Die lexikographische Definition

DIE LEXIKOGRAPHISCHE DEFINITION
Kurs: Lexikographie und Korpora (Gergely Pethő), 6. Sitzung
2002. 04. 05. 1200 Uhr, Universität Debrecen, Institut für Germanistik
I. Arten von Bedeutungsangaben
a) lemmatisch adressierte Bedeutungsangaben
'Ab-tra-gung (f.; -, -en) 1 Einebnung; eine ~ des Geländes 2 Abbruch, Niederreißung; die ~ eines Hauses 3 (Geol.) Abtransport
der durch Verwitterung entstandenen Gesteinstrümmer mittels
Wasser 4 Abzahlung; die ~ einer Schuld
Textbeispiel 44.1: wa1 aus BW
3 verschiedene Typen der Bedeutungsangabe:
Synonymangabe (1, 4)
Paraphrase/Periphrase (3)
komplexe Angabe (zwei Synonyme) (2)
Aspekt, der; -(e)s, -e 1. Art und Weise, in der man etw. ansieht,
erfaßt, beurteilt, Gesichtspunkt: etw. unter verschiedenen Aspekten betrachten; dadurch bekam die Sache einen neuen, politischen
A. — 2. Sprachw iss . Kategorie des Verbs, die die Handlung
hinsichtlich ihrer in sich geschlossenen Ganzheit betrachtet: der
perfektive, imperfektive A. in den slawischen Sprachen
Textbeispiel 44.2: wa2 aus HWDG
Art und Weise... : verdichtete BPA aus drei verschiedenen Paraphrasen:
• Art und Weise in der man etwas ansieht
• Art und Weise in der man etwas erfaßt
• Art und Weise in der man etwas beurteilt
artig /Adj./ 1. /von Kindern/ sich so benehmend, wie es die
Erwachsenen nach bestimmten normativen Leitbildern erwarten,
brav, folgsam: ein artiges Kind; sei a.!; wenn du nicht a. bist,
dann ... — 2. veraltend höflich: jmdn. a. begrüßen; mit einer artigen Verbeugung
Textbeispiel 44.3: wa3 aus HWDG
/von Kindern/ : Glossat (unregelmäßig auftretende ergänzende Angabe), hier:
kommentierende Angabe
1
b) nichtlemmatisch adressierte Bedeutungsangaben
'Brü-he (f.; -, -n) 1 durch Kochen von Nahrungsmitteln (bes. von Fleisch u.
Knochen) gewonnene Flüssigkeit; Fleisch ~, Knochen ~ ; eine heiße, klare,
kräftige, würzige ~ trinken; ~ mit Ei veredeln; ~ von Geflügel, Gemüse, Knochen, Rindfleisch kochen 1.0.1 die ~ kostet mehr als der Braten (fig.) das
Drum u. Dran ist kostspieliger als die Sache selbst 1.0.2→ a. körnen(1.1) 2
(umg.; abwertend) schmutzige, trübe Flüssigkeit; diese dünne ~ soll Kaffee
sein?; nachdem sie die Kinder gewaschen hatte, war das Badewasser eine
dunkle ~ 3 (fig.; umg.) unangenehme, nutzlose Sache 3.1 ~ machen Umstände, überflüssige Worte machen; keine große, nicht viel ~ machen; du machst
viel zu viel ~ mit ihm; er hat eine lange ~ um die Angelegenheit gemacht 3.2
in der ~ sitzen, stecken in der Klemme, in Verlegenheit, Bedrängnis sein 4
(umg.) Schweiß; bei der Arbeit lief ihm die ~ nur so den Buckel runter [<
mhd. brüeje; zu brühen]
Textbeispiel 44.4: wa4 aus BW
1.0.1: das Drum u. Dran ... : einfache BPA, ist adressiert an die Beispielangabe „die ~
kostet mehr als der Braten”
3.1: Umstände, überflüssige Worte machen : verdichtete BP2A, adressiert an die
Beispielangabe „~ machen”
3.2: in der Klemme, in Verlegenheit, Bedrängnis sein : verdichtete BP3A, adressiert an
die Beispielgruppenangabe „in der ~ sitzen, stecken”
Hausmannskost, die: einfaches, kräftiges Essen: trotz seiner Vorliebe für
Delikatessen läßt er nichts auf H. kommen; Ü H. (durchschnittliche
Qualität) ist nicht gefragt bei einem Länderspiel
durchschnittliche Qualität : einfache BPA, adressiert an einen Teil (ein Wort) einer
Beispielangabe
II. Begriff der lexikographischen Definition
Definition: stammt aus der Philosophie (Logik, Wissenschaftstheorie)
keine einheitliche, allgemein akzeptierte Verwendung
Eine Definition besteht aus zwei Hauptteilen:
1. Definiendum (das zu bestimmende)
2. Definiens (das Bestimmende)
Ein dritter Teil setzt diese beiden in Beziehung zueinander, der sogenannte Definitor.
Ein Beispiel:
Def. Eine gerade Zahl
Definiendum
ist
Definitor
eine Zahl, die durch 2 teilbar ist, sowie die 0.
Definiens
2
Lexikographische Definitionen (z.B. BPA) können dementsprechend keine Definitionen sein,
sondern nur der Definiens-Teil einer Definition.
Lemma: Definiendum
Ein Definitor fehlt in der Regel.
Definitionen können allgemein eine von zwei möglichen Funktionen erfüllen:
1. Festlegen der Verwendung eines Wortes (ein neuer, kürzerer Ausdruck wird für den
Definiens eingeführt) — Nominaldefinitionen
2. Beschreibung der Verwendung eines Wortes — Realdefinitionen
Lexikographische Definitionen können nur Realdefinitionen sein, da sie den Gebrauch der
Wörter nicht bestimmen, sondern lediglich beschreiben.
Die Bedeutung von Wörtern kann nur definiert werden, falls sie genau analysierbar ist.
Problem: Ist die Bedeutung von Wörtern genau analysierbar?
Behauptung der Merkmalsemantik: ja, sie ist genau analysierbar, durch sog.
semantische Merkmale (~ phonologische Merkmale, disktinktiv)
z.B. Wörter für Familienmitglieder:
Mutter [+ NÄCHSTHÖHERE GENERATION, + BLUTVERWANDT, + WEIBLICH, – MÄNNLICH],
Bruder [+ GLEICHE GENERATION, + BLUTVERWANDT, – WEIBLICH, + MÄNNLICH],
Kind [+ NÄCHSTTIEFERE GENERATION, + BLUTVERWANDT, – WEIBLICH, – MÄNNLICH]
usw.
Semantische Merkmale sind nicht einzelsprachlich.
Wortbedeutungen sind restfrei zerlegbar.
Bei dieser Zerlegung geht man von Zeichenbedeutungen zu Entitäten übergeht, die
keine Zeichen sind.
Insgesamt ist die Merkmalsemantik ein sehr umstrittener Ansatz.
Aufbau des Definiens in der klassischen Konzeption der Definition (Aristoteles):
1. der nächsthöhere Gattungsbegriff des Definiendums (genus proximum)
2. ein spezifisches Merkmal (differentia specifica), das das Definiendum von allen
anderen Unterbegriffen des genus proximum unterscheidet.
Z. B.
eine Zahl,
genus prox.
die durch 2 teilbar ist, sowie die 0
differentia specifica
Der Zweck solcher Definitionen war ursprünglich nicht die Erläuterung von
Wortbedeutungen, sondern die Klärung der Beziehung von Begriffen zueinander.
Eine geordnete Gesamthierarchie der Begriffe wurde angenommen: jeder Begriff hat einen
genau bestimmten Platz in der Hierarchie.
Problem: Den natürlichen Sprachen liegt keine geordnete Begriffshierarchie zugrunde!
Nur einige Teile des Worschatzes sind hierarchisch strukturiert.
Begriffe haben oft mehrere Oberbegriffe, nicht nur einen.
Folgerung: Das Schema der klassischen Definition ist auf Wörter von natürlichen
Sprachen nicht anwendbar.
3
Gibt es spezifische Kriterien, die lexikographische Definitionen erfüllen sollen?
Ein Kriterium wurde von der Merkmalsemantik vorgeschlagen:
Bedeutungsangaben sollen nur die sprachliche Bedeutung eines Wortes enthalten, und keine
sonstigen redundanten Informationen, die für die Bestimmung des Denotats eines Wortes
nicht unbedingt notwendig sind!
Diesem Kriterium liegt die Annahme zugrunde, dass sprachliches semantisches Wissen
(Wissen von Wortbedeutungen) von sog. enzyklopädischem Wissen (allgemeinem Wissen
über die Welt) getrennt werden kann.
Aber: Diese Annahme ist nicht bewiesen und viele lehnen sie ab.
„Redundante” Informationen sind in Wörterbüchern tatsächlich generell nicht schädlich, in
bestimmten Bereichen des Wortschatzes sogar wünschenswert, besonders bei Wörterbüchern
für Sprachlerner.
Welche Informationen in einem Wörterbuch vorkommen sollen darf nicht durch
sprachtheoretische Überlegungen entschieden werden, sondern nur durch Berücksichtigung
des spezifischen Zwecks eines Wörterbuchs.
III. Lexikographische Definitionen und Alltagsgespräche über die
Wortbedeutung
Man kann am adäquatesten entscheiden, was eine lexikographische Definition ist und wie sie
aufgebaut sein soll, wenn man bedenkt, wie Wörterbücher verwendet werden.
Die lexikographische Definition ist eine Antwort auf eine Art von potentieller Suchfrage des
Wörterbuchbenutzers, nämlich einer Frage, die sich nach einer Wortbedeutung stellt.
Die Verwendung eines Wörterbuches lässt sich mit Alltagsgesprächen über sprachliche
Bedeutungen vergleichen:
Beis p iel l
M: (1) „Schade, daß du zu meinem Geburtstag nicht da warst; ich hab nämlich einen tollen Kajak
bekommen
B: (2) „Was ist denn ein Kajak ?"
M: (3) „Ein kleines Paddelboot. Oben hat es ein enges Loch für nur einen Sitz; das Wasser kann
dann nicht so schnell rein."
Es handelt sich um die Verschriftlichung eines Ausschnittes aus einem Gespräch zwischen zwei
zwölfjährigen Freunden (vgl. Wiegand 1976, 121; 1979b, 215 ff.).
Schritt (2): B weiß nicht, was ein Kajak ist.
Wortlücke (dieses Wort ist unbekannt) vs. Sachkenntnislücke (der Gegenstand ist
unbekannt)
(2) ist allein der Form nach eine Frage nach einem Gegenstand, nicht nach einer
Wortbedeutung. Es ist durch Bs Frage trotzdem nicht entscheidbar, um was für eine Lücke
es sich handelt, aber das ist in Hinsicht auf die Antwort auch egal.
Die Antwort (3) gibt gleichzeitig über die Eigenschaften der Objekte namens Kajak und über
die Bedeutung des Wortes Kajak Aufschluss.
Sprachliches und außersprachliches Wissen tritt in Alltagsgesprächen über Wortbedeutungen
eng miteinander verbunden und unzertrennbar auf.
4
Die klassische Definition ist die Systematisierung von alltäglichen Verfahren zur Erläuterung
von Wortbedeutungen.
In solchen Gesprächen wird nie die gesamte Bedeutung eines Wortes erläutert, sondern nur
die Bedeutung relativ zu einem bestimmten Verwendungskontext (sog.
Benennungskontext).
In Wörterbüchern wird die Verwendung in einem usuellen Verwendungskontext
charakterisiert.
Be isp ie l 2
P1: (1) Wie war denn eure Unterkunft in Libyen?
P2: (2) Ein riesiger Kasten von einem Hotel.
P1: (3) Daß ihr in einem großen Hotel wart, weiß ich doch; das war ja auf eurer Postkarte zu
sehen. Ich wollte eigentlich etwas Genaueres wissen.
P2: (4) Das Hotel ist eine Kaserne; jedes Mal Paßkontrolle am Eingang, grau das ganze Ding,
riesiger Speisesaal mit Essenmarken, Wecken durch schreckliche Leute, Glocke auf den Gängen
usw.
Der Satz (4) ist für das Wort Kaserne keine usueller Kontext, es normalerweise nicht ’Hotel’
bedeuten kann. Solche Bedeutungen sollen nicht in der lexikographischen Definition erwähnt
werden.
Man kann das Wort Kaserne in diesem Kontext nur richtig verstehen, wenn man weiß, was es
in usuellen Benennungskontexten bedeutet.
Neben der richtigen Formulierung der Bedeutungsparaphrasenangaben sind gute Beispiele im
Wörterbuchartikel sehr wichtig, da sie ebenfalls Aufschluss über Bedeutung geben können.
Verwendete Literatur:
Wiegand, H. E. 1991. Die lexikographische Definition im allgemeinen einsprachigen
Wörterbuch. In Hausmann et al. (Hg., 1991). S. 530-573.
5