Allein mit dem Ausbrecher von Thomas Claaßen Großenaspe – Es ist ungefähr 6 Uhr, als sich Manon Heisch von ihrer Wohnung in Großenaspe auf den Weg nach Norderstedt zur Arbeit macht. Es ist eisig kalt, die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt. In der Nacht hat es geschneit, die Straßen sind glatt. Und so denkt die 29-jährige Personalsachbearbeiterin auch zunächst an einen leichten Unfall, als sie auf der B 206 kurz hinter Bimöhlen einen Wagen mit eingeschaltetem Warnblinklicht am Straßenrand stehen sieht. Als sie jedoch näher kommt, fährt der Wagen weiter. Plötzlich springt ihr ein Mann vors Auto, um die 30 Jahre alt schätzungsweise. Manon Heisch geht auf die Bremse und verriegelt geistesgegenwärtig ihre Türen. Sie lässt das Fenster auf der Beifahrerseite einen Spalt hinunter. „Können Sie mich mitnehmen?“, fragt der Mann, der einen verwirrten Eindruck macht. „Nein“, antwortet Manon Heisch, sie müsse zur Arbeit. Ob sie ihn denn mitnähme, wenn sie nicht zur Arbeit müsste? Oder wenn Samstag wäre? „Natürlich“, antwortet sie verunsichert. Sie greift zum Handy und wählt 110. Die Polizei sagt ihr, dass es sich bei dem Mann vermutlich um einen«abgängigen« Bewohner der geschlossenen Einrichtung »Luisenhof« aus Bimöhlen handele. Sie solle ihn doch bitte festhalten. Sie würde garantiert nicht aussteigen und ihn festhalten, entgegnet sie. Es würde umgehend ein Streifenwagen kommen, versichert der Beamte. Dieses »umgehend« dauert sage und schreibe anderthalb Stunden! Nachdem Manon Heisch weder den Mann ins Auto lassen noch selbst aussteigen will, versucht dieser auch andere Autos anzuhalten. „Ein, zwei haben mich gefragt, ob sie helfen können“, erinnert sich Manon Heisch im Gespräch mit dem Anzeiger. „Doch ich sagte, dass alles okay sei. Die Polizei würde gleich kommen.“ Die Autos fahren weiter, die Fahrer wollen sich mit dem Mann nicht abgeben. Also kehrt er immer wieder an das geöffnete Fenster zurück und bittet Manon Heisch, sie herein zu lassen. Er sei Epileptiker, sagt er, und benötige dringend Medikamente. Außerdem sei er seit einer Woche unterwegs, ohne etwas zu essen. Ihm sei kalt. Doch aus Selbstschutz lässt sie den Mann, der mit einem Pullover und einer nicht allzu dicken Baumwolljacke bekleidet ist, nicht herein. Nach etwas über einer Stunde lässt sie sich über die Auskunft mit dem Luisenhof verbinden. Dort ist das Verschwinden des Mannes natürlich schon bekannt, nicht jedoch, dass er vor über einer Stunde ganz in der Nähe gefunden wurde. „Mir wurde gesagt, dass sich jemand auf den Weg macht, um mir und dem armen Mann zu helfen“, so Manon Heisch. Nach 20 Minuten ist immer noch niemand bei ihr. Immerhin hat zwischenzeitlich ein Autofahrer angehalten und wartet mit ihr zusammen auf die Helfer. Man sei unterwegs, könne sie aber nicht finden, lautet die Information, die sie vom „Luisenhof“ erhält. Noch einmal gibt sie ihre genaue Position durch. Zeitgleich treffen der Bus der psychiatrischen Anstalt und die Polizei bei Manon Heisch ein. Anderthalb Stunden sind seit ihrem Notruf vergangen. Als der Mann in den Bus einsteigt und auch die Beamten abziehen, bricht die junge Frau in Tränen aus. „Ich hatte unheimliche Angst. Es kann doch nicht sein, dass man mich anderthalb Stunden mit dem Mann alleine lässt.“ Das kann sich auch Andreas Stender, Leiter des „Luisenhofes“ nicht erklären. „Grundsätzlich arbeiten wir immer sehr positiv mit der Polizeistation in Wiemersdorf zusammen.“ Doch warum konnte es überhaupt dazu kommen, dass der Mann aus der Einrichtung verschwand? „Wir können die Bewohner hier nicht mit meterhohen Zäunen und Stacheldraht einsperren. Da kann es leider schon mal vorkommen“, so Stender. Grundsätzlich würden die Patienten mit Medikamenten eingestellt, eine Gefahr sei von dem „Abgängigen“ nicht anzunehmen gewesen. Doch seine Hand ins Feuer legen möchte der Leiter dafür nicht. „Man kann natürlich nie wissen …“ Ihm täte es Leid, wenn sich die Frau geängstigt hätte. Doch warum hat es so lange gedauert, bis die Polizei auftauchte? In Wiemersdorf möchte niemand dazu Stellung nehmen. Der Anzeiger wird an die Pressesprecherin der Polizeiinspektion Bad Segeberg verwiesen. Silke Tobis: „Das ganze ist eine Verkettung unglücklicher Umstände. Die Ortsangabe der Dame war missverständlich. Die Kollegen von der Nachtschicht haben über ihren Feierabend hinaus eine dreiviertel Stunde die Gegend abgesucht, wo sie die Frau und den Mann vermuteten. Sie haben allerdings niemanden gefunden und daher die Suche abgebrochen. Erst als die Dame ein weiteres Mal anrief und konkretere Angaben machte, konnten sie die Kollegen kurz darauf antreffen.“ Möchte man ein Fazit aus der Geschichte ziehen, könnte es dieses sein: Geben Sie immer ihre Handynummer an, wenn Sie einen Notruf absetzen. Manon Heisch hat jedenfalls ihr persönliches Fazit gezogen. Würde sie noch einmal so reagieren und helfen wollen? „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“ Der Anzeiger 10/05
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