Busche Hubertus

Hubertus Busche
Was ist Kultur?
Erster Teil: Die vier historischen Grundbedeutungen
Der Begriff der Kultur ist nicht nur fiir seine Unklarheit berüchtigt. "Es herrscht
nirgends ein geklärter Begriff der Kultur, und man braucht nur irgendein philosophisches Wörterbuch sich anzusehen, um das heillose Durcheinander in den Kultur- oder Zivilisationsbegriffen feststellen zu können.'" "Kultur" zählt heute vielmehr auch zu den hohlsten Pathos wörtern und Imponiervokabeln, die durch
Wissenschaft, Politik und Alltag rauschen. Ob die Kultur verfalle, ist seit über
hundert Jahren eine Streitfrage. Dass aber der Begriff "Kultur" verfällt, lässt sich
beweisen. Und während die Kulturvokabel einen ungeahnten Kult erfährt, zeigt die
seltene2 und einseitige3 wissenschaftliche Klärung des Kulturbegriffs eine erstaunliche Unsicherheit. Weil der Grund hierfiir die "abwechslungsreiche, nicht immer
geradlinige Entwicklungsgeschichte" des Kulti1rbegriffs selbst ist4, scheint es hilfreich, den Begriff der Kultur einmal historisch und systematisch zu klären. In einem zweiten Teil wird dann ein Blick auf Georg Simmels These von der "Tragödie
der Kultur" zeigen, wie eine unzulänglich reflektierte Verknüpfung verschiedener
Bedeutungen von "Kultur" zu einer Überfrachtung bzw. Überdehnung des Kulturbegriffs und somit zu einem überdrarnatisierten Befund von "Kulturverfall" führen
kann (vgl. den 2. Teil in Dialektik, Heft 2/2000).
I Dieser Befund von A. Dempf, Kulturphilosophie, München/Berlin 1932, S. 9, darf erst recht
rur die Gegenwart Gültigkeit beanspruchen.
2 W. Perpeet, Stichworte: Kultur und Kulturphilosophie., in: Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Bd. 4, hrsg. von J. Ritter, Bd. 4, Sp. 1309-1324, gibt fllr eine begriffsgeschichtliche
Erhellung nur wenige Andeutungen. Den bislang besten Ül]erblick über die "General History of
the Word Culture" geben A. L. Kroeber/C. Kluckhohn, Culture. A Critical Review of Concepts
and Definitions, Cambridge Mass. 1952,2. Aufl. New York 1967, S. 11-73.
3 N. Luhmann: Kultur als historischer Begriff. Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien
zur Wissenssoziologie der modemen Gesellschaft, Bd. 4, S. 31-54. Luhmann bemerkt richtig,
dass es "den Sozialwissenschaften so schwer gefallen" ist, "sich auf einen theoretisch begründbaren Begriff der Kultur zu einigen" (S. 31). Er bemerkt aber nicht, dass selbst diese Versuche bloß
auf eine von mehreren historischen Grundbedeutungen von "Kultur" gerichtet sind. Auch Luhmanns beachtenswerte Konstruktion zum "historischen Begriff der Kultur" beruht ihrerseits auf
historischen Hypothesen, die man nur als ein Stochern im Nebel bezeichnen kann (S. 31-42).
4 M. Pflaum, Die Kultur-Zivilisations-Antithese im Deutschen, in: Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien, hsg. von J. Knobloch, H. Moser et a.,
Bd. 3: Kultur und Zivilisation, München 1967, S. 288-427, hier S. 289.
Dialektik' 200011 . <0Felix Meiner Verlag 2000· ISSN 0939-5512
70
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
Will man die Begriffsgeschichte von "Kultur" systematisch erhellen, so darf
man sich nicht im Dschungel der konkreten Wortverwendungen verlieren. S Bei tieferer Betrachtung bietet sich von selbst ein himeichender Orientierungsleitfaden
an, da sich vier historisch nacheinander auftretende Grundbedeutungen zeigen, in
denen sich verschiedene Geistesepochen spiegeln. Dass alle vier Grundbedeutungen bis heute lebendig sind, aber selten durch Zusatzbestimmungen abgegrenzt
werden, macht die Rede von ,,Kultur" so unklar. Deshalb werden sie im folgenden
geistesgeschichtlich eingeordnet, analytisch mit Belegen entfaltet, durch einprägsame Formeln separiert und möglichst definiert.
Das lateinische nomen actionis "cultura"6, abgeleitet vom Verb "colere" (sorgfältig pflegen, bebauen, bearbeiten)?, bezeichnet in der agrarisch verwurzelten altrömischen Gesellschaft zunächst die Bearbeitung von Grund und Scholle. Kultur
beginnt also mit der Bestellung des Ackers (agri cultura) und mit der Gartenpflege
(horti cultura). Von dieser primären Ebene der Sachkultivierung (cultura rerum)
wird der Begriff jedoch schon früh ins Figürliche übertragen, also von der äußeren
Natur auf die innere Natur verschoben. Von den zwei metaphorischen Bedeutungsaspekten war es weniger die Körperkultivierung (cultura corporis), zu der auch
Körperpflege, Körperscbmückung und Kleiderputz gehören, als vielmehr die
Geisteskultivierung (cultura animi), die von der römischen Antike bis ins 18. Jahrhundert maßgeblich blieb.
"Cultur" in diesem Sinne ist die "höhere Ausbildung von Etwas, das seiner
Naturanlage nach einer Veredelung oder eines höheren Grades der Vollkommenheit flihig ist, welchen es aber blos unter begünstigenden Verhältnissen, durch geflissentliche Einwirkung erreicht, so Cultur des Bodens, Cultur von Waldungen,
Cultur von Thieren, aber auch Cultur des Menschen, Cultur des Kopfes und Herzens, Cultur des Geschmacks und ästhetischer Cultur, vgl. Politur und Civilisati-
1. Kultur, die man betreibt: vervollkommnende Pflege
der individuellen Naturanlagen
Die erste, klassische Grundbedeutung von "Kultur", die in allen drei Anwendungsbereichen konstant im Hintergrund steht, ist das formgebend veredelnde Bearbeiten
und Pflegen natilr/icher Anlagen (um der Vervollkommnung ihrer Früchte willen)
durch den Menschen.
S Die beiden begriffsgeschichtlichen
Standardwerke dienen mit ihrer wertvollen Materialfillle
auch neueren Monographien als Fundgrube und Vorlage, lassen aber den Leser den berühmten
Wald vor lauter Bäumen aus dem Auge verlieren. J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941; I. Baur, Die Geschichte des Wortes ,Kultur' und seiner Zusammensetzungen,
Diss. phi!., München 1951; Baur
neigt zudem zu widersprüchlichen Zwischenbilanzen.
6 Für die sehr vielschichtige antike Wortgeschichte,
von der hier nur die großen Linien verfolgt werden, empfiehlt sich immer noch die differenzierte Darstellung bei Niedermann, Kultur,
S. 15-36.
7 Zur Erläuterung
der Tatsache, dass "colere" sowohl "wohnen" als auch "pflegen" heißt, bemerken A. Ernout/ A. Meillet, Dictionnaire Etimologique de la langue latine, Histoire des mots,
Paris 4. Aufl.l959, S. 132: "Les deux sens apparaissent egalement attestes des I' epoque la plus
ancienne, les deux idees etant connexes pour une population rurale, cf. agricola".
71
on".8
Diese aktivische Grundbedeutung meint stets eine Kultur, die man betreibt
(Kultur}). Weil sie eine Kultivierung von etwas ist, fordert die Wortverwendung
von "cultura" immer ein ergänzendes Genitivobjekt, das sich im Deutschen in zahlreichen Komposita niedergeschlagen hat, wie "Geisteskultur", "Sprachkultur",
"Gesangskultur" oder "Tanzkultur". Dagegen gehört die absolute Verwendung des
Wortes, erst recht ohne erläuternden Kontext, zu den größten Quellen der Verunklarung seiner Bedeutung.9 Cicero liefert umgekehrt den locus classicus der abendländischen Metapher der Geisteskultivierung (cultura animi 10), gerade weil er
sich deutlich Rechenschaft ablegt über die tertia comparationis, die zwischen der
Veredlung des Ackers und der des Geistes bestehen.
Ciceros Erläuterung der "cultura animi" enthält bereits eine kleine Philosophie
der Geistesbildung, die feinsinnig mit den etyrilologischen Elementen spielt: "Wie
nicht alle Äcker Frucht tragen, die bestellt werden [...], so bringen auch nicht alle
Geister eine Frucht ihrer Bearbeitung hervor". Auch die sorgfältigste Kultivierung
hilft also nichts, wenn nicht veredlungsfähige Naturanlagen und Kräftepotentiale
vorhanden sind. Aus einem steinigen oder sandigen Ackerboden lassen sich ebensowenig gute Früchte ziehen wie aus einem schwachen oder trägen Geist. Damit
auch die geistigen Bildungsinhalte ,auf einen fruchtbaren Boden fallen', müssen
8 So Pierers Encyclopädisches
Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Altenburg 1841, Bd. 2, S. 271. Ähnlich heißt es in der vierten, von J. Ch. Hennings 1775 besorgten
Auflage von Walchs "Philosophisches
Lexikon", das nach Niedermann, Kultur, 3, den deutschsprachigen lexikalischen Erstbeleg bildet: "Cultur. Zeigt eine Verfeinerung einer Sache an, so
durch hülfreiches Zuthun und Bemühen erreicht wird. Man kultiviert den Ackerbau [sic! also
nicht den Acker, H.B.], die Pflanzen, Blumen, Menschen usw."
9 Schon Horaz etwa spricht nur implizit von der Kultivierung
des Charakters, wenn er die
bloße Metapher ohne Genitivattribut in der Behauptung einbringt, die Laster könnten einen Menschen nicht so verwildern lassen, "dass er sich nicht veredeln ließe, wenn er nur pflegendem Wirken ein geduldiges Gehör schenkte (nemo adeo ferus est, ut non mitescere possit, si modo culturae patientem commodet aurem)" (Horatius, Epistulae, I, I, 38ff.).
10 Dass Cicero die Geistesbildung
nicht nur "cultura animi" nennt, sondern auch durch das
vom Partizipialadjektiv
"cultus" (kultiviert) abgeleitete Substantiv "cultus" ausdrückt, ist kennzeichnend fllr die römische Phase des Kulturbegriffs. Denn cultus bleibt zunächst das übliche
Wort fllr die sorgsame Pflege jener Bereiche, die zur Geistesbildung gehören. So heißt Geistespflege im Römischen cultus animi, die Pflege der Sprache cultus litterarum usw. Der Aspekt der
unablässigen Pflege und Verehrung fUhrt ferner zur religiösen Sonderbedeutung
von "cultus" als
Anbetung oder Gottesdienst. (Belege gibt Niedermann, Kultur, S. 26.)
72
73
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
z.B. Aufmerksamkeit und ein gewisser Grad an Intelligenz vorliegen. Der gute Boden ist aber keine hinreichende, sondern nur eine notwendige Bedingung für das
Früchtetragen: "Wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine
Frucht abwerfen kann, so auch nicht ohne Belehrung der Geist. [...] Die sorgsam
pflegende Bearbeitung des Geistes aber ist die Philosophie. Diese zieht die Laster
mit der Wurzel aus und bereitet die Geister darauf vor, die Saatgüter aufzunehmen,
vertraut sie ihnen dann an und sät sozusagen etwas, das, wenn es ausgewachsen ist,
die reichsten Früchte bringt". ("Nam ut agri non omnes frugiferi sunt qui coluntur,
rungstendenz der Aufklärung14 die modeme Idee der allseitigen Persönlichkeitskultivierung frei. Dieser Prozess spiegelt sich in einer allmählichen, seit dem 18.
Jahrhundert sogar inflationären Verwendung der ,,Kultur" mit Genitiv.ls In
Deutschland, wo ,,Kultur" zwischen 1760 und 1800 zur Modevokabel avanciert,
macht man am Kulturbegriff die Bildungsidee, aber auch folgendes Bildungsproblem fest.
[...] sici animi non omnes culti fructurn ferunt. atque, ut in eodem simili verser, ut
ager quamvis fertilis sine cultura fructuosus esse non potest, sic sine doctrina animus; ita est utraque res sine altera debilis. cultura autem animi philosophia est;
haec extrahit vitia radicitus et praeparat animos ad satus accipiendos eaque mandat
iis et, ut ita dicam, serit, quae adulta fructus uberrimos ferant." (Cicero: Tusculanes
Disputationes, II 5 [13]).
Nicht ganz von der Hand zu weisen sein dürfte das Urteil von Dempf, wonach
sich an dieser Stelle "die rein intellektualistische Auffassung der Bildung in der
griechisch-römischen Welt" überhaupt ausspreche. 11 In der Tat überfrachtet Cicero
hier die propädeutische Philosophie wohl mit zu vielen Aufgaben, vereinseitigt den
Geist (animus) und seine Kultivierung intellektualistisch auf Belehrbarkeit und
weist der Kultur eine direkte moralische Funktion zu wie später nur Mendelssohn
und Kant. Gleichwohl wird seine geprägte Analogie im Hintergrund der ganzen
europäischen Bildungsidee stehen bleiben, denn sie versinnbildlicht schön die
Notwendigkeit eines Lehrers (des Sämanns, Pflügers usw.) und das allmähliche
Reifen der Bildungssaat im dunklen Humus der menschlichen Seele. Allerdings
kommt deren Selbsttätigkeit nicht gut zum Ausdruck.
Während freilich bei der Kultur des Ackers die Differenz zwischen kultivierter
Sache und kultivierendem Menschen bleibt, ist bei der metaphorisch verstandenen
Kultur des Körpers oder des Geistes der einzelne zugleich Subjekt und Objekt seiner Kultivierung. Niemand kann von außen kultiviert werden, auch wenn es außen
förderliche Bedingungen oder Personen geben mag. "Niemand wird cultiviert",
wie Fichte betont. 12Deshalb spricht T. S. Eliot sehr exakt von "self-cultivation of
the individual". \3
Während Ciceros Metapher der cultura animi in der mittelalterlichen Bildungsidee der septem artes liberales und der E"{KUKÄ.lO<; 1tawsia kaum anzutreffen ist,
setzen das gesteigerte Individualbewusstsein der Renaissance und die Säkularisie-
VgJ. Anm. 1.
J. G. Fichte, Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (1793), in: SämmtIiche Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Berlin 1845/46, Bd. 2, S. 139.
13 T. S. Eliot, Notes towards the Definition ofCulture [1948], London 1972, S. 21.
11
12
,,Alle Kultur zielt auf Veredelung, auf Vergeistigung der Natur. Sie bedeutet
Formung naturgegebener Mannigfaltigkeiten. Deshalb gibt es so viele Kulturaufgaben als Naturgegebenheiten, die der geistigen Formung harren".16 Dann
aber fragt sich: Welche einzelnen (körperlichen bzw. geistigen) Naturanlagen (und
in welchem Grad?) muss eine Person kultiviert haben, damit man von ihr sagen
kann, sie sei ein kultivierter Mensch? Muss sie die "Kultur des Körpers" und die
"Kultur des Geistes" gleichermaßen getätigt haben, und hier allseitig die ,,Kultur
der Sprache", "der Wissenschaften", "des Geschmacks", "des Verstandes" und
"der Vernunft"?17 Nicht erst T. S. Eliot hat erkannt, dass "culture" zwar einerseits
Gegenbegriff zur Einseitigkeit ist, dass aber andererseits kein Individuum sämtli-
14 Der Fonnulierung nach etwas schief und übertrieben, aber der sachlichen Tendenz nach
nicht falsch ist die These von Rauhut: "Der Begriff ,Kultur' ist [H'] nichts Geringeres als eine
Verweltlichung des Begriffs ,Christentum'. [...] Ist Christentum ein Streben zur Überwindung der
Sündhaftigkeit, um zum Glück im Jenseits zu gelangen, so ist cultura ein Streben zur Überwindung des status naturalis, der Barbarei, um zum Glück im Diesseits zu gelangen." Franz Rauhut,
Die Herkunft der Worte und Begriffe ,Kultur', ,Civilisation' und ,Bildung', GennanischRomanische Monatsschrift 34 (1953), S. 81-91, hier 83f.
15 Weil die Neuzeit die Herkunft der Kultunnetapher aus dem Agrarischen noch deutlich
empfindet, wird auch das Objekt der veredelnden Pflege zunächst fast immer durch ein ergänztes
Genitivobjekt spezifiziert. Man hat dies nicht sehr schön, dafür aber deutlich die "funktionale"
Verwendung des Kulturbegriffs genannt. "Im Französischen wie auch im Englischen wurde culture zunächst [in der Neuzeit] immer funktional verwandt, d.h. mit einem Genitivattribut verbunden." H. Hilgers-Schell/M. Karuth, Culture und Civilization im Englischen und Amerikanischen
bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Europäische Schlüsselwörter 3, s.o. Anm. 4, S. 135-176,
hier S. 136. Sofern nicht der agrarische Primärbereich gemeint ist, hat man als das zu kultivierende Objekt im Englischen noch eher die vervolIkommnungsfllhigen inneren Naturanlagen des Individuums vor Augen. So spricht man etwa von "culture and profit of theyr myndes" (Thomas Morus), von "culture of their bodies" (Thomas Hobbes) oder von "culture of good manners"
(Sampson Lennard). Im Französischen dagegen denkt man - von traditionelIen Fonneln wie
"culture de I'esprit" (Voltaire) abgesehen - zugleich an die objektivierten Werke des Menschengeistes, durch deren sorgfllltiges Studium die innere, zumal geistige Natur vervollkommnet wird,
so dass man in bezug auf die antiken Römer von "Ieur culture de leur langue" sprechen kann (Joachim Du Bellay), von "culture des sciences" (Jean-Jacques Rousseau), von "culture des lettres"
oder von "culture des beaux arts" usw. (Belegstellen bei Hilgers-Schell u. Karuth, S. 136 f.; sowie
H. Hilgers-SchelJ u. H. Pust, Culture und Civilisation im Französischen bis zum Beginn des 20.
Jahrhunderts, in: Europäische Schlüsselwörter III, ebd. S. 1-30, hier 4ff.)
16 Deutsche Rundschau, Nr. 218 (1929), S. 43f.
17 Belege rur diese Fonneln des 18. Jahrhunderts gibt Baur, Die Geschichte des Wortes ,Kultur', S. 69, 81, 92.
75
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
che Bereiche wie "gute Umgangsformen (manners)" und "Gelehrsamkeit (learDing)" und philosophische "Fähigkeit zum Umgehen mit abstrakten Ideen (ability
to manipulate abstract ideas)" und Bewandertheit in den ,,Künsten (arts)" gleichermaßen vervollkommnen kann. Eliot selbst hat daraus den ScWuss gezogen,
"that the wholly cultured individual is a phantasm". 18Trotzdem bleibt natürlich
größtmögliche Vielseitigkeit anzustreben, und es war gerade die Goethezeit, die
sich an der Idee von umfassender Persönlichkeits- oder Selbstkultivierung orientiert hat. Diese zielt auf die (je nach sozialem Standl9) größtmögliche Vervollkommnung aller körperlichen und geistigen Anlagen eines Individuums zur harmonischen Ganzheit.
Die Idee umfassender Persönlichkeitskultivierung durch harmonische Ganzheit
aller Teilbereichskultivierungen24 wird später durch Wilhelm von Humboldt zwar
der Sache nach stark verbreitet, terminologisch jedoch umgetauft auf "vollendete
Bildung" oder "harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten"2S - ein Zeichen dafiir,
dass der klassische Kulturbegriff seine prägende Kraft verloren hat und längst von
neuen Bedeutungen durchsetzt ist. Dass bereits von Humboldt den alten Kulturbegriff nicht mehr versteht, zeigt seine Verhältnisbestimmung von Kultur, Zivilisation und Bildung:
"Von dem Standpunkt der innren Geisteswürdigung aus kann man auch Civilisation und Cultur nicht als den Gipfel ansehen, zu welchem der menschliche Geist
sich zu erheben vermag. [...] Die Civilisation ist die VermenscWichung der Völker
in ihren äusseren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden
innren Gesinnung. Die Cultur fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu. Wenn wir aber in unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nemlich
die Sinnesart, die sich aus der Erkenntniss und dem GefiiWe des gesammten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfmdung und den Charakter ergiesst."26
Während die erste Grundbedeutung der Kultur, die Kultivierung natürlicher
Anlagen, wegen der fortschreitenden Differenzierung der Fähigkeiten eine partikularisierende Richtung enthält, rückt gerade die zweite Grundbedeutung, die erworbene Kultiviertheit, die angestrebte Totalität der einzelnen Kultivierungsfelder,
d.h. die Ganzheit des Menschen in den Blickpunkt.
74
Das Ideal fmdet sich - hier bereits auf ein ganzes Volk bezogen - etwa bei
Adelung, der fiir das Ideal der "wahren Cultur" folgendermaßen argumentiert:
,,Der Mensch ist halb Körper und halb Geist; beyde müssen in gleichem Maße verfeinert und ausgebildet werden. Ganz Körper ist Wildheit und Rohheit, und ganz
Geist seyn wollen, ist weicWiche und übertriebene Cultur. Es gibt einen Grad der
Cultur, welcher der einzige wahre ist, und welchen ein Volk nie überschreiten
sollte, und dieser ist die männliche Cultur, wo Geist und Körper in dem gehörigen
Verhältnisse gegeneinander stehen". 20
Ein abstraktes Verfahren, "Cultur" als "ächte Bildung des geistigen und körperlichen Menschen", als "wahre Vervollkommnung unseres ganzen Wesens" zu systematisieren21, ohne die einzelnen Kultivierungsfelder aufzulisten, ist die Spezifizierung der Bereiche durch zusammenfassende Adjektive. Für Schiller etwa enthält
die "Erziehung des Menschen" die harmonische Kultivierung aller Teilkräfte, d.h.
die Ganzheit aus "physischer", "praktischer", "theoretischer", "philosophischer",
"ästhetischer" (oder "schöner") und "sittlicher (oder "moralischer") Kultur".22 Jenisch ergänzt diese Untergliederung durch "technische", "politische" und "religiöse Cultur".23
T. S. Eliot: Notes towards the Definition ofCulture [1948], London 1972, S. 22f.
19 Natürlich bei A. Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Hannover 1788,
S.288: "Verlange nicht einen übermässigen Grad von Cultur und Aufklärung von Leuten, die
bestimmt sind, im niederen Stande zu leben"!
20 J. C. Adelung, Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Leipzig
1782, Vorrede, Abschnitt 5.
21 So die Definition der Kulturidee bei J. eh. F. GutsMuths, Gymnastik rur die Jugend,
2. Aufl., SchnepfenthaI1804, S. 80. Er unterscheidet die "Cultur", die eine "wahre Kraftvermehrung" bewirke, von der bloßen "Verfeinerung", die nur eine "geschmackvolle Verzärtelung unserer Sinnlichkeit" sei (ebd.).
22 F. SchiIler, Brief an Herzog Friedrich Christian von Augustenburg, 13. Juli und 11. November 1793, in: ders., Werke, Nationalausgabe, Bd. 26, Weimar 1992, S. 266, 300f.
23 D. Jenisch: Universalhistorischer Ueberblick der Entwickelung des Menschengeschlechts
als eines sich fortbildenden Ganzen. Eine Philosophie der Culturgeschichte, Berlin 1801, 3. Buch.
18
24 Im englischsprachigen Raum scheint die ausdrückliche Verknüpfung der Universalbildung
mit dem Kulturbegriff erst später zu erfolgen. Der vielleicht erste, gewiss schönste Beleg ist
M. Amold, Culture and Anarchy [1869], Cambridge 1950. "Culture" bedeutet hier "a pUTSuitof
our total perfection [I] by means of getting to know, on all the manners which most concem us,
the best which has been thought and said in the world; and, through this knowledge, tuming a
stream of fresh and free thought upon our stock notions and habits" (S. 6). Weil sie auf die VervollkommnUng der Ganzheit geht, ist sie "a harmonious expansion of all the powers which make
the beauty and worth of human nature, and not consistent with the over-development of any one
power at the expence ofthe rest" (S. 48).
2S W. v. Humboldt, Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen
Anstalten in Berlin (1810), in: Gesammelte Schriften, Bd. 10, hrsg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903fT.,S. 256.
26 Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues [1836], in: Gesammelte Schriften,
Bd. 7, S. 30. Die bei Cicero ausdrücklich betonte Verbindung der "cultura" mit Herzens- oder
Charakterbildung ist bei von Humboldt gänzlich übergesprungen auf die "Bildung".
76
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
2. Kultur, die man hat: gepflegter Zustand oder hoher Grad
erworbener Vervollkommnung
Geistes- und begriffs geschichtlich weitaus folgenschwerer als dieser immer
noch auf die Persönlichkeitskultivierung bezogene Kulturbegriff ist aber die allmähliche Übertragung des gedachten Entwicklungszustands vom Individuum auf
ganze Völker und Epochen. Aus dieser erneuten Entgrenzung der Kulturmetapher
entwickelt sich schließlich die dritte, modeme Grundbedeutung von ,,Kultur", und
mit deren Siegeszug wird der ganze Begriff noch komplexer und unklarer.
Diese zweite Grundbedeutung von ,,Kultur", die nunmehr ihr Genitivattribut ablegt, bleibt strukturell symmetrisch auf den ersten Begriff abgebildet. Denn je sorgfältiger die Pflege der natürlichen Anlagen ist, desto höher ihr Grad an Gepflegtheit
oder Vervollkommnung. Die Kultur, die man betreibt (Kultur\), verhält sich also
zur Kultur, die man hat (Kultur2), wie der Aufwand zum Ergebnis, wie die Tätigkeit zum erworbenen dauerhaften Zustand oder Habitus. In Ciceros Analogie ist
jene die Bearbeitung des Ackers, diese das fruchttragende Feld. Im Unterschied
zum spätesten, vierten Kulturbegriff werden hier jedoch die Früchte noch nicht als
objektivierte Produkte, sondern noch als innere Vollendung verstanden, auch wenn
diese nach außen ausstrahlt und sich im Objektiven darstellt. Dass die erworbenen
Früchte aus der Pflege unterschiedlichster Tätigkeiten resultieren können, zeigen
die noch heute hierher gehörenden deutschen Komposita: Ein Sänger hat "Stimmkultur", wenn er das Singen jahrelang geübt hat, ein Redner "Vortragskultur",
wenn er Artikulation und Sprachgestus zur Meisterschaft gebracht hat, USW.27 Obwohl die klassische "cultura animi" zugleich mit der Tätigkeit immer auch den resultierenden Zustand implizit mitzudenken aufforderte, kommt es erst mit dem 17.
Jahrhundert vereinzelt zu explizit sprachlichen Akzentverlagerungen auf das Resultat. Im Französischen ist es wohl erstmals La Bruyere, der "culture" nicht nur
im klassischen Sinne der action d'instruire une personne verwendet, sondern auch
im neuen Sinne des etat d'une personne instruite.28 Im Deutschen findet sich die
ausdrückliche Akzentuierung eher selten, auffällig etwa bei Goethe29, der jedoch
den zeitgenössischen Kult um die inflationierte Kulturvokabel bereits ironisch
glossiert.30
Die Belege gibt Baur, Die Geschichte des Wortes ,Kultur', S. 736ff.
So die These von W. v. Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, Tübingen 1946, S. 1504. Bei La Bruyere heißt es deutlich: "une certaine culture qui leur manque",
Lescharacteres ou les moeurs de ce siecle (1688), hg. v. G. Pellissier, Paris 1897, ch. 20, § 21,
S. 273. Der Versuch von Hilgers-Schell u. Pust: Culture und Civilisation im Französischen, S. 6f.,
frühere Belege bei Du Bellay und Montaigne zu finden, überzeugt dagegen nicht.
29 In den "Bekenntnissen einer schönen Seele" spricht der Oheim von demjenigen Typus,
"dessen Geist nach einer moralischen Kultur strebt", Wilhelm Meisters Lelujahre. VI. Buch, in:
Goetbes Werke, Bd. 7, hrsg. von E. Trunz, Hamburg 1955ff., S. 408. In Dichtung und Wahrheit,
11.Teil, 9. Buch, beißt es von gewissen pietistischen Zirkeln, dass sie einen bewundernwerten
"Grad von Kultur erhielten", ebd., Bd. 9, S. 371.
30 "Auch die Kultur, die alle Welt beleckt, I hat auf den Teufel sich erstreck!", Faust I, Hexenküche, V. 2495. Diese Erklärung gibt Mephisto, als ihn die Hexe nicht wiedererkennt, weil
seine Hörner unter einern Hut mit bunter Hahnenfeder und seine Pferdefllße unter "falschen Waden" versteckt sind. So kann also die ganze Kultur zur modischen Fassade werden, hinter der sich
sogar Teufel den Schein von Menschlichkeit geben können!
27
28
77
3. Kultur, in der man lebt: der charakteristische Traditionszusammenhang von
Institutionen, Lebens- und Geistesformen,
durch den sich Völker und Epochen voneinander unterscheiden
Im lateinischen Sprachgebrauch war es der "cultus", der den verfeinerten Zustand
ganzer Völker bezeichnete. I Dagegen spricht nun erstmals Francis Bacon von
"cultura", wo er den gesamtgesellschaftlich fortgeschrittenen Entwicklungsstand
von Entdeckungen und mechanischen Erfindungen meint. Damit kommt es zur
folgenschweren Übertragung der "cultura" vom Individuum auf ganze Gesellschaftsepochen. Wieviele Zeitepochen habe man doch gebraucht, bis die ersten Erfindungen "auf diesen Stand der Vervollkomßmung, den wir jetzt haben (ad eam
quam nunc habemus culturam)", gebracht waren!32 Die Kultur, die man jetzt gesellschaftlich "hat", nennt Bacon auch ,,Kultur des bürgerlichen Lebens (cultura
civilis vitae)". Zugleich bleibt er der ciceronischen Analogie verpflichtet und gibt
der alten Lehre "von der Herrschaft und Pflege des Geistes (doctrina] de regimine
et Cultura Animi" den neuen, technisierten Titel "Georgica Animi".33
Es war also gerade das Fortschrittspathos der bürgerlichen Frühaufklärung, das
mit dem Kulturbegriff jetzt das gesellschaftlich gesteigerte Entwicklungsniveau
gegenüber den ,finsteren Jahrhunderten' fiir sich reklamierte. Hierdurch wurde der
Kulturbegriff mit Merkmalen der traditionellen "civilitas" infiltriert, die sich im
Französischen des 18. Jahrhunderts zur Fortschrittsvokabel "civilisation" ausdiffe-
i
31 Zunächst kann "cultus" zwar auch die Pflege selbst bezeichnen (s.o. Anm. 10), doch abgesehen von diesem "Schillern ins Aktive und Passive hinein" steht es meistens fllr die "Gepflegtheit", "höhere Lebensweise", die "bessern Lebensformen", den "Lebensstandard" oder den Grad
an erworbener "Bildung" (Niedermann, Kultur, S. 21-23). So spricht etwa Livius von den vielen
Künsten der Griechen, die sie "zur Kultiviertheit der Geister und Körper (ad animorum corporumque cultum)" fllhrten (Ab urbe condita, 39, 8, 3). Und Cäsar schreibt, die Belger seien "von
der Gepflegtheit und Menschlichkeit der Provinz weit entfernt (a cultu atque humanitate provinciae longe absunt)" (Commentarii de bello gallico, 1, I, 3).
32 Novum Organum, I, Aph. 85, in: The Works ofFrancis Bacon, Bd. 1, hrsg. von J. Spedding, R.L. Ellis u. D.D. Heatb, London 1858 ff., S. 192.
33 Oe dignitate et augmentis scientiarum, VIII, in: The Works, Bd. I, S. 715.
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
renzierte.34 Noch deutlicher wird dies bei Samuel von Pufendorf, der die Hobbessche Unterscheidung von Naturzustand und Zivi/zustand durch das Gegensatzpaar
"natura" und "cultura" interpretiert, "cultura" aber so umschreibt, dass sie "dem
menschlichen Leben infolge von Hilfe, Fleiß und Erfindungen anderer Menschen,
sei es durch eigenes Nachdenken und Bemühen, sei es durch göttlichen Wink, zuteil geworden", mithin das Resultat gesellschaftlicher Tätigkeit sei.3s Während Bacon und Pufendorf aber nur ein Übergangsfeld bilden, indem sie den individuellen
Vervollkommnungsweg auf die Geschichte übertragen, liegt der entscheidende
nalbewusstsein.37 Herder übernimmt zwar von der Aufklärung die Vorstellung einer stetigen Vervollkommnung der Lebens- und Geistesformen, überträgt also
ebenfalls den Zustandsbegriff Kultur2 auf geschichtliche Kollektive - obwohl er
die damit verbundene Gefahr der Verunkiarung erkennt. 38Doch sein genialer historischer Sinn fiir das Individuelle eines jeden Volks- und Zeitgeistes sowie seine daraus entspringende Maxime, die Humanität vergangener Zeitalter auf keiner anderen Waagschale als "der damaligen Stufe ihrer Erkenntnisse und Kultur" abwägen
zu wollen39, lenken den Blick zunehmend auf das regional und historisch Einmalige. Zwar bleiben auch bei Herder noch die zwei normativen, nun auf Kollektive
übertragenen Grundbedeutungen von ,,Kultur" im Hintergrund.40 Indem er aber die
geschichtsphilosophische Grundthematik zu einer ethnographischen Vogelperspektive über den ,,Fortgang" und "Lauf der Cultur" durch die Jahrhunderte hinweg ausweitet I, räumt er "mancherlei Stuffen der Cultur" ein. 42Durch diese Gradualisierung werden die unterschiedlichsten Lebens- und Geistesformen qua
"civilisation" immer stärker rein deskriptiv in den Kulturbegriff integriert43, so dass
schließlich sämtliche Besonderheiten von der Wirtschaftsweise bis hin zur Religion und Rechtspflege zu der "ganze[n] Cultur" eines bestimmten "Erdstrichs" in
einer bestimmten Epoche gezählt werden. 44Diese extreme Ausweitung des Kulturbegriffs führt umgekehrt dazu, dass die nunmehr unbestimmte räumliche und zeitliche Variable nach historischer Spezifizierung verlangt. Sie erfolgt durch die Beiwörter der "griechischen Cultur" ("Cultur Griechenlandes")4S, der "lateinische[n],
78
Wendet'unkt zum modemen Kulturbegriff gerade in der Kritik am gleichmacherisch linearen Fortschrittskonzept der Aufklärung, das die Besonderheiten der Völker und ihrer Epochen zugunsten einer abstrakten Höherentwicklung ausblendet
und entwertet.
Wie ein durchbrechender Weisheitszahn deutet sich schon beim Aufklärer Voltaire eine kritische Umbesetzung von ,,Kultur" mit den charakteristischen Sitten
und Gewohnheiten der Völker an. Während die "Natur" des Menschen in der Geschichte stets dieselbe bleibe, sei es gerade die getätigte ,,Kultur" (Kultur,), die bei
den Völkern die "verschiedenen Früchte" an Sitten und Gewohnheiten hervorbringe. In Voltaires Essai von 1756 geht es also vor allem um die historische Variabilität der Sitten gegenüber der Invarianz der Natur:
"L'empire de la couturne est bien plus vaste que celui de la nature; il s'etend sur
les mreurs, sur tous les usages, il repand la variete sur la scene de l'univers; la nature y repand l'unite; elle etablit partout un petit nombre de principes invariables;
ainsi le fond est partout le meme, et la culture produit des fruits divers".36
Der geschichtsphilosophische Perspektivenwechsel schlägt jedoch erst in
Deutschland auf den Begriff der Kultur durch, und zwar durch Herders bahnbrechende Verknüpfung des historischen Bewusstseins mit dem erwachenden Natio34 Während "civilitas" den gehobenen Stand stadtbürgerlicher Sitten bezeichnete, meint das
seit dem Marquis de Mirabeau d. Ä. um 1757 belegte "civilisation" nun den äußeren wie inneren
Gesamtfortschritt.
"Man brauchte [...] ein Wort, das nicht nur den Fortschritt in dem einen oder
anderen Bereich zum Ausdruck brachte (wie police den politisch-gesellschaftlichen
Fortschritt
und civilite und politesse die moralisch-gesellschaftliche
Höherentwicklung
beinhalteten), sondern gleichzeitig die politische, religiöse, intellektuelle und moralische Höherentwicklung.
Dieses
Wort fand man um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit civilisation", Hilgers-Schell, Pust: Culture
und Civilisation im Französischen, S. 14).
35 Pufendorf schreibt von der cultura, "quae vitae humanae ex auxilio, industria, et inventis aliorum hominum propria meditatione et ope, aut divino monitu accessit", S. von Pufendorf, Eris
Scandica qua adversus libros de Jure naturae et Gentium objecta diluuntur, Frankfurt a.M. 1686,
darin: Specimen Controversiarum,
S. 164-277, hier 01 § 3, S. 185. Treffend bemerkt hierzu
E. Hirsch, Der Kulturbegriff. Eine Lesefrucht, in: Deutsche Vierteljahrsschrift
für Literaturwissenschaft 3 (1925), S. 398-400, hier 400: "Nur einem so erschröcklichen Latinisten wie Pufendorf
ist [...] die ziemlich barbarische Zurechtbiegung des Begriffes zuzutrauen".
36 Essai sur les moeurs, 01, Kap. 197, Oeuvres completes de Voltaire, hrsg. von L. Moland,
Paris 1877ff., Bd. 13, S. 182.
79
37 Zur neuen Herderschen Terminologie vg\. T. Genthe, Der Kulturbegriff bei Herder, Diss.
phi\. Jena 1902; I. Taylor, Kultur, Aufklärung, Bildung, Humanität und verwandte Begriffe bei
Herder, in: Gießener Beiträge zur deutschen Philologie, Bd 62, Gießen 1938.
38 "Nichts ist unbestimmter als dieses Wort", nämlich "was wir Cultur nennen", "und nichts
ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten", Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit [1784-91], Vorrede; in: Sämtliche Werke, Bd. 13, hrsg. von B.
Suphan, S. 4.
39 Herder, Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst [um 1764], Suphan, Bd. 32,
S.97.
40 So nennt Herder z.B. die "Cultur eines Volks" im Sinne von Kultur2 "die Blüthe seines Daseyns", Ideen, Suphan Bd. 14, S. 147. Auch schwärmt das Journal meiner Reise [1769] antizipatorisch vom Zustand der "Gegenden von West-Norden", "wenn einmal der Geist der Kultur sie
besuchen wird", Suphan Bd. 4, S. 402.
41 Über die neuere Deutsche Literatur (1766/67), Suphan, Bd. I, S. 366; ebd., Suphan, Bd. 2,
S.116.
42 Ideen, Suphan, Bd. 14, S. 104. "Der Unterschied zwischen [... ] cultivirten und uncultivirten
Völkern ist also nicht specifisch; sondern nur Gradweise", ebd., Suphan, Bd. 13, S. 348.
43 An manchen Stellen zeigt Herder sogar, dass er "Kultur" gleichbedeutend mit "Zivilisation" versteht; vgl. Ideen, Suphan, Bd. 14, S. 33f.
44 Zu der enormen Spannbreitejener
Phänomene, die etwa "bei den Völkern Vorder-Asiens"
die "ganze Cultur dieses Erdstrichs" ausmachen, vgl. die Ideen, Suphan, Bd. 14, S. 42.
45 Ideen, Suphan, Bd. 14, S. 92, 103, 104, 127, 140, 147,228,430.
80
81
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
etruskische[n] Cultur"46, der "europäischen Cultur" ("Cultur Europas")47 usw., ja
sogar durch erste soziologisierende Komposita wie ,,BÜfgerkultur".48
Aus Herders Wahrnehmung von historisch-ethnischer Relativität folgt zum einen die 'erste Kritik am naiven Eurozentrismus avant la lettre. Hiernach ist "im
Grunde" schon "alle Vergleichung misslich"49, weil die Vergleichsmaßstäbe stets
aus der eigenen Nation und Epoche herangetragen werden. Zum andern kommt es
mit Herders ethnographischer Sensibilität fiir die durchgängige Individuiertheit
ethnischer Formen zur Geburt des modernen, ethnologischen oder historischen
Kulturbegriffs, dessen "semantische Karriere" nach Luhmanns trefflicher Diagnose
das Bewusstsein absoluter ,,Kontingenz" verbreitet und "Indikator" der heraufziehenden "Weltgesellschaft" ist.50Zu der Kultur, die man betreibt (Kultur.) und
der Kultur, die man hat (Kultur2), ist die Kultur, in der man lebt (Kultur3)' hinzugetreten. ,,Kultur" bezeichnet jetzt den charakteristischen Traditionszusammenhang von Institutionen, Lebens- und Geistesformen, durch den sich Völker und
Epochen voneinander unterscheiden. Dieser völker- und epochentypische Kosmos
innerer und äußerer Formen, in dem Gesellschaften wie in einer zweiten Natur
oder Haut wohnen, wird manchmal ungenau "objektive Kultur" genannt.51 Weitere
Definientien, nämlich ,,Muster", "Verhalten" und "Symbol", werden später ergänzt
in dem berühmten Versuch von Kroeber und Kluckhohn, die Unzulänglichkeiten
aller bisherigen Definitionen durch eine Art Integralformel zu beheben:
"Culture consists of patterns, explicit and implicit, of and for behavior acquired
and transmitted by symbols, constituting the distinctive achievement of human
groups, including their embodiments in artifacts; the essential core of culture consists oftraditional (Le., historically derived and selected) ideas and especially their
attached values; culture systems may, on the one hand, be considered as products
of action, on the other as conditioning elements of further action. "52
Obwohl man erst mit Herders historischem Kulturbegriff von einer Kultur (figürlich genommen) im Unterschied zu anderen sprechen kann, so dass gerade die
Pluralität von ,,Kultur" in den Horizont ruckt, wird doch die Pluralrede von ver-
schiedenen "Kulturen", die als Träger der Geschichtsprozesse aufgefasst werden,
erst seit Jacob Burckhardt, vor allem aber durch Frobenius' und Spenglers naturalistischen Kulturbegriff gebräuchlich werden. 53
Herders epochale Bedeutungsverlagerung vom fortschrittsoptimistischen "Zeitalter der Cultur"54 zur historisierten "Cultur des Zeitalters"55 breitet sich in
Deutschland schnell aus und macht dann auch in Frankreich der "civilisation"
Ideen, Suphan, Bd. 14, S. 190.
Ideen, Suphan, Bd. 13, S. 348, 371; ebd. Suphan, Bd. 14, S. 70,141,152.
48 Ursachen des gesunknen Geschmacks
[1775], Suphan Bd. 5, S. 614.
49 Auch eine Philosophie,
Suphan Bd. 5, S. 509.
50 Kultur als historischer
Begriff (s.o. Anm. 3), S. 54,51 u.49.
51 Niedennann,
Kultur, S. 214, hat die arn Anfang des 20. Jahrhunderts auftauchende Formel
"objektive Kultur" fllr den Herderschen Kulturbegriff vorgeschlagen, und seitdem fand sie Einlass in zahlreiche Darstellungen. Das ist jedoch irrefllhrend, weil "objektiv" im Sinne von "objektiviert" gerade die abgespaltenen, toten Werke kennzeichnet, während Herder auch die aktualen
Lebensformen und sogar die inneren geistigen Vollzüge meint, in denen ein Kollektiv wohnt. Die
Formel "objektive Kultur" paßt deshalb besser fllr die vierte Grundbedeutung.
52 A. L. Kroeber/C.
K1uckhohn, Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions
Cambridge Mass. 1952,2. Aufl. New York 1967, S. 357.
46
47
Konkurrenz,56 Zu Anfang des 19. Jahrhunderts begnügt man sich noch damit, die
,,Kulturzweige" oder ,,Kulturgebiete" der "Gesamtkultur"57 einfach aufzulisten und
die unbestimmte Variable durch historisch-soziologische Komposita zu konkretisieren. Nach dem Werkzeugmaterial unterscheidet man "Bronzekultur", "Eisenkultur" oder "Faustkeilkultur", nach Wirtschaftsformen "Steppenjägerkultur",
"Pflanzenbauemkultur" und ,,Hirtenkultur", nach Fundorten "La Tene-Kultur"
oder ,,Kykladenkultur", nach Stilepochen "Barockkultur" oder "Biedermeierkultur", nach politischen Aspekten "Yankeekultur" und später "Sowjetkultur", ferner "Großstadtkultur", "Stadtkultur" oder ,,Dorfkultur", ,,Adelskultur", "Mittelstandskultur", "BÜfgerkultur" oder "Bauemkultur" sowie "Jugendkultur" und
"Familienkultur". 58Später kommt es dagegen durch den wachsenden Präzisionsdruck in jenen neuen Wissenschaften wie Ethnologie, Religionswissenschaft, Kul53
Weil filr Herder die Völker mit ihrer besonderen
Kultur, nicht jedoch
die Kulturen
selbst
Träger der Geschichte sind, ist die Behauptung von D. Sobrevilla: Der Ursprung des Kulturbegriffs, der Kulturphilosophie
und der Kulturkritik. Eine Studie über deren Entstehung und deren
Voraussetzungen,
Diss. phi!., Tübingen 1971, S. 85, unangemessen, dass "die Rede von ,Kulturen' [...] bereits implizit bei Herder" vorliege. Typisch fllr das Sprachempfinden
noch des 19. Jh.
ist F. Kürnberger, Literarische Herzenssachen.
Reflexionen und Kritiken. Wien 1877, S. 354:
"Die Cultur! Welche Cultur? Nachdem man von einer indischen, griechischen, römischen, germanischen, slawischen Cultur spricht, sollte man denken, daraus ergäbe sich der Plural ,die Culturen' ganz von selbst. Dem ist aber leider nicht so. Nach dem Sprachgebrauche
sagt man ,eine
Cultur', und ,die Culturen' nur ausnahmsweise und zu Specialzwecken".
54 So z.B. G. E. Groddeck: Über die Vergleichung
der alten, besonders Griechischen mit der
Deutschen und neuen schönen Litteratur, Berlin 1788, S. 7; und F. K. L. Sickler, Geschichte der
Wegnahme und Abfllhrung vorzüglicher Kunstwerke aus den eroberten Ländern in die Länder der
Sieger. Ein Beitrag zur Kunst- und Kulturgeschichte, Jena 1803, Bd. I, S. 5.
55 J. G. Fichte, System der Sittenlehre,
1798, § 29, Werke (s.o. Anm. 12) Bd. 4, S. 346.
56 Die Bemerkungen
von Baur: Die Geschichte des Wortes ,Kultur', Herder sei "Bahnbrecher
des deutschen Kulturbegriffs" (S. 69) oder habe "den deutschen Kulturbegriff geschaffen" (S. 70),
klingt zunächst chauvinistisch und ist ferner irrefilhrend, da ja auch die anderen Bedeutungsmomente im Deutschen erhalten bleiben. Richtig daran ist jedoch, dass die neue Grundbedeutung
von Deutschland nach Frankreich überschwappt, wie französische Wörterbücher belegen: "Culture, pris dans le sens de civilisation, (d'apres I'allemand Kultur) est d'un emploi moins courant",
R, Bailly: Dictionnaire des synonymes de la langue francaise, Paris 1947, S. 129; "Culture" qua
"civilisation" sei von "l'origine allemande", Sichwort: Kultur. Dictionnaire alphabCtique et analogique de la langue francaise, Bd. 3, hrsg. von P. Robert, 2. Aufl., Paris 1985, S. 109 rechts.
57 J. Burckhardt,
Weltgeschichtliche
Betrachtungen [1868], in: Gesamtausgabe,
Bd. 7, hrsg.
von E. Dürr et a., StuttgartlBerlin I 929ff., S. 77.
58 Die Erstbelege gibt Baur, Die Geschichte des Wortes ,Kultur', S. 736ff.
82
83
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
turanthropologie usw., die Herders historischen Kulturbegriff übernehmen, allmählich zu Definitionsversuchen dessen, was eine Kultur ist und zu einer Kultur
macht.
können, so verhängnisvoll ist andererseits die deutsche Übersteigerung des organischen Ganzbeitstyps auf "Einhelligkeit'<67,ja "Geschlossenheit'<68 oder "geschlossene Totalität'<69nach Art eines "Organismus"7o hin. Dies erweist sich angesichts
der obengenannten historisch-sozialen Binnendifferenzen innerhalb einer Gesamtkultur als eine monumentalistische Einheitsfiktion, die den deskriptiven historischen Kulturbegriff vermengt mit den normativen Wunschsuggestionen gesunder
Natürlichkeit. Und am organischen Ganzbeitsideal gemessen können dann die dissoziierenden Tendenzen der sich individualisierenden und pluralisierenden modernen Gesellschaft nur als Zeichen des "Kulturverfalls", ja der "Krankheit" gewertet
werden. Paradigmatisch für solche organizismusbedingte Verfallsdiagnose ist Eduard Spranger:
Das Fortleben der Kultur hänge davon ab, "dass die entscheidenden Schichten
der kommenden Generation [u.] den gestalteten echten Kulturgehalt und seine geschlossene Totalität mit ihrem Verstehen erfassen, mit ihren Werten bejahen und
mit ihren aktiven Kräften im Sinne des echten, d.h. sittlich verpflichtenden Kulturideals weiterbilden. Tritt dies nicht ein, so entsteht eine Kluft zwischen der objektiven Kultur und den sie tragenden Kultursubjekten. In dieser Inkongruenz liegt
die Ursprungsquelle des Kulturverfalls, ja vermutlich ist sie die erste Ursache rur
das, was wir Auflösung der organischen Totalität der Kultur genannt haben". "Die
Gesundheit oder Krankheit einer Kultur beruht auf dem Zusammenwirken aller [...]
kulturellen Teilleistungen zu einer gegliederten, in sich abgestuften und doch einheitlichen Totalleistung. [u.] Nur solange eine bestimmte Ganzheit der Kultur ge-
Sie sind entweder eher additiv, sofern sie eine Kultur als bloße "Summe"S9,
"Gesamtheit"60 oder "Inbegriff'61 auffassen, und dann geht ihnen das mehr oder
weniger einheitliche Stilgepräge von Völkern und Epochen verloren. Oder sie betonen gerade den übersummativen Charakter einer Kultur und bestimmen sie als
,,komplexes Ganzes"62, als "System"63, als "organisierten Körper"64 oder als "organische Totalität"6s, die womöglich von einem kollektivseelischen Charakter getragen wird.66 So sinnvoll die Betonung organischer Züge (z.B. des physiognomischen Charakters und der Wechselbedingtheit zwischen Gliedern und Ganzem) einerseits ist, um das epochentypische Gepräge eines Ethnos verstehen zu
S9 "Mit dem Worte Kultur bezeichnen
wir gewöhnlich die Summe aller geistigen Errungenschaften einer Zeit", F. Ratzei, Die Naturvölker Afrikas, Bd. I der Ausgabe in 2 Bänden, Leipzig
1885/86, S. 14; R. B. Dixon, The Building ofCultures, New York 1928, S. 3, bestimmt "culture"
als "the sum ofall [a people's] activities, customs, and beliefs".
60 "Unter Kultur verstehen wir schließlich doch nichts anderes, als die Gesamtheit dessen, was
das menschliche Bewußtsein vermöge seiner vernünftigen Bestimmtheit aus dem Gegebenen herausarbeitet." W. Windelband, Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, 5. Aufl., Tübingen 1915, S. 287)
61 J. Burckhardt,
Weltgeschichtliche
Betrachtungen [1868]. Gesamtausgabe (s.o. Anm. 57),
Bd. 7, S. 20, versteht unter "Kultur" den "Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften";
Die Stimmen der Zeit. Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart, 88 (1915), S. 258, halten fest, dass zwar
gewiß "die Sprache zu dem Hauptbestandteil der Kultur zählt", dass jedoch "sonst über den Inbegriff der Kultur Meinungsverschiedenheiten
bestehen"; E. Spranger, Die Kulturzyklentheorie
und
das Problem des Kulturverfalls, Berlin 1926, schreibt S. LIlI: "Unter einer Kultur im weitesten
Sinne verstehen wir einen Inbegriff von historisch gewordenen Wertgebilden teils materiellen,
teils rein geistigen Charakters, die von einer jeweils lebenden Menschengruppe
gesellschaftlich
getragen, d.h. verstanden, gewertet und idealgemäß weitergebildet werden".
62 "Culture, or civilization
[u.] is that complex whole which includes knowledge, belief, art,
law, morals, custom, and any other capabiIities and habits acquired by man as a member of society", Edward Bumett Tylor, Primitive Culture, Boston 1871, S. 1.
63 "Die Kultur ist ein System von Kräften, Formen, Funktionen und Prozessen",
A. Vierkandt,
Naturvölker und Kulturvölker. Ein Beitrag zur Socialpsychologie, Leipzig 1896, S. 102.
64 "Culture can be defined as an organized body of behavior patterns which is transmitted by
social inheritance, that is, by tradition, and which is characteristic of a given area or group of peopIe", A. Angyal, Foundations for a Science ofPersonality, New York 1941, S. 187.
6S Spranger, Kulturzyklentheorie,
S. LV, konkretisiert den "Inbegriff' schließlich doch zu einer "organischen Totalität der Kultur".
66 Im Vergleich zu späteren Hypostasierungen
wie "Paideuma", "Rassenseele" oder "Kulturseele" ist die Bestimmung von K. Lamprecht, Die Kulturhistorische Methode, Berlin 1900, S. 26,
noch recht nüchtern, Kultur sei der ,jeweils eine Zeit umfassende seelische Gesamtzustand, ein
Diapason, der alle seelischen Erscheinungen der Zeit und damit alles geschichtliche Geschehen
derselben durchdringt, denn alles geschichtliche Geschehen ist seelischen Charakters".
67 Der frühe Nietzsche nimmt sich für seine Idee der "Cultur als einer Einhelligkeit
zwischen
Leben, Denken, Scheinen und WoUen" zwar zunächst den individualbezogenen
"griechische[n]
Begriff der Cultur" zum Vorbild. Doch will seine Diagnose der "historischen Krankheit" gerade
zeigen, dass durch die "Ueberschwemmung
durch das Fremde und Vergangne" nicht nur "ein
Mensch oder ein Volk", sondern auch "eine [I] Cultur" als ganze "zu Schaden kommt", Nietzsehe, Unzeitgemäße Betrachtungen. 11. Stück, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874], KSA Bd. I, S. 334, 329, 333, 250. Die gesunde "Cultur eines Volkes" sei gerade die
"Einheit des künstlerischen Stiles in allen [I] Lebensäusserungen eines Volkes", so dass das Volk
"lebendig Eines" sei "und nicht so elend in Inneres und Aeusseres, in Inhalt und Form auseinanderfallen" könne, ebd., S. 274.
61 "Der Begriff Kultur fordert [u.] einen Träger, dessen leibliche
und geistig-seelische
Geschlossenheit die Voraussetzung daftlr ist, dass Kultur [u.] wird und ist. Als ein solcher Träger
kommt nur die Volksgemeinschaft
in Frage", Sachwörterbuch der Deutschkunde, Bd. 2 der Ausbabe in 2 Bänden, hrsg. v. W. Hofstaetter und U. Peters, Leipzig 1930" S. 677.
69 Spranger, Kulturzyklentheorie,
S. LV.
70 GrafH. Keyserling, Die neu entstehende Welt. Darmstadt
1926, S. 19, gibt die übertriebene
Stilisierung ins Geschlossene, dass eine Kultur "ein wesentlich Einheitliches ist, weshalb jedes [I]
Einzelne an ihr das Ganze voraussetzt und auf dieses zurückweist. Kultur ist ein geistiger Organismus".
84
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
wahrt bleibt, entspricht sie dem nonnativen Ideal [!], an dem sich die Urteile über
Blüte und Verfall orientieren")'
wollen - zunächst durch einen "Kamptbund fiir deutsche Kultur"80, dann durch
politische Institutionen von der "Reichskulturkammer" bis zu den "Gaukulturwochen".
Die Vorstellung, dass eine ,,Kultur" wie z.B. die "aegyptische [...] ein völlig abgeschlossenes, individuelles Wesen" sei72, verführt ferner dazu, den jungen Kulturbegriff aus der Bakteriologie73 assoziativ auf ganze Zivilisationen zu übertragen.
Man glaubt dann außer den Mikroorganismen im Labor auch noch Makroorganismen in der Geschichte beobachten und ihnen in einer Art ,,Kulturbiologie"74 ihre
schicksalhaften Eigengesetzlichkeiten ablauschen zu können, die den Menschen
zum ,,sklave[n] der Kultur" machen.7s Während Frobenius immerhin gelegentlich
noch auf den Analogiestatus hinweist (,,Ich behaupte, jede Kultur entwickle sich
wie [!] die lebenden Organismen",?6), beruht Spenglers ganze poetisch mythisierende ,,Morphologie der Weltgeschichte" auf dem Untergang dieser abendländischen Differenzierung: ,,Kulturen sind [!] Organismen."77 Wo die gleichsam
ethnobakteriologische Hypostasierung einer Kultur zum Superorganismus nicht,
wie bei Spengler, auf transnationale Zusammenhänge angewandt, sondern mit einem Selbstbehauptungswillen der Nation kurzgeschlossen wird, bietet sie eine
willkommene Legitimierung fiir völkische Geschlossenheitsprätentionen, welche
die ,,Einheit des Blutes, der Kultur und des Geistes"78 propagieren und die "schöpferischen Kräfte" des "Volkes"79 vor "Verseuchung" und Zersetzung bewahren
Spranger, Kulturzyklentheorie,
S. LV u. LI.
H. S. Chamberlain, Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. München 1899, S. 711.
73 Bei E. Hallier, Die pflanzlichen
Parasiten des menschlichen Körpers, Leipzig 1866, S. 114,
bedeutet die "Cultur des [...] Pilzes" noch den Akt des Züchtens. Wie schon im figürlichen Bereich verschiebt sich aber auch hier die Bedeutung von der Tätigkeit auf das Resultat bzw. auf das
Objekt, hier also auf die gezüchteten Organismen selbst. So heißt es in Meyers KonversationsLexikon, Bd. 7,7. Aufl., Leipzig 1929, Sp. 299: "In der Bakteriologie und Biologie versteht man
unter Kultur künstliche Zuchten von Mikroorganismen oder an Geweben". Noch deutlicher ist die
Verlagerung auf das Gezüchtete im Brockhaus Konversations-Lexikon,
Bd. 10, 15. Aufl., Leipzig
1931, Sp. 692: "In der Bakteriologie" stehe "Kultur" ror "auf geeigneten Nährböden gezüchtete
Bakterien". Das tertium comparationis ror den ethnologischen Kulturbegriffliegt
also darin, dass
"Kulturen" unter günstigen Bedingungen wachsen und sich vergrößern, unter ungünstigen aber
stagnieren und zugrunde gehen.
74 So noch W. Scheidt, Kulturbiologie.
Vorlesungen ror Studierende aller Fakultllten, Jena
1930.
71
72
75 L. Frobenius,
Erlebte Erdteile. Bd. I: Ausfahrt von der Völkerkunde zum Kulturproblem,
Frankfurt a.M. 1925, S. 320. Frobenius zitiert hier aus seinen früheren Werken.
76 Ebd., S. 250.
77 O. Spengler,
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte [Bd. I, Wien 1918, Bd. 2, München 1922), München 1973, S. 140.
78 Nord und Süd. Monatsschrift
ror internationale Zusammenarbeit, 51 (1928), S. 73.
79 "Kultur ist der höchste Ausdruck
der schöpferischen Kräfte eines Volkes", J. Goebbels, laut
Börsenblatt filr den deutschen Buchhandel, Nr. 7 (1934), S. 21).
85
Nach dem Zusammenbruch solch substantialisierender Mystifikationen überzeugt die Schlussfolgerung von Johan Huizinga, ,,Kultur" im Sinne der dritten
Grundbedeutung sei ein legitimer Begriff nur als abstraktes sprachökonomisches
Sammeletikett fiir einen immer neu zu rekonstruierenden komplexen historischen
Phi1nomenzusammenhang, nicht fiir eine Entität:
,,Der Kulturbegriff bleibt, wie so viele andere historische Begriffe, nur deshalb
gerechtfertigt und brauchbar, weil wir außerstande sind, einen besseren an seine
Stelle zu setzen. Er verdankt seine Daseinsberechtigung allein einer gewissen oberflächlichen Verständlichkeit." "Obwohl das Phänomen einer Kultur, die wir uns
vorstellen, fiir uns eine Wirklichkeit ist, die irgendwann einmal bestanden hat oder
sogar noch besteht, kann man es nicht als Entität betrachten. Kultur ist und bleibt
eine Abstraktion, die von uns gegebene Bezeichnung fiir einen historischen Zusammenhang. [...] Bei jeder Kultur fühlen wir das Bedürfnis, sie zu objektivieren
und als etwas Wesenhaftes, als ein historisches Ganzes zu sehen; aber dieser
Wunsch bleibt [...] stets unbefriedigt." "Wir müssen uns immer wieder vor Augen
führen, dass der Ausdruck ,Kultur' nur ein Etikett ist, mit dem unser jetziger
Verstand die Überlieferung der Vergangenheit versieht: ein Begriff, der uns entgleitet, sobald wir glauben, ihn unmittelbar zu erfassen."81
Man kann deshalb den historischen oder ethnologischen Kulturbegriff, der bis
heute in der "Kulturwissenschaft" und in der "multikulturellen Gesellschaft" weiterlebt, als einen denkbar weit gefassten "co11ective name for a11behavior patterns
socially acquired and socially transmitted by means of symbols" verstehen.82 Gegenüber dieser Entgrenzung stellt die abschließende, vierte Grundbedeutung, die
fiir die deutsche Geistesgeschichte am typischsten werden sollte, erneut eine Eingrenzung des Begriffs dar. Sie lebt von dem schlechten Gewissen, das man angesichts der klassischen "cultura" bei der historischen Nivellierung empfinden mag,
derzufolge nun alles und jedes "Kultur" heißt, was nicht bloße Natur ist.
80 Nach Deutschlands
Erneuerung. Monatsschrift ror das deutsche Volk 13 (1929),
wurde aus der Einsicht in den "sittlichen und künstlerischen Tiefstand unserer geistigen
in München Ende der zwanziger Jahre der "Kampfbund rur deutsche Kultur" gegründet,
Verseuchung deutscher Kunst und Literatur entgegenzutreten und den im Schlamm der
stickten und unterdrückten deutschen Geist wieder zu befreien"!
S. 134,
Kultur"
um "der
Zeit er-
J. Huizinga: Wenn die Waffen schweigen. Basel 1945, S. 62, 33, 38f.
Ch. A. Ellwood, Stichwort: Culture, in: Dictionary of Sociology, hrsg. von Henry Pratt
Fairchild, New Y ork 1944, S. 80.
81
82
86
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
4. Kultur, die man schaffen, fOrdern und als (nationalen) Besitz verehren kann: die
höhere Welt der Werte und Werke in Kunst, Philosophie und Wissenschaft
tätsdenken hinzugekommen wäre. Kultur wird nämlich jetzt als ein Bereich von
Werken, Leistungen und Werten, mithin als etwas zu Schaffendes verstanden, und
dies dürfte im Vergleich zur alten "cultura" eine metaphorische Spiegelung des
historischen Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft sein. War dort das
Maß der "cultura animi" die sorgsame Pflege von natürlichen Lebensquellen, aus
deren unverfügbaren Tiefen mittelbar die Früchte (die innere Kultiviertheit des Individuum) langsam reifen mussten, so ist es hier gleichsam die direkte Ausstoßmenge an hochwertigen Fruchterzeugnissen selbst, nämlich an entäußerten,
kollektiv aneignungsfähigen Werken. Zwar waren alle Völker stolz auf das Vermächtnis "ihrer" Künstler und Weisen. Aber erst Deutsche sprechen nun abkürzend von ,,Kultur", wenn sie ihren vorzeigbaren ,,Kulturschatz", ihren "Kulturbesitz" oder ihr "Kulturerbe" meinen. Und trotz ihres Affekts gegen die ,seelenlos'
mechanische Warenproduktion der Kapitalwirtschaft übertragen sie ausgerechnet
die ökonomische Terminologie von "Objekten", "Gütern" und "Werten" auf ihr
Allerheiligstes, als gehe es um eine Wertschöpfung in Spitzenprodukten, die man
auf der nächsten Weltausstellung zur Schau stellen kann:
"Wir halten [...] an dem mit dem Sprachgebrauch durchaus übereinstimmenden
Begriff der Kultur fest, d.h. wir verstehen darunter die Gesamtheit der realen Objekte, an denen allgemein anerkannte Werte oder durch sie konstituierte Sinngebilde haften, und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden". Gepflegt werden also jetzt nicht mehr die Anlagen des inneren Menschen (Verstand, Herz oder
Sprache), sondern die abgespaltenen "Güter" selbst, und hierbei "darf es sich" natürlich "nicht um Gegenstände eines bloßen Begehrens" handeln, sondern ausschließlich um solche, ,,zu deren Wertung und Pflege wir uns [...] mehr oder weniger ,verpflichtet' fiihlen"; andernfalls ginge es nicht um "Kultur im höchsten Sinne".86
Das systematische Recht, diesen engeren Begriff nicht als spezielle Sonderbedeutung abzutun, sondern als eine irreduzible Grundbedeutung zu analysieren, ergibt
sich daraus, dass sich diese ,,Kultur" weder zurückfUhren lässt auf die Kultivierung, die man betreibt (Kultur.), noch auf die Kultiviertheit, die man sich erworben
hat (Kultur2), noch auf die nur aus räumlicher und zeitlicher Distanz heraus objektivierbare Kultur, in der man lebt (Kultur3)' Vielmehr wird sie vorgestellt als eine
auratische Teilsphäre innerhalb dieser letzten, und zwar oberhalb des bloß Zivilisatorischen, Politischen, Wirtschaftlichen und Technischen. Trotz ihres Teilsphärencharakters wird sie ohne Genitivobjekt, oft sogar pathetisch mit dem bestimmten Artikel "die Kultur" genannt. Sofern man gegenüber dieser "ganz anderen", ,,kulturellen Welt"83, zu der Kunst, Philosophie, Wissenschaft und manchmal
auch Religion gezählt werden84, in einem wertschätzenden, begeisterten, bisweilen
gar kryptoreligiös anbetenden Verhältnis steht, lebt schon im 19. Jahrhundert nicht
mehr der ganze Mensch in ihr, sondern der "Kulturmensch" aus ihr. Und während
dieser zunächst noch geneigt ist,./Ur sein ,,Reich der Kultur" zu leben, wenn nicht
gar zu sterben, wird er nach 1945 allenfalls noch im "Kulturbereich" tätig, ob als
,,Kulturmanager" in der Bundesrepublik oder als "Kulturoffizier" in der DDR.
Die Gründe, weshalb sich in der deutschen Kultur3 des 19. und 20. Jahrhunderts
diese Kultur4 sprachlich fixiert, sind komplex und können nicht getrennt werden
von jener historischen Dichotomisierung zwischen "Zivilisation" und ,,Kultur", die
zunächst als Unterscheidung zwischen äußeren Verhältnissen und innerer Bildung
sachlich wohlbegründet ist, dann aber ideologisch aufgeladen wird durch ihre politische und nationalistische Stilisierung zu einem Gegensatz.8S Auf dem Nährboden
dieser Zweiteilung hätte aber die Vorstellung von einer Kultursphäre namens
Kunst, Philosophie und Wissenschaft nicht so gut gedeihen können, wenn nicht als
Ferment eine verstärkte öffentliche Orientierung am wirtschaftlichen Produktivi-
A. Weber, Ideen zur Staats- und Kultursoziologie, Karlsruhe 1927, S. 109.
Exemplarisch rur die in der Geschichte schwankende Subsumtion der einzelnen Gebiete oder Bereiche unter "die Kultur" ist bereits J. Burckhardt. Während die erste Auflage seiner Die
Kultur der Renaissance in Italien, Basel 1860, außer den geselligen Lebensformen Wissenschaft,
Sitte und Religion zum Thema hat, die Kunst jedoch aus darstellungsökonomischen
Gründen
ausklammert, platzieren die Weltgeschichtlichen
Betrachtungen
[1886], Gesamtausgabe
(s.o.
Anm. 57), Bd. 7, S. 20-52, mit ihrer Lehre von den "drei Potenzen" die "Kultur" als die "Welt des
Beweglichen" zwischen den "stabilen" Mächten des Staates und der Religion.
85 Einen materialreichen
Durchlauf durch die Geschichte dieses Antonyms, die hier nicht näher dargelegt werden kann, gibt Pflaum, Die Kultur-Zivilisations-Antithese
im Deutschen (s.o.
Anm. 4). Eine vorzügliche politische Interpretation der Gegensatzbildung gibt N. Elias, Der Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Basel 1939, S. 2ft:
87
Mag auch das Beharren der Deutschen auf ihrem Allerwertesten, nämlich auf
dem Komplex "ewiger"87 "geistiger Werte"88, ein bloß sprachlicher Missgriff sein.
Es bleibt doch konstitutiv fl1r ihren vergegenständlichenden Kulturbegriff, dass er
83
84
86 H. Rickert, Kulturwissenschaft
und Naturwissenschaft
[1899], Text der 6. u. 7. durchges.
und. ergo Aufl. von 1926, Stuttgart 1986, S. 46 U. 39.
87 "Große Kultur" gewinnt "erst in der Schaffung von Werten besonderer
Schönheit und originalen Empfindens [...] ihre Seele". Im Unterschied zur bloßen "Zivilisation" erteilt "nur die
Kultur" die "Ietzte Weihe" der "ewigen Werte", K. Lamprecht, Americana. Reiseeindrücke, Betrachtungen, geschichtliche Gesamtansicht, Freiburg i. Br. 1906, S. 143.
88 "Kultur, als Gegenbegriffzur
Natur, ist alles das, was der Mensch über die Bedürfnisse der
Stunde und des nackten Lebens hinaus an geistigen Werten gefunden und geschaffen hat, obenan
die Religionen, Künste und Philosophien", Die Hochschule. Blätter rur akademische und politische Bildung 1 (1917), S. 4.
Hubertus Busche
Was ist Kultur?
ein vom Individuum abgespaltenes, erhabenes Reich der "größten Schöpfungen"89,
"Werke" oder "Erzeugnisse"90 meint, nämlich eine Versammlung von produzierten
Gütern mit besonderer Aura, die den einzelnen verpflichtend ansprechen wie die
imaginären Stimmen von Büsten in einem Walhalla-Tempel der Bildung. Dagegen
hatte die klassische cultura animi, gerade weil sie die vielbeschworene ,Innerlichkeit' betraf, als solche nichts zu tun mit der Produktion von Werken. Wie T. S.
Eliot deutlich herausgestellt hat, können schöpferische Genies durchaus unkultivierte Menschen sein.
,,An artist of any kind, even a very great artist, is not for this reason alone a man
of culture: artists are not only often insensitive to other arts than those which they
practise, but sometimes have very bad manners or meagre intellectual gifts. The
person who contributes to culture" - hiermit meint Eliot nicht "culture of an individual", sondern "culture of a group or class" bzw. "culture ofthe whole society""however important his contribution may be, is not always a ,cultured person' ."91
Bis zum 18. Jahrhundert war die Vorstellung unmöglich, dass ,,Kultur" gerade
dann in einem objekthaften Status vorliege, wenn es einem Volk "gelungen" ist,
"auf den idealen Gebieten der Menschheit etwas Großes zu schaffen".92 Im 19.
Jahrhundert aber schockt nicht einmal mehr die barbarische Rede von einer "durch
Kultur" im Sinne von Diltheys "objektiv[iert]em Geist" zählen kann (s. zweiter
Teil), ändert nichts an der subjektiv normativen Werthaltung, die man gegenüber
dieser Sphäre einnimmt bzw. einzunehmen hat. Hier liegt die Möglichkeit nicht
nur der Fetischisierung, sondern auch der politischen Instrumentalisierung dieses
Kulturbegriffs, oft unterstützt durch die Opposita "niedere" und "höhere"9s bzw.
"unechte" und "wahre Kultur".
Ob man nämlich alle Völker als Beiträger zur "Weltkultur" oder "Menschheitskultur" begrüßen oder möglichst viele aus der ,,Kulturgemeinschaft" ausschließen
kann96, hängt davon ab, wie universal inklusiv oder national exklusiv man das
Reich der Kultur zu definieren geneigt ist. Soll es Volkseigentum sein, so muss der
,,Kulturbesitz [...] dieses Volkes"97 zu einem "geschlossenen Raum", zum organischen "Gesamtkunstwerk" totalisiert werden98, das so zum ,,Bollwerk unserer
Kultur gegen die Störer unseres nationalen Aufbaus" werden kann.99 Und dann
lässt schon der Maßstab, ob andere Völker überhaupt vergleichbare Leistungen
und Werke vorweisen können, erkennen, auf welcher Seite die "kulturelle Überlegenheit" besteht 100, ob man es überhaupt mit "Kulturvölkern", "Halbkulturvölkern"
oder bloßen "Naturvölkern"lol, ja ob mit einer prinzipiell "zur Kultur befähigten
Rasse" zu tun hat. 102Nicht nur das Wilhelminische Kaiserreich hat einen "Kulturkrieg" geführt, d.h. einen Kampf der deutschen "Kultur" gegen die "Zivilisation"
der Westmächte. Auch das Dritte Reich hat sich von Anfang an als Erneuerung der
Kultur kostümiert, so dass es immerhin konsequent war, auch das "fUrnehme Sterben" im "Krieg von Mann und Führer" zum "Ausdruck höchster Kultur" zu erklä-
88
tausend Jahre aufgestapelten [!] Kultur", mit deren geistiger Durchdringung einzelne "fähig" werden sollen, nicht nur ,,Kultur zu haben" (Kultur2), sondern auch
wieder ,,Kultur zu erzeugen" (Kultur4).93Von Nietzsehe über Chamberlain bis zur
Gegenwart wird die energeia der Kultur immer stärker mit ihren erga verwechselt
und zu einer höheren Sphäre verpflichtend ansprechender Produkte "vergegenständlicht"94. Dass man diesen Kosmos mit Simmel zutreffend zur "objektiven
89 Wenn F. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (1859-72), im Hinblick auf
Rom und Athen von den "größten Schöpfungen der Kultur" spricht, meint er primär nicht Schöpfungen, die einem hohen Kultivierungsgrad entspringen, sondern Schöpfungen, die den Kulturbestand ausmachen. Dazu passt, dass er in seinen Wandetjahren die Abtei der Kartause Trisulti ein
"wahres Kulturwunder" nennt, ebenfalls im Sinne eines Wunders an Kultur, nicht aus Kultur (zit.
nach Baur, Die Geschichte des Wortes ,Kultur', S. 186 und 719).
90 Dieselbe Grundbedeutung wie bei Gregorovius haben die "Erzeugnisse" und "Werke der
Kultur" bei A. von Senger, Vom Tierhaften zur Architektur. Schweizerische Monatshefte 10
(1930/31), S. 76.
91 T. S. Eliot, Notes towards the Definition of Culture [1948], London 1972, S. 23 u. 21.
, 92 H. v. Treitschke, Politik, Bd. 2, Leipzig 1898, S. 301. Treitschke fragt an dieser Stelle, ob
es den Amerikanern in ihrer neuen Welt möglich sein wird, "auf diesem materiell so günstigen
Boden etwas zu schaffen, was im Sinne der alten Welt als Cultur bezeichnet werden kann". ,,Bisher" sei es ihnen "noch nicht gelungen"!
93 So das Volksbildungsideal, wie es den Sozialisten in den Mund gelegt wird von W. Sombart, Grundlagen und Kritik des Sozialismus, Berlin 1919, Zweiter Teil, S. 278.
94 L. Ziegler, Das Wesen der Kultur. Leipzig 1903, S. 126 u. 137, definiert Kultur geradezu
als "Niederschlag eines vergegenständlichten, real gewordenen Willens" durch die "dreifache
Besitznahme von Gott" [!] in Kunst, Wissenschaft und Religion.
89
95 So identifiziert etwa der vormalige Reichskanzler B. H. M. Fürst v. Bülow, Deutsche Politik. Berlin 1916, S. 258, den "Kampf der höheren mit der niederen Kultur" mit dem Kampf der
Deutschen, die z.B. in Polen "Lehrmeister höherer Kultur" seien!
96 Die literarischen Erstbelege dieser Komposita gibt Baur, Die Geschichte des Wortes ,Kultur' , S. 720ff.
97 H. Langenbucher von der Reichsschrifttumskammer verklärt die Volkskultur zur Hierogamie von Geist und Seele: "Kultur nennen wir [...] den aus der Arbeit eines Volkes [...] in Zusammenwirken aller seiner ,schöpferischen Kräfte' gewonnenen Reichtum an tagüberdauernden, zukunftbauenden Gütern des unablässig schaffenden Geistes und der unablässig Geschaffenes
empfangenden und aufnehmenden und damit erst zu wirklichem Kulturbesitz umwandelnden
Seele dieses Volkes", Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 1934, Nr. 7, S. 21.
98 Dieser ästhetische Totalitarismus wird vorsichtig kritisiert von R. Benz, Lösung und Bindung. Probleme zwischen den Kulturen. Hamburg 1939, S. 16. Er weist daraufhin, "dass die großen ästhetischen und philosophischen Befreiungstaten" der deutschen Klassik und Romantik "ebenso viele Taten gegen die Kultur bedeuten, wenn wir unter Kultur ein Ganzes verstehen, einen
geschlossenen Raum, der alles geistige Leben umfaßt, ein Gesamtkunstwerk, in welchem alle
Einzelwirkungen sich zu einer großen organischen Einheit verbinden".
99 Völkischer Beobachter, 27. März 1936, S. 4.
looTh. Oberländer, Die soziale Erneuerung des Auslanddeutschtums, Volk und Reich, September 1934, S. 654.
101 W. Wundt, Völkerpsychologie, Bd. I, Leipzig 1900, S. 243.
102 A. Hitler: Mein Kampf, München 1933, S. 431.
90
Hubertus Busche
und "das deutsche Volk" noch 1944 an seine heilige Pflicht zu erinnern, den
"ungeheuren Kampf siegreich [zu] beenden, damit die Kultur erhalten bleibe". 104
Seit 1945 ist zwar der nationalistische Pomp verflogen, doch geblieben ist eine
gleichsam trivialisierte Variante der vierten Grundbedeutung. Das Fortleben des
vergegenständlichenden Kulturbegriffs zeigt sich in den "Kulturschaffenden" der
DDR ebenso wie in der politischen ,,K.ulturförderung" qua ,,K.ulturfinanzierung"
der Bundesrepublik, in der Rede von Bayreuth als einem "Stück Kultur" ebenso
wie in den "Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Kultur" oder der ,,K.ulturszene".
Eine Kultur, die sich durch Werke und Leistungen vertreten und organisieren lässt,
lässt sich natürlich auch im "Kulturbetrieb" kommerzialisieren und konsumieren.
Und so ist die sogenannte ,,K.ulturwelt" voll von sogenannten ,,K.ulturliebhabern",
die mit dem sogenannten "Kulturfiihrer" von einer sogenannten "kulturellen Veranstaltung" zur nächsten sogenannten "Kulturhauptstadt" fahren und solche
conspicious consumption einer "Erlebnis-" und ,,Medienkultur" schon für einen
Akt geistiger Kultivierung halten. Dabei haben sie bloß den epochalen Umbruch
verschlafen, der zwischen dem alten ,,Baden ist Kultur"lo5 und dem neuen ,,BadenBaden ist Kultur" liegt!
Ein Bühnenwechsel von dieser Komödie der Kultur zu Georg Simmels "Tragödie der Kultur" wird im zweiten Teil (Dialektik, Heft 2/2000) zeigen, dass Simmel
von der modemen Veräußerlichung und Verflachung des Kulturbegriffs weit mehr
übernommen hat, als ihm lieb sein durfte - und das, obwohl er den Begriff der
Kultur so reflektiert wie kaum ein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts verwendet.
renlO3
103 So, unter forcierter Berufung auf Goethe, der Militärwissenschaftler K. Linnebach, Zum
Problem Kultur und Krieg, Berlin 1939, S. 532.
104 Kölnische Zeitung, 26. Juni 1944, S. 2.
lOS So, im Sinne der alten cultura corporis, die Frauenzeitschrift Regenbogen,
Heft 3, März
1957, S. 35.