Leben gegen den Strich

Porträt
María Sonia Cristoff [Argentinien]
Leben gegen den Strich
Die Argentinierin María Sonia Cristoff etabliert sich immer mehr als Romanautorin. In ihrem jüngsten Werk Lasst mich da
raus (Berenberg 2015, Übers. Peter Kultzen) rekonstruiert sie u. a. den Mythos zweier Pferde, deren Weg in die USA
legendär wurde. Eva-Christina Meier hat die Schriftstellerin getroffen.
„Orte interessieren mich besonders beim Schreiben – nicht als
müssen, richtet sich die weltgewandte junge Frau in der neuen
Landschaft, sondern als Fragestellung. Es ist das Erste, was mir
ländlichen Umgebung ein. „Zu ihren Lieblingsschauspielen ge-
in den Sinn kommt“, beginnt María Sonia Cristoff unser Ge-
hört es inzwischen, einem aufziehenden Gewitter zuzusehen,
spräch, während wir in dem verlassenen Konferenzraum eines
ein Genuss, den sie bis dahin so nicht kannte. Ein lustvolles Ge-
Berliner Hotels improvisiert den Tee im Wasserglas zubereiten.
fühl der Vorfreude erfasst sie – als würde vor ihr der Vorspann
2010 erschienen ihre Chroniken Patagonische Gespenster über
eines Films ablaufen –, doch es wird jäh unterbrochen von zwei
die Bewohner jenes abgelegenen Landstrichs in Argentiniens
Besuchern, die in diesem Moment den Saal betreten.“
Süden, der während Militärdiktatur (1976-1983) vielen als Ort
Allerdings wird ihr Genügsamkeitsprojekt schon bald empfind-
einer inneren Emigration diente. Seit 30 Jahren lebt die 1965
lich gestört. Sie wird befördert und soll dem extrovertierten und
selber im patagonischen Trelew geborene Schriftstellerin in Bue-
geschwätzigen Tierpräparator assistieren. Dieser wurde ge-
nos Aires. In der Hauptstadt unterrichtet sie Kreatives Schreiben,
rufen, um zwei Exponate der Ausstellung wieder „wie neu“
übersetzt und veröffentlicht regelmäßig in der Tageszeitung Per-
aussehen zu lassen. Die beiden ausgestopften Pferde – Gato
fil „Apuntes en viaje“, eine Kolumne mit kurzen Reisenotizen.
(Katze) und Mancha (Fleck) – sind eine besondere Attraktion in
Lasst mich da raus ist, nach Unter Einfluss Cristoffs zweiter Ro-
dem schon 1923 gegründeten Kolonial- und Transportmuseum.
man, den sie als eine Art nonkonformistische Hommage an den
Tatsächlich wurden die zwei Rösser zu einer argentinischen Le-
französischen Romancier Joris-Karl Huysman und dessen Kult-
gende, nachdem Aimé Tschiffely, ein Schweizer Lehrer, Schrift-
buch Gegen den Strich von 1884 beschreibt.
steller und Abenteurer, 1925 mit diesen Exemplaren der als be-
Ihren Text verortet die Argentinierin in Luján, einer Stadt in der
sonders zäh und ausdauernd geltenden argentinischen Criollo
Pampa, 65 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Dort kehrt ihre
Rasse von Buenos Aires nach Washington aufbrach. Drei Jahre
Protagonistin Mara der Großstadt und ihrem früheren Leben als
später kam er am Ziel an und setzte sodann mit seinem Ritt über
Konferenzdolmetscherin den Rücken. In dem etwas angestaub-
die Fifth Avenue den Tieren ein Denkmal.
ten Provinzmuseum tritt sie die Stelle einer Ausstellungsaufsicht
Den Auswanderer Aimé Tschiffely (1895 –1954) gab es wirklich
an.
– 1950 legte er seine Autobiografie Bohemia Junction vor. Das
„Anders als Patagonien interessiert mich die Pampa selbst nicht
Kolonialmuseum von Luján, das als „Modell für die Zukunft, in
besonders“, sagt Cristoff und ergänzt: „Die Protagonistin mei-
der Indios, Gauchos, einheimische Pferderassen und fleißige,
nes Romans flieht nicht vor der Welt, sondern vor bestimmten
wagemutige Gringos zusammenwirken“, konzipiert worden
gesellschaftlichen Praktiken. Deshalb wollte ich vor allem einen
war, dient der Autorin dazu, die patriotischen Gründungsmy-
Ort, an dem sie sich anders verhalten kann.“ Lasst mich da raus
then einer Nation zu hinterfragen. Cristoffs Buch ist ein anre-
handelt vom Widerstand gegen ein Leben, das sich allein den
gendes Spiel mit fiktiver Erzählung und faktischer Darstellung.
Erwägungen der Nützlichkeit unterwirft.
Kalkuliert lässt die Verfasserin zahlreicher „crónicas“ die ver-
In Luján will Mara mindestens ein Jahr den Dingen mit einer
schiedenen Genres in ihrem Roman zusammenfließen. So wird
Haltung von Gleichmut und Langsamkeit begegnen. In einem
die Erzählung über Maras Experiment immer wieder durch asso-
eigens angefertigten Handbuch der Rhetorik hat sie zehn For-
ziativ eingeschobene Anmerkungen „aus dem Notizheft“ unter-
men des Schweigens definiert. Ohne viele Worte verlieren zu
brochen.
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LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016
Argentinien
literarischer Übersetzungen, die durch das Programm SUR des
argentinischen Außenministerium ermöglicht wurde. Autoren
wie María Sonia Cristoff, Martín Caparrós oder Sergio Bizzio
kamen damals zu ihrem ersten Auftritt im deutschsprachigen
Raum. Ein durchschlagender Erfolg wurde die Messe trotz dieser Förderung nicht. Selbst Ausnahmekönner wie Ricardo Piglia,
Martín Kohan, Eduardo Belgrano Rawson oder César Aira
haben es schwer, auf dem deutschsprachigen Buchmarkt sichtFachada del Cabildo y Museo Histórico Enrique Udaondo
de Luján, provincia de Buenos Aires
bar zu bleiben. So wird Aira, dessen Übersetzung des herausragenden Romans Humboldts Schatten über den Reisemaler J.M.
Rugendas 2003 in Zürich erschien, seit Jahren von Verlag zu Ver-
„Das Heft ist vielleicht der autobiografischste Moment des
lag weitergereicht. Spätestens seit dem Ende der großen ideo-
Romans“, stellt die Schriftstellerin auf Nachfrage fest, auch
logischen Schlachten sind die Zeiten des Booms lateinameri-
wenn viele Leser dieses zusammengetragene Material aus einem
kanischer Literatur in Europa vorbei. Derzeit genießt nur die
recht eigenwilligen Archiv selbstverständlich ihrer Protagonistin
„crónica“ als spezifisch lateinamerikanisches Format der litera-
Mara zuschreiben würden. Was passiert also, wenn Fiktion auf
rischen Reportage erhöhte Aufmerksamkeit.
Nicht-Fiktion trifft? All diese recht kurios anmutenden Berichte
von Büchern, Menschen oder historischen Anekdoten – wie
Innerhalb Lateinamerikas indes gilt Buenos Aires immer noch als
über den Museumsgründer Enrique Udaondo und sein Bollwerk
Metropole der Literatur, der Buchhandlungen und der Leser. Als
gegen den einwandernden Kosmopolitismus, den tödlichen
in Argentinien 2002 die Wirtschaft kollabierte und die An-
Looping der Flugpionierin Carola Lorenzini oder Dr. Emilio Sola-
bindung des argentinischen Pesos an den Dollar aufgehoben
nets patriotisches Engagement als Pferdezüchter – erweitern
wurde, schienen auch Bücher plötzlich unbezahlbar. Trotz Schul-
den schmalen Roman mit zahlreichen historischen und zeitge-
denschnitt konnte sich die Ökonomie bis heute nicht vollständig
nössischen Referenzen beträchtlich.
von der Krise erholen. Auf die wirtschaftliche Situation des Lan-
„Meine Absicht beim Schreiben ist, die Literatur mit dem Leben
des und die Konsequenzen für die literarische Produktion ange-
in Verbindung zu bringen, andere Sprachen aus der Wissen-
sprochen, winkt María Sonia Cristoff ab. „Ich weiß nicht, ob es
schaft, dem Journalismus oder der Kunst miteinzubeziehen“,
so etwas wie eine Faszination der Argentinier für die Krise gibt,
erläutert Cristoff ihr Vorgehen. Nachrichten aus der argenti-
trotzdem sind in den letzten Jahren eine enorme Anzahl neuer,
nischen Wirklichkeit wie die des ersten erfolgreich geklonten
unabhängiger Verlage entstanden.“ Vor allem junge Leute läsen
Criollo Pferdes 'BS Ñandubay Bicentenario' geben zu denken.
und würden oft unkonventionell, vom Hinterzimmer aus lokale
So richtet sich Maras heimlich durchgeführte Zerstörung am
Autoren, aber auch Übersetzungen verlegen. Ohne eine starke
literarische Tradition wäre diese scheinbar aus der Zeit fallende
Entwicklung auch in Buenos Aires wohl nicht denkbar.
sich in zwei ausgestopften Pferden in einem Museum in der
Lasst mich da raus ist der ausgefeilte Roman einer Chronistin,
Pampa spiegelt.
welche die Auseinandersetzung über Mythenbildung und ar-
In ihrer Rezension für die argentinische Tageszeitung Clarin
gentinische Identität mit der universellen Frage nach der Auto-
erkennt die Literaturkritikerin Beatriz Sarlo besonders in Maras
nomie des Individuums verbindet. „Wie wollen wir leben?“, lau-
furioser Sabotageaktion Anklänge an den Nonkonformismus im
tet das Kernproblem. „Auch für lateinamerikanische Autoren
Werk des lange verkannten argentinischen Großstadtliteraten
gibt es keinen Grund, sich auf lokale Dramen zu beschränken“,
und -reporters Roberto Arlt. Doch dieser Vergleich wird von
beschließt María Sonia Cristoff unser Gespräch. Wie sonst hätte
María Sonia Cristoff sofort relativiert: „An Arlt denke ich eher,
Jorge Luís Borges Weltgeltung erlangen können. 
wenn ich meine Kolumne für die Tageszeitung Perfil schreibe.
Der Text erschien erstmalig am 16.09.2015 in der Neuen Zürcher Zeitung.
© Patricia Curcio
Ende nicht nur gegen die Arbeit des nervenden Tierpräparators,
sondern auch gegen ein überkommenes politisches System, das
Denn diese Mikroerzählungen von wechselnden Orten scheinen
von dem Leben zu handeln, das Mara im Roman hinter sich gelassen hat.“
2010 war Argentinien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse.
Das Land präsentierte sich mit einer umfangreichen Auswahl
LiteraturNachrichten Nr. 124 Frühjahr 2016
Eva-Christina Meier ist freie Kulturjournalistin. Sie lebt und arbeitet in
Berlin.
María Sonia Cristoff ist mit dem Roman Lasst mich da raus für den
LiBeraturpreis 2016 nominiert.
Der Titel ist im Programm des Anderen Literaturklub 2016.
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