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Sport - Sonntagszeitung
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Einstiger Löwenkönig sucht Job
Michel Zeiter ist seit einem halben Jahr arbeitslos. Der langjährige ZSC-Stürmer
und heutige Trainer muss plötzlich mit neuen Herausforderungen kämpfen und
der eigenen Ungeduld
Bassersdorf Der Mann, den sie «König der Löwen» nannten, sitzt in einem Gasthof im Zürcher Unterland. Abgesehen von ein paar Stammgästen ist wenig los an diesem Morgen, die meisten Tische sind leer, im Kreisel vor dem
Fenster herrscht kaum Verkehr. Ein schöner Herbsttag kündigt sich an, und Michel Zeiter wirkt mit 41 Jahren noch
immer so fit, als könne er wie einst beim ZSC ein Team dirigieren. Das würde er in seiner zweiten Karriere als Trainer auch gerne tun. Doch er kann nicht. Zeiter teilt das Schicksal von 3,3 Prozent der Schweizer Bevölkerung: Er ist
arbeitslos.
«Ich wusste, dass das einmal kommt», sagt Zeiter. «Jetzt, wo ich es erlebe, muss ich sagen: Es ist hart.»
Etwas über ein halbes Jahr dauert dieser Zustand nun an. Seit dem 9. April, als die Rapperswil-Jona Lakers mit einem 1:5 in Langnau die Ligaqualifikation verloren und abstiegen. Die letzten drei Niederlagen erlebte Zeiter als
Chefcoach, danach war sein Vertrag am Obersee nichtig.
Seither erfüllt ihn das Lebensgefühl, das jeder Stellensuchende zu gut kennt: diese Mischung aus Ohnmacht und Aktionismus, aus keimender Hoffnung und Enttäuschung, wenn es wieder nicht geklappt hat mit einer Bewerbung – aus Gründen, über die man oft nur spekulieren kann. Erstmals in 23 Jahren Eishockey erlebt Zeiter einen Herbst ohne Job.
Der Umgang mit der Situation will gelernt sein. Dossiers an Arbeitgeber verschicken, sein Leben ganz allein strukturieren, die Ungewissheit, wie es weitergeht: All das ist neu, all das kann belasten.
«Das Hauptproblem ist die Geduld», hat der Ostschweizer erfahren, «es gibt gute Tage und weniger gute, an denen man sich sagt: Verdammt, wann läuft endlich etwas?»
Managementseminare und Coaching-Workshops
Der Kontrast ist gross zur Karriere eines Spielers, die hierzulande wenig Parallelen kennt. 15 Jahre stürmte Zeiter für den ZSC, war eine seiner prägendsten Figuren. Nach dem Meistertitel 2000 –
dem ersten seit 39 Jahren – trat er im «Sportpanorama» des Schweizer Fernsehens nach vorangegangener Freinacht noch in den Schlittschuhen auf. Die Meisterchronik «Wachgeküsst» widmete ihm
ein eigenes Kapitel. Wann immer eine Zeiter-Story damals einen knalligen Titel brauchte, war «König der Löwen» in der engsten Wahl.
Weniger spektakulär klingt es, wenn Zeiter heute seinen Alltag beschreibt. «Ich stehe morgens früh auf und frühstücke mit meinen 14-jährigen Töchtern. Dann gehe ich entweder joggen oder ins Fitness, anschliessend setze ich mich vor den Bildschirm.»
Der Computer ist generell ein wichtiges Werkzeug im Trainerberuf geworden, für einen Coach ohne eigenes Team umso mehr. Zwei bis drei Spiele sieht Zeiter täglich, schneidet Szenen, überlegt
sich, wie er selbst arbeiten würde.
Das ist der eine Teil seiner Vorbereitung auf einen nächsten Job, von dem er nicht weiss, ob er ihn «morgen, im Dezember oder erst in der neuen Saison» erhält.
Der andere ist die persönliche Horizonterweiterung. «Natürlich muss man auch raus», hat er erkannt, «man kann nicht zu Hause sitzen und warten , bis einer kommt und sagt: Zeiti, da wäre noch
ein Job frei.»
Und so geht er auf Reisen. An Managementseminare nach Deutschland zum Beispiel, weil ihn das Thema Führung interessiert. Vor allem aber an Trainer-seminare und zu ausländischen Clubs, um
neue Methoden, Coachs und Trends kennen zu lernen. «Rosinenpicken» nennt Zeiter das Aufsaugen, Reflektieren und Umsetzen solcher Ideen.
In diesem Sinne sei der Abstieg mit den Lakers zwar brutal gewesen, habe ihm aber auch neue Chancen eröffnet. So verbrachte er im Sommer mehrere Wochen in Los Angeles und Vancouver, arbeitete mit NHL-Spielern auf dem Eis und besuchte Coaching-Seminare. Über 120 Trainer trafen sich bei diesen Workshops mit Referaten, darunter NHL-Vertreter wie Mike Johnston (Pittsburgh)
oder Willie Desjardins (Vancouver). «Das ist alles Theorie», weiss Zeiter, «aber du bekommst auch wichtige Inputs. Das Entscheidende für mich in dieser Zeit ist, dass ich mich weiterentwickle für
den nächsten Job.»
Diese Entwicklung ist nicht gratis. Flüge, Hotels, Workshops: All das wird aus eigener Tasche finanziert. «Man muss schon investieren», weiss Zeiter.
Das tut er nicht zu knapp. Gerade war er in Philadelphia, wo er bei den Flyers und Mark Streit gastierte, seinem Teamkollegen aus Zürcher Meisterzeiten. Danach zog es ihn nach Helsinki, wo mit
Hannu Virta ein weiterer ehemaliger ZSC-Mitspieler tätig ist – als Assistenzcoach bei Jokerit, dem finnischen KHL-Vertreter. Schon nächsten Donnerstag folgt der nächste Flug gen Norden.
Finnland als Vorbild für einheimisches Schaffen
Finnlands Eishockey hat es dem Wiler besonders angetan. Nicht zuletzt aus strukturellen Gründen. Erstens, weil in Finnland seit Jahren jeder Cheftrainer zwei Assistenten hat und nicht bloss einen
wie in der Schweiz – das erlaube bessere Arbeitsaufteilung. Und zweitens, weil das einheimische Schaffen gefördert wird.
«Dort gibt es 14 Clubs und 14 Cheftrainer, die Finnen sind», zählt er auf, «das Durchschnittsalter liegt bei 40 Jahren, und der neue Nationaltrainer ist 39.» Zeiter würde keine Sekunde zögern, in der
SM-Liiga einen Job anzunehmen. Doch er musste erfahren, «dass sie ganz klar sagen: Wir setzen auf die eigenen Landsleute». In Schweden und Nordamerika ist er auf die gleiche Mentalität gestossen.
Man unterstellt Zeiter nichts, wenn man sagt: Er wünschte, in der Schweiz wäre es ebenso. Stattdessen werden in der NLA neun von zwölf Clubs von Ausländern trainiert; bei den Trainerwechseln
im Tessin letzten Monat wurden ein 53-jähriger Kanadaschweizer (Hans Kossmann) und ein 54-jähriger Kanadier (Doug Shedden) geholt, der 40-jähriger Schweizer (Patrick Fischer) dagegen musste gehen. Die «Swissness», die dem Verband bei den Nationalteams vorschwebt, wird auf Clubebene nicht ansatzweise gelebt.
Das Aufstehen und Weiterkämpfen fehlt enorm
Vielleicht ist darum der Verband die nächste Chance für einen, der 2010 bei Visp seinen ersten Trainerjob machte, danach Chefcoach bei den Oberwallisern war und seinen Wunsch, beruflich vorwärtszukommen, unschweizerisch offen zur Schau trägt. Und vielleicht findet sich sonst ein Club in der NLA, der in Michel Zeiter weniger den einstigen König der Löwen, sondern einen ehrgeizigen jungen Trainer erkennt.
Vielleicht – immer wieder vielleicht. «Diese Unsicherheit ist Teil meines Jobs», weiss Zeiter. Doch lieber würde er wieder den anderen Teil spüren: «Der Druck ist mein Ding. Diese Emotionen, dieser Rhythmus Dienstag/Freitag/Samstag, dieses Aufstehen und Weiterkämpfen: Das fehlt enorm.»
Philipp Muschg
http://www.sonntagszeitung.ch/read/sz_15_11_2015/sport/Einstiger-Loewenkoenig-sucht-Job-49034
17.11.2015