Pädagogische Diagnostik im Überblick Stand: 15.06.2015 Dieses Kapitel kann für alle jene interessant sein, die wissen möchten, was sich hinter dem sperrigen Begriff „pädagogische Diagnostik“ verbirgt. Hier lässt sich in Kürze erfahren, weshalb diese wichtig ist, welche Formen es gibt und wer ihre „Verbündeten“ sind. Grundsätzliches Pädagogische Diagnostik ist keine zusätzliche Aufgabe, sondern gehört zum Kern professioneller Arbeit von Lehrer/inne/n: Sie begründet jedes auf die einzelne Schülerin/den einzelnen Schüler fokussierte pädagogische Handeln. Alle empirischen Studien, die sich mit Lernleistungen von Schüler/innen beschäftigen, bestätigen eindeutig, dass eine verbesserte Diagnosekompetenz der Lehrer/innen zu einer Verbesserung der Lernleistungen der Schüler/innen führt. Pädagogische Diagnostik richtet ihren Blick vor allem auf die Ressourcen und Stärken jeder/s einzelnen Lernenden. Mit ihrer Hilfe können Lehrer/innen Lernvoraussetzungen und Lernergebnisse von Lernenden erschließen, deren Lernprozesse analysieren und daraus Maßnahmen für zielgerichtetes individuelles Fördern und Herausfordern ableiten. Begleitend dazu stellt das Überprüfen der Wirkung dieser Unterstützungsmaßahmen einen wesentlichen Aspekt pädagogischer Diagnostik dar. Lehrer/innen mit professioneller diagnostischer Kompetenz kombinieren je nach Situation und Intention verschiedene Formen pädagogischer Diagnostik. Formen pädagogischer Diagnostik Je nach Grad des Aufwandes und der wissenschaftlichen Fundierung unterscheidet man zwischen informeller, semiformeller und formeller Diagnostik. Alle drei Formen haben im pädagogischen Alltag ihre Berechtigung. Unter informellen pädagogischen Diagnosen versteht man zufällig, intuitiv und unsystematisch erworbene subjektive Urteile und Einschätzungen wie z.B. das Bauchgefühl, Gespräche zwischen Tür und Angel oder Stegreifurteile. Informelle Diagnosen sind für schnelles Handeln im Unterrichtsalltag unverzichtbar und angemessen, aber auch mit der Anforderung verbunden, sie zum Gegenstand von Reflexion zu machen und, wenn nötig, anzupassen und zu revidieren. Im Rahmen einer formellen pädagogischen Diagnose geht man wissenschaftlich fundiert, theoriegeleitet, methodisch kontrolliert vor. Formelle pädagogische Diagnostik findet meist außerhalb des Unterrichts statt. Zu ihren Instrumenten und Verfahren zählen z.B. standardisierte Tests zur Erhebung der Lesekompetenz oder des Sprachstandes in Deutsch als Zweitsprache sowie die Informelle Kompetenzmessung (IKM) (siehe Kapitel „Formelle Instrumente und Verfahren der pädagogischen Diagnostik“). Bestimmte formelle Diagnoseverfahren dürfen nur von speziell ausgebildeten Lehrer/inne/n eingesetzt werden, die pädagogischpsychologisches Theoriewissen besitzen und Routinen beim Einsatz der Verfahren und bei der Nutzung der Testergebnisse erworben haben. Die Diagnose psychischer Merkmale einer Person mittels Intelligenztests, Persönlichkeitstests und klinischer Verfahren gehört zum Aufgabenbereich der psychologischen Diagnostik. Diese ist inhaltlich klar von pädagogischer Diagnostik abzugrenzen. Als „semiformell“ bezeichnet man pädagogische diagnostische Tätigkeiten, die den Qualitätsansprüchen der formellen Diagnostik nicht entsprechen, allerdings auch nicht nur auf beiläufigen, unsystematischen Beobachtungen beruhen. Die Bezeichnung „semiformell“, die die Niveaustufe zwischen der informellen und der formellen Diagnose beschreibt, wurde 2005 von Tina Hascher eingeführt. Pädagogische Diagnostik im Überblick 2 Semiformelle pädagogische Diagnostik findet im Rahmen des Unterrichts und unter aktiver Beteiligung der Lernenden statt. Instrumente und Verfahren der semiformellen Diagnose sind z.B. Lerntagebücher, Beobachtungsbögen, schriftliche Selbsterklärungen, offene Aufgaben, Einschätzungsbögen, Orientierungsarbeiten, Lernfortschrittsgespräche. (siehe Kapitel „Semiformelle Instrumente und Verfahren der pädagogischen Diagnostik“). Funktionen und Ziele pädagogischer Diagnostik Pädagogische Diagnostik hat zwei Funktionen: eine gesellschaftliche und eine pädagogische. In ihrer gesellschaftlichen Funktion dient pädagogische Diagnostik der Optimierung der Beurteilung und der Vergabe von Qualifikationen. Sie heißt dann Selektions- oder Zuweisungsdiagnostik. Selektions- oder Zuweisungsdiagnostik erschließt am Ende eines Lernprozesses, punktuell Informationen über die Lernenden und deren Lernergebnisse, um diese möglichst objektiv beurteilen zu können. In ihrer pädagogischen Funktion dient pädagogische Diagnostik der Unterstützung der Lernenden. Sie heißt dann Lernprozess- oder Förderdiagnostik. Lernprozess- oder Förderdiagnostik findet während des Lernprozesses statt und verfolgt das Ziel, in Kooperation mit den Lernenden Hinweise auf wirksame Unterstützungsund Fördermöglichkeiten zu erschließen. Die Lernenden sind am Diagnoseprozess aktiv beteiligt und in diesen einbezogen! Lernprozess- oder Förderdiagnostik ist stärkenorientiert und zeigt auf, wie es in Zukunft noch besser werden kann. Der Blick auf die Ressourcen, die Lernpotenziale und individuellen Lernfortschritte der Lernenden stehen im Zentrum der Wahrnehmung. Sie hat sowohl die Entwicklung und Optimierung fachlicher Kompetenzen als auch die überfachlicher Schlüsselkompetenzen im Blick – wie z.B. die Entwicklung von Lern- und Methodenkompetenz und personaler und sozialer Kompetenz. Ergänzend zu den diagnostischen Beobachtungen des Lehrer/innen-Teams kommen die Selbsteinschätzung der Schüler/innen, Fremdeinschätzungen der Lernpartner/innen und Beobachtungen von Eltern hinzu. PÄDAGOGISCHE DIAGNOSTIK INFORMELL, ZUFÄLLIG, UNSYSTEMATISCH ALLTAGSBEOBACHTUNGEN, TÜR UND ANGEL - GESPRÄCHE, BAUCHGEFÜHL, SUBJEKTIVE URTEILE Pädagogische Diagnostik im Überblick FÖRDERDIAGNOSTIK LERNPROZESSDIAGNOSTIK SELEKTIONSDIAGNOSTIK ZUWEISUNGSDIAGNOSTIK SEMIFORMELL GEZIELT, SYSTEMATISCH, KRITERIENORIENTIERT, WISSENSCHAFTSORINIERTIERT FORMELL WISSENSCHAFTLICH, METHODISCH KONTROLLIERT, THEORIEGELEITET LERNTAGEBUCH EINSCHÄTZUNGSBOGEN SELBSTERKLÄRUNG LERNFORTSCHRITTSGEPRÄCH ORIENTIERUNGSARBEIT ... STANDARDISIERTE TESTS ZUR LESEKOMPETENZ, INFORMELLE KOMPETENZMESSUNG (IKM) ... 3 Lernprozessdiagnostik, Individualisierung und Kompetenzorientierung Lernprozessdiagnostik ist nicht als isolierte Maßnahme zu betrachten, sondern im komplexen Zusammenspiel mit Individualisierung/Differenzierung. Beides ist untrennbar miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen. So ist Lernprozessdiagnostik einerseits die Voraussetzung für die Entwicklung von maßgeschneiderten Angeboten, die den Bedürfnissen der Lernenden gerecht werden: Nur wenn Lehrer/innen wissen, wie ihre Schüler/innen lernen und wo in ihrem Lernprozess sie sich befinden, können sie diese wirksam unterstützen. Andererseits sind individualisierende Lernarrangements, in denen die Schüler/innen selbstbestimmt lernen können, Voraussetzung für Lernprozessdiagnostik: Pädagogische Diagnose im schulischen Alltag kann nur in einem individualisierten didaktischen Arrangement erfolgen, das die Lehrperson zeitweise vom „Lehren“ entlastet und das Zeitfenster und Möglichkeiten für differenziertes, zielgerichtetes Beobachten bietet. Auch mit Kompetenzorientierung ist Lernprozessdiagnostik zweifach verknüpft. Zum einen beobachtet, begleitet und unterstützt sie basierend auf einem breiten Lernverständnis die fachliche und überfachliche Kompetenzentwicklung der Lernenden. Zum anderen trägt sie durch das Einbeziehen der Lernenden in den Diagnoseprozess selbst auch dazu bei, dass die Schüler/innen lernen, über ihr eigenes Lernen nachzudenken und zum Gegenstand von Reflexion zu machen (=Metakognition). Das Nachdenken über das eigene Lernen unterstützt die Entwicklung von Selbstkompetenz und Eigenständigkeit sowie die Übernahme von Verantwortung für den eigenen Lernprozess. Pädagogische Diagnostik im Überblick 4
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