Forderungen zur Vermeidung eines Flüchtlingsnotstandes

Forderungen
zur Vermeidung eines Flüchtlingsnotstandes:
Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen
1. Flüchtlingsaufnahme als gesamtstaatliche Aufgabe
Die Aufnahme von Flüchtlingen stellt im Kern eine Aufgabe von Bund und Ländern dar.
Bund und Land werden daher aufgefordert, stärker als bisher ihre Verantwortung für diese
Aufgabe anzuerkennen. Wie immer sind in der aktuellen Krise die Kommunen gefordert und
in der Lage, die konkreten Fragen zu lösen.
In diesem Zusammenhang begrüßt das Präsidium ausdrücklich, dass die niedersächsische
Landesregierung die Koordination ihrer Aufgaben stärker konzentriert hat. Wir fordern aber
einen Sonderbeauftragten mit exekutiven Kompetenzen, der ressortübergreifend wirken
kann. Weiterhin fordern wir, dass den Ankündigungen Taten folgen und die erforderlichen
Bundes- und Landesgesetze im September, spätestens im Oktober verabschiedet werden.
2. Ausbau der Kapazitäten in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes und des
Bundes
Insbesondere bei der Erstaufnahme von Flüchtlingen bedarf es der massiven Ausweitung
der Aufnahmekapazitäten. Flüchtlinge aus sicheren Drittstaaten sowie aus Balkanstaaten,
deren Asylanträge weit überwiegend abgelehnt werden, müssen zukünftig solange in Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben können, bis über ihren Asylantrag entschieden wurde und
ggf. unverzüglich in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. Dies würde es ermöglichen, nur noch die Flüchtlinge auf die Kommunen zu verteilen, die eine realistische Chance
auf ein dauerhaftes Bleiberecht haben.
Um dies zu erreichen, wird das Land aufgefordert, für ein Viertel der jährlich zu erwartenden
Flüchtlinge Erstaufnahmekapazitäten vorzuhalten (Verweildauer von drei Monaten).
In diesem Zusammenhang begrüßt das Präsidium die Bildung der „Besonderen Aufbauorganisation Flüchtlingsunterbringung“ und die Absicht des Landes aktuell mehrere tausend Notaufnahmeplätze einzurichten; es geht davon aus, dass das Land in der Folge die erforderlichen weiteren Notunterkünfte kurzfristig bereitstellt.
Auch der Bund ist gefordert, eigene Kapazitäten zu schaffen.
3. Keine Verteilung auf die Kommunen vor Stellung eines Asylantrages
Das Land wird aufgefordert, Flüchtlinge erst dann auf die Kommunen zu verteilen, wenn
diese ihren Asylantrag gestellt haben. Die derzeitige Praxis, bei der eine große Zahl von
-2Flüchtlingen ohne Stellung eines Asylantrages auf die Kommunen verteilt wird, führt zu
erheblichem Mehraufwand und organisatorischen Herausforderungen in den Kommunen.
4. Erleichterung bei der Schaffung von Flüchtlingsunterkünften
Das Präsidium begrüßt ausdrücklich die Initiativen, die Schaffung von Flüchtlingseinrichtungen rechtlich zu erleichtern. Erleichterungen sind insbesondere für das Vergaberecht, das
Bau-, Haushalts- und Kommunalverfassungsrecht erforderlich. Diese Erleichterungen müssen sehr kurzfristig geschaffen werden.
Die Wertgrenzen für freihändige Vergaben und beschränkte Ausschreibungen sind gegenüber den heute geltenden Werten von 25 000 bzw. 50 000 Euro deutlich zu erhöhen. Erfahrungen mit dem Konjunkturpaket zeigen, dass dies ohne Beeinträchtigung der Qualität der
Vergabe möglich ist. Allerdings müssen die Werte noch deutlich stärker angehoben werden;
einen Anhaltspunkt können die im Land Thüringen bereits auf dem Erlasswege getroffenen
Regelungen bieten: Dort sind freihändige Vergaben und beschränkte Ausschreibungen für
Liefer- und Dienstleistungen bis 180 000 Euro, für Bauleistungen bis 3 Millionen Euro zulässig.
Beim Baurecht kann die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften erleichtert werden, wenn
vorübergehend materiell- und verfahrensrechtliche Standards reduziert werden. So muss auf
den Nachweis von Spielplatzflächen und von Einstellplätzen für Kraftfahrzeuge verzichtet
werden, die Ansprüche an Barrierefreiheit sollten abgesenkt werden. Es sollte darauf hingewirkt werden, dass der Bund Flüchtlingsunterkünfte aus dem Anwendungsbereich des Energiesparrechts herausnimmt. Gleiches gilt für die Erforderlichkeit von Umwelt-, Lärm- u. ä.
Gutachten.
Das Präsidium begrüßt die Erklärung des Bundeswirtschaftsministeriums, wonach der unerwartete Anstieg der Flüchtlingszahlen als „unvorhergesehenes Ereignis“ im Sinne des
Vergaberechts anzusehen, das eine besondere Dringlichkeit begründen kann; Entsprechendes gilt für die Annahme einer „unbilligen Härte“, die von der Anwendung energiesparrechtlicher Vorschriften befreien kann. Es erwartet, dass die Landesregierung sich dieser Auffassung anschließt.
Für inakzeptabel hält es dagegen die aktuelle Mitteilung der Europäischen Kommission zu
den Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe im Zusammenhang mit der aktuellen
Flüchtlingsproblematik vom 9. September 2015. Die Europäische Kommission darf sich nicht
mit Hinweisen auf die aktuelle Rechtslage begnügen, sondern muss ebenfalls erhebliche
materielle Erleichterungen im EU-Vergaberecht bei der Unterbringung und Versorgung von
Flüchtlingen schaffen.
Außerdem muss die Kommunalaufsicht im Rahmen der Genehmigungspraxis gem. § 120
Abs. 2 NKomVG sicherstellen, dass die notwendigen kommunalen Investitionen nicht zulasten anderer Vorhaben gehen.
5. Vollständige Kostenerstattung
Das Land, alleiniger Ansprechpartner der Kommunen, muss diesen alle durch die Flüchtlingsunterbringung und -betreuung entstehenden Kosten erstatten. Sofern die entstehenden
Kosten weiterhin nicht spitz abgerechnet werden sollten, ist eine pauschale Kostenerstattung
in Höhe von mindestens 10.000 Euro pro Person und Jahr erforderlich.
6. Kosten der Gesundheitsversorgung
Eine besondere Belastung stellen die Kosten der Gesundheitsversorgung dar. Gerade
Flüchtlinge aus Kriegsgebieten leiden vielfach unter traumatischen Erlebnissen, die zu ihrer
Flucht geführt haben oder haben schwere körperliche Verletzungen erlitten. Von den Kosten
der Versorgung dieser Menschen sind die Kommunen in jedem Fall freizustellen. Bund und
Land sind hier aufgefordert, eine entsprechende Lösung zu finden.
7. Dauerhafte finanzielle Beteiligung des Bundes
Die bisher zugesagten Mittel des Bundes in Höhe von 3Mrd. Euro für das Jahr 2016 sind zu
begrüßen. Vor dem Hintergrund der weiter steigenden Flüchtlingszahlen reicht dieser Betrag
aber vermutlich nicht aus. Zudem ist der Bund aufgefordert, seine finanzielle Unterstützung
dauerhaft den Kommunen zukommen zu lassen. Um den steigenden Flüchtlingszahlen
gerecht zu werden, wird eine fallbezogene Kostenbeteiligung gefordert: Die Praxis von feststehenden Summen ist angesichts der Dynamik der Entwicklung absurd; die Kommunen
brauchen eindeutiges Bekenntnis von Bund und Land zur vollständigen Kostenübernahme;
die Salamitaktik einzelner Zugeständnisse führt nicht länger weiter. Die Mittel müssen – notfalls mit Hilfe einer Grundgesetz-Änderung – direkt vom Bund an die Kommunen geleitet
werden.
8. Mehraufwand bei den Ausländerbehörden
Neben den Kosten für die Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge entstehen den
Kommunen inzwischen auch erhebliche zusätzliche Aufwendungen im Bereich der Aufgaben
der Ausländerbehörden. Dies gilt insbesondere, weil die Ausländerbehörden durch die Verteilung der Flüchtlinge auf die Kommunen vor Stellung ihres Asylantrages erhebliche zusätzliche Aufgaben wahrnehmen müssen. Solange diese schleichende Verlagerung von Bundesaufgaben auf die Kommunen nicht beendet ist, sind die zusätzlich entstehenden Kosten
hierfür zu erstatten.
9. Beschleunigung der Asylverfahren
Ein wesentlicher Grund für die starke Belastung der Kommunen ist die Tatsache, dass die
Asylverfahren zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Die bisher angekündigten Personalaufstockungen im Bereich des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind nicht ausreichend, um zu einer merkbaren Beschleunigung zu kommen. Hier ist der Bund dringend
gefordert, weiteres Personal bereitzustellen.
10. Beschleunigung der Gerichtsverfahren
Auch die Verwaltungsgerichtsverfahren nehmen viel Zeit in Anspruch. Hier ist das Land aufgefordert, entsprechend zusätzliche Richter einzusetzen, damit diese Verfahren zügig abgewickelt werden können.
11. Rückführung erleichtern
Die Verfahren zur Rückführung von ausreisepflichtigen Personen müssen erleichtert werden.
Den Ausländerbehörden muss hier das notwendige Werkzeug an die Hand gegeben werden,
um ihre Aufgaben ohne große Verzögerungen erfüllen zu können.
-4Zu den erforderlichen Änderungen gehören unter anderem der Verzicht auf eine zweite
Belehrung zur Härtefalleingabe und die Reduzierung von Dokumentationspflichten. Beim
Vollzug von Abschiebungen müssen die Abhol- und Flugzeiten unter Berücksichtigung der
tatsächlichen Erfordernisse flexibler gestaltet werden. Auch ist das Land aufgefordert, verstärkt Flüge zu organisieren, damit nicht auf Flüge von Flughäfen in anderen Bundesländern
ausgewichen werden muss, was zu unnötig langen Reisezeiten führt. Des Weiteren müssen
die Verantwortlichkeiten am Tag einer Abschiebung klar geregelt werden. Unter anderem
muss klar gestellt werden, dass Reisefähigkeit in der Regel von Amtsärzten festgestellt wird
und nachgereichte andere Unterlagen nicht zu einem Abbruch einer Abschiebung führen
dürfen.
12. Weitere sichere Herkunftsstaaten
Das Kosovo, Albanien und Montenegro sind möglich kurzfristig zu sicheren Herkunftsstaaten
zu erklären. So können auch die Flüchtlinge aus diesen Ländern in ein beschleunigtes Asylverfahren einbezogen werden. Zusätzlich wird den Menschen in diesen Ländern deutlich
gemacht, dass sie so gut wie keine Chance auf einen dauernden Aufenthalt in Deutschland
haben.
13. Sonderbauprogramm Flüchtlingsunterkünfte
Aufgrund der weiter steigenden Flüchtlingszahlen sind die Kommunen gefordert, in erheblichem Umfang weitere Flüchtlingsunterkünfte zu schaffen. Bund und Land sind aufgefordert,
hierfür zusätzliche Mittel unbürokratisch und kurzfristig zur Verfügung zu stellen.
14. Mehr Mittel für den sozialen Wohnungsbau
Ein nicht unerheblicher Anteil der Flüchtlinge wird dauerhaft in Deutschland bleiben. Diesen
Menschen muss möglichst bald eine adäquate Wohnung zur Verfügung gestellt werden können. Die Flüchtlinge konkurrieren dabei insbesondere in wachsenden Städten mit einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen. Daher muss der Bund seine Mittel für den sozialen
Wohnungsbau erheblich auf mindestens 3 Mrd. Euro anheben. Nur so kann zusätzlich in
ausreichendem Maße preisgünstiger Wohnraum zur Verfügung gestellt werden.
15. Schulische Betreuung von Flüchtlingskindern sicherstellen
Die Betreuung einer zunehmenden Zahl von Flüchtlingskindern stellt die Schulen vor erhebliche Herausforderungen. Es fehlt vielerorts an den räumlichen, personellen und finanziellen
Gegebenheiten für den dringend erforderlichen Sprachunterricht sowie die Betreuung der
Kinder durch Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen. Das Land ist aufgefordert, hier
kurzfristig weitere Maßnahmen für eine Verbesserung der Situation an den Schulen zu
ergreifen.
16. Betreuung von Flüchtlingskindern in Kindertagesstätten
Auch in den Kindertagesstätten führt die steigende Zahl von Flüchtlingskindern zu weiteren
Herausforderungen. Hier ist das Land gefordert, neue pädagogische Konzepte zu erarbeiten
und die für die Umsetzung erforderlichen Mittel bereitzustellen, um die Integration der Flüchtlingskinder zu gewährleisten. Hemmende Regelungen müssen übergangsweise ausgesetzt
und die Gruppengrößen auf über 25 Kinder je Gruppe erhöht werden.
-517. Arbeitsmarktintegration
Die Bundesagentur für Arbeit ist gefordert, den Flüchtlingen möglichst schnelle eine Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Zu diesem Zweck müssen die Qualifikationen der
Flüchtlinge möglichst frühzeitig festgestellt werden. Ggf. müssen ergänzende Integrationsmaßnahmen durchgeführt werden; dazu gehört insbesondere die Sprachförderung.
18. Allgemeine Fragen
Im Übrigen sind einschlägige Regeln und Verfahren im Kommunal- und Verwaltungsverfahrensrecht darauf zu prüfen, ob sie in dieser Situation sinnvollerweise anwendbar sein sollten;
das gilt zum Beispiel für die Regeln über die Annahme von Spenden für Flüchtlinge im Rahmen des komplizierten Verfahrens von § 111 Abs. 7 NkomVG wie auch für die Frage, ob
nicht angesichts des Mangels an voll qualifizierten Kräften auch Aushilfskräfte für die Betreuung, Sprachunterricht u. ä. eingesetzt werden sollen.