INTERNATIONAL 9 Neuö Zürcör Zäitung Freitag, 20. November 2015 Bosniens steiniger Weg aus der Sackgasse Das Abkommen von Dayton hat den Bosnien-Krieg beendet und bleibt doch eine Hypothek für den Vielvölkerstaat Seit Jahren stagniert Bosnien, trotz und wegen Dayton. Drei bosnische Experten sprechen über die Vergangenheit, nationalistische Politik und das multiethnische Alltagsleben. «Wir sollten Geschichten erzählen, statt über ‹die Geschichte› zu streiten.» Armina Galijas Historikerin an der Universität Graz und Kroaten zusammensetzt, sondern dass diese Gesellschaft viele unterschiedliche Interessen in sich vereint. Armina Galijas: Ich glaube, Dayton dient oft als Ausrede für die zahlreichen Missstände im Land. Vieles könnte auch mit dieser Verfassung funktionieren. Was haben schmutzige Krankenhäuser und kaputte Toiletten in den Schulen mit Dayton zu tun? Wir haben das Potenzial für Fortschritte, das auch mit dieser problematischen Verfassung möglich ist, nicht ausgeschöpft. Woher aber soll der Anstoss für solche Veränderungen kommen? Galijas: Die lokale Ebene ist dafür sehr wichtig. Es gibt Gemeinden wie Gracanica oder Gorazde, in denen die Fabriken produzieren, die Behörden verwalten und die Menschen arbeiten. Das zeigt doch, dass die Bürger, wenn sie sich selber organisieren, trotz Dayton genügend Raum haben, um Inseln des Wohlstands zu schaffen. Wenn wir einmal fünfzig solcher Inseln haben, wird eine Änderung der Verfassung kein Problem mehr sein. Die Leute werden dann ihre Interessen verfolgen und Politik nicht mehr als ethnische Angelegenheit verstehen. Allerdings glaube ich nicht, dass der Zentralstaat auf Kosten der Entitäten gestärkt werden sollte. Die Gemeinden sollten mehr Kompetenzen erhalten. Das schafft Bürgernähe. In Sarajevo ist die Vergangenheit weiter unbewältigt, doch das Zusammenleben im Alltag funktioniert. Bürger statt «Volksvertreter» ahn. Belgrad V Unsere Gesprächsteilneh- mer repräsentieren bosnische Vielfalt. Der Politologe Nerzuk Curak wurde in der bosniakisch geprägten Region Prijedor geboren und lehrt heute an der Universität von Sarajevo. Die Historikerin Armina Galijas und der Soziologe Sinisa Malesevic sind in Banja Luka geboren und aufgewachsen. Sie unterrichten und forschen an den Universitäten Graz und Dublin. Beide lebten bis zum Krieg in Banja Luka. Auch wenn die drei Wissenschafter aus Familien unterschiedlicher «Volksgruppen» stammen, definieren sie ihre Identität nicht primär dadurch. Sie verstehen sich nicht als Vertreter einer Ethnie, sondern als Bürger Bosniens. sich durch das Narrativ der anderen gedemütigt. Dadurch entsteht eine Opferkonkurrenz. Aber lässt sich das bewältigen? Schauen Sie Spanien an oder Irland. Das Erbe des Bürgerkriegs ist dort immer noch da und wird politisch instrumentalisiert. Vor dieser Instrumentalisierung fürchten sich viele Ser- «Konflikte sind eine gute Ausgangslage für Integration.» NEBOJSA PETROVIC Es gibt ein Mantra in der internationalen Gemeinschaft, aber auch in progressiven bosnischen Kreisen: Ohne eine Aufarbeitung der Vergangenheit gibt es keine gemeinsame Zukunft. Galijas: Ich halte diese ständige Aufforderung für gefährlich. Sie kann bestehende Gräben noch vertiefen. Natürlich müssen wir uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen. Die Frage ist, wie. Wir werden uns in absehbarer Zeit nicht auf eine gemeinsame Interpretation der 1990er Jahre einigen können. Es wird so bald kein Geschichtsbuch geben, das alle Seiten akzeptieren. Stattdessen sollten wir vermehrt lokale Ereignisse und Prozesse erforschen: Wie ging diese oder jene Gemeinde durch den Krieg? Oder sozialgeschichtliche Fragen: Wie änderte sich die Rolle der Frau oder der Arbeiterklasse? Wir sollten Geschichten erzählen, statt uns über «die Geschichte» zu streiten. Um Gemeinsames zu finden, sollten wir in die Zukunft blicken, herausfinden, welche Wünsche und Visionen wir haben. Anders als beim Blick in die Vergangenheit liegt aber auch in der Gegenwart, im Alltag, viel Verbindendes. Im täglichen Leben verwischen sich die ethnischen Gegensätze schon jetzt sehr stark. Ich war letztes Jahr an zwei Hochzeiten von gemischten Paaren. Es gibt neben der politischen Ebene – wo die Zusammenarbeit nicht funktioniert, weil die Eliten das so wollen – einen Alltag, den die Menschen unbesehen der Nationalität gemeinsam bewältigen. Malesevic: Unsere Vergangenheit ist wirklich sehr dunkel, und viele fühlen Sinisa Malesevic Soziologe, University College Dublin ben, die bereit wären, zu sagen, dass in Srebrenica in ihrem Namen ein Genozid verübt wurde – und dann schweigen sie. Diese Auseinandersetzung wird kommen, aber sie lässt sich nicht herbeizwingen. Curak: Kann dieser Prozess aufgeschoben werden? Was wir brauchen, ist eine verantwortungsbewusste Erinnerungskultur. Ich stamme aus Prijedor, wo im Krieg viertausend bosniakische Zivilisten umgebracht wurden. Die Rückkehr der vertriebenen Bosniaken und Kroaten hat dort nicht schlecht funktioniert. Was uns aber fehlt, sind Denkmäler, zum Beispiel dort, wo das Lager Omarska stand. Wir brauchen Denkmäler unserer Scham. Stattdessen werden Denkmäler für die Täter errichtet. Prijedor braucht ein Denkmal für die ermor- ANDREW TESTA / PANOS deten Zivilisten. Auch Sarajevo braucht eines, das an die getöteten Serben erinnert. Ich verstehe die Kollegin Galijas, aber ohne Gedenkkultur besteht die Gefahr erneuter Gewalt. Diese Gedenkkultur muss aus der Bürgergesellschaft kommen, aber sie darf nicht dort bleiben, sondern sie muss auf die Politik zugehen. Ist es möglich, einen Staat ohne einheitliche Gründungsgeschichte aufzubauen? Malesevic: Ja, die meisten Staaten haben mehrere Narrative, die miteinander im Wettbewerb stehen. In Bosnien brauchen wir nicht eine einheitliche Erzählung, sondern viele! Jetzt gibt es drei dominante Narrative: das bosniakische, das serbische und das kroatische. Diese Hegemonie muss aufgehoben werden durch neue Erzählungen, die der Pluralisierung der Gesellschaft entsprechen. Kann Bosnien als Staat ausserhalb der EU überleben? Curak: Es gibt schon heute in der Region Konkurrenten zur EU: Russland und die Türkei. Sie nutzen die Schwächen und Unbeweglichkeit der EU aus. Russland macht das in Serbien und in der Republika Srpska. Die Regierung Erdogan pflegt ihrerseits enge Beziehungen mit dem Führer der Bosniaken, Bakir Izetbegovic, in Sarajevo und spielt sich als Schutzmacht auf. Das sind gefährliche Entwicklungen für Bosnien. Ist eine regionale Integration des vormals jugoslawischen Raums denn möglich und überhaupt wünschbar? Ist in Bosnien ein Krieg derzeit wieder möglich? Malesevic: Das ist nicht auszuschliessen. Es sieht zwar heute nicht so aus, aber es sah auch 1991 nicht danach aus. Die Gewalt war von oben erzeugt und gesteuert und überraschte die Gesellschaft. Diese ist in Bosnien, anders als behauptet, nicht per se gewalttätig. Im Gegenteil: Es gibt eine tief verankerte Kultur des Neben- und Miteinanders. Deshalb kam es nach dem Waffenstillstand zu keinen Racheakten. Curak: Ich kann mir einen Krieg nur als sekundäre Folge eines europäischen Konflikts vorstellen. So wie Bosnien in der Geschichte oft durch äusseren Anstoss in Gewalt versank. Galijas: Es wäre heute viel schwieriger, die Menschen für den Krieg zu mobilisieren. Zum einen sind die Erinnerungen an die Schrecken des jüngsten Kon- NEBOJSA PETROVIC NEBOJSA PETROVIC Die Dayton-Verfassung Bosnien-Herzegowinas – eigentlich ein Annex des dort geschlossenen Friedensvertrags – wird von Kritikern oft als «Zwangsjacke» bezeichnet: Sie verhindere die Entwicklung des Landes. Nerzuk Curak: Die Dayton-Verfassung hat gute und schlechte Seiten. Positiv ist, dass sie die Souveränität und territoriale Integrität des Landes schützt. Negativ, dass sie in Bosnien die Bildung einer ausdifferenzierten politischen Gemeinschaft verhindert, die in der Lage ist, sich in die euroatlantischen Strukturen einzufügen. Die innere Struktur des Landes verhindert das, solange es diese zwei Entitäten gibt, die «Föderation» und die «Republika Srpska». Dayton verhindert, dass die Bürger aus ihrer mono-ethnischen Ecke ausbrechen und sich für eine Politik engagieren, die sich ihrer Probleme annimmt: Wirtschaft, Soziales, Bildung. Sinisa Malesevic: Ich begrüsste das Dayton-Abkommen damals – es beendete den Krieg. Ich dachte nie, es sei als dauerhafte Lösung gedacht. Auch viele frühe Massnahmen der internationalen Gemeinschaft waren positiv – etwa die Einführung einheitlicher Autokennzeichen. Man arbeitete mit Zuckerbrot und Peitsche, und einige Jahre lang ging es gut voran. Es wurden auch Fehler gemacht, etwa die Schaffung einer künstlichen Zivilgesellschaft von aussenfinanzierten NGO, welche die Entstehung einer echten Bürgergesellschaft behinderte und neue Abhängigkeiten schuf. Seit vielen Jahren herrscht jetzt Stagnation, und seit drei Jahren gibt es sogar einen Rückschritt. Dennoch glaube ich, dass sich die internationale Gemeinschaft nicht zurückziehen sollte, bevor das Land eine Verfassung hat, die anerkennt, dass die bosnische Gesellschaft sich nicht nur aus Bosniaken, Serben Galijas: Eine hübsche Idee, aber ganz unrealistisch. Kroatien, das EU-Mitglied ist, hat daran keinerlei Interesse. Wie vorteilhaft eine solche regionale Integration für Bosnien auch wäre – es wird sie nicht geben. Malesevic: Der Wunsch nach EU-Mitgliedschaft und eine positive Erinnerung an Titos Jugoslawien waren bisher die Elemente der Kohäsion in Bosnien. Nun nimmt die Attraktivität der EU ab. Ich glaube, man sollte aber an das positive Erbe des untergegangenen Staates anknüpfen. Nicht um ein drittes Jugoslawien zu schaffen, aber um die Identität dieses gemeinsamen kulturellen Raums zu stärken. Auch wenn wir uns hassen, so tun wir es doch auf gleiche Weise. Und Konflikte sind eine gute Ausgangslage für Integration – anders als die Gleichgültigkeit. Curak: Ich kann mir vorstellen, dass das Dreieck Bosnien - Serbien - Kroatien innerhalb der EU eine institutionelle Gestalt bekäme. Das stärkte die Integration der Kroaten und Serben in Bosnien und stellte eine Garantie gegen unitaristische Tendenzen dar. Diese Region könnte für viele Menschen zu einem Heimatland werden. «Russland und die Türkei nutzen die Schwächen der EU aus.» Nerzuk Curak Politologe an der Universität Sarajevo flikts noch wach. Dann fehlen heute, anders als damals, die Massen schwerer Waffen, welche die jugoslawische Volksarmee besass. Schliesslich ist die mediale Manipulation heute schwieriger geworden. Es gibt alternative Medien, die nicht von oben gesteuert werden können. Trotz allen Rückschlägen gibt es heute Ansätze einer bosnischen Bürgergesellschaft. Interview: Andreas Ernst Umstrittenes Friedensabkommen kam. Istanbul V Nach dreieinhalb Jahren Krieg brachte der am 21. November 1995 paraphierte Friedensvertrag von Dayton die Kampfhandlungen in Bosnien-Herzegowina zu einem Ende. Aufgerüttelt vom Massaker in Srebrenica, wo im Juli 1995 bosnisch-serbische Truppen die dortige Uno-Schutzzone eingenommen und rund 8000 Bosnjaken (Muslime) ermordet hatten, zwangen die Amerikaner die drei Konfliktparteien an den Verhandlungstisch. Das Abkommen wurde nach dreiwöchigen Gesprächen hinter verschlossenen Türen auf einer Luftwaffenbasis bei Dayton (Ohio) vom serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic, von dem kroatischen Staatschef Franjo Tudjman und dem bosnisch-herzegowinischen Präsidenten Alija Izetbegovic geschlossen und nach der formellen Unterzeichnung vom 14. Dezember 1995 in Paris sofort in Kraft gesetzt. Der bosnische Gesamtstaat blieb zwar erhalten, er wurde aber in zwei weitgehend selbständige, ethnisch definierte Territorien aufgeteilt: die bosnjakisch-kroatische Föderation sowie die Republika Srpska. Die Konfliktparteien verpflichteten sich dazu, einander keine Gewalt mehr anzudrohen oder Gewalt anzuwenden. Flüchtlingen und Vertriebenen wurde das Recht eingeräumt, in ihre ursprünglichen Wohnorte zurückzukehren. Das entlang ethnischer Trennlinien gespaltene Land wurde unter internationale Aufsicht gestellt und mit einer hochkomplexen Verfassung ausgestattet, mit der keines der drei konstituierenden Völker zufrieden ist. Al- lerdings erweisen sich die bosnischen Politiker auch 20 Jahre nach Ende der militärischen Feindseligkeiten als unfähig, einen Konsens für eine Revision herbeizuführen. Die Umsetzung des Daytoner Vertrags überwacht der sogenannte Hohe Repräsentant der Staatengemeinschaft. Kritiker der Friedensvereinbarung, die unter Vermittlung des damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und dessen Sonderbeauftragten für den Balkan, Richard Holbrooke, sowie der Europäischen Union erzielt wurde, bemängeln, dass damit die militärisch herbeigeführte ethnische Teilung des Landes legitimiert worden sei. Doch war dies der Preis für ein Ende eines Krieges, dem zwischen 1992 und 1995 über 100 000 Menschen zum Opfer gefallen sind.
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