEN / AP / DPA (L.); AFP (R.)
Flugausbildungszentrum nahe Phoenix im US-Bundesstaat Arizona, Pilot Lubitz vor der Golden Gate Bridge in Kalifornien