DR. BENJAMIN ROGER, MAÎTRE EN DROIT (PARIS II) ARBEITSGEMEINSCHAFT ZUM GRUNDKURS STRAFRECHT WINTERSEMESTER 2015/2016 Vorsatz und Tatbestandsirrtum Kernstück des subjektiven Tatbestands ist der im Gesetz zwar häufig genannte, aber nicht ausdrücklich definierte Vorsatz (vgl. aber § 15 StGB). Allgemein wird er umschrieben als „Wille zur Verwirklichung des Tatbestands bei Kenntnis aller objektiven Umstände“ oder kurz als „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“ (Planverwirklichung). Der Vorsatz gehört als Teil des subjektiven Tatbestands zum Unrecht. Für diese heute fast unumstrittene Auffassung hat sich die Bezeichnung „personale Unrechtslehre“ durchgesetzt. Dieses Modell versteht unter einem strafrechtlich relevanten Geschehen nicht (mehr) einen bloßen Verursachungsprozess, sondern das Verhalten einer Person. Dabei wird innerhalb dieses personalen Unrechts zwischen dem Handlungs- und dem Erfolgsunwert unterschieden. Die subjektiven Unrechtselemente – Vorsatz und besondere subjektive Tatbestandsmerkmale – sind der wesentliche Teil des Handlungsunwerts. Die Verletzung bzw. Gefährdung des Schutzobjekts des jeweiligen Tatbestands sind der wesentliche Teil des Erfolgsunwerts. Die Vorsatzformen Wie aus der Grunddefinition des Vorsatzes erkennbar, hat der Vorsatz eine Wissensseite und eine Willensseite. Für die Wissensseite ergibt sich dies aus § 16 I 1 StGB, der zugleich bestimmt, dass sich der Vorsatz auf sämtliche Merkmale des objektiven Tatbestands beziehen muss (Kongruenz von objektivem und subjektivem Tatbestand). Der Vorsatz muss zum Zeitpunkt der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung vorliegen, sog. Koinzidenzprinzip (vgl. § 16 I 1 StGB: „bei Begehung der Tat“; § 8 StGB). Er muss jedoch nicht während des Gesamtgeschehens vorliegen, sondern nur in dem Augenblick, in dem der Täter zur Erfolgsherbeiführung ansetzt und den Kausalverlauf aus der Hand gibt. Wann der Erfolg eintritt, ist unerheblich. Mängel in Bezug auf die Wissensseite führen unter Umständen zur Annahme eines Irrtums beim Täter. Anhand der Willensseite unterscheidet man je nach der Intensität der Willensbeziehung des Täters zur Tatbestandsverwirklichung drei Erscheinungsformen des Vorsatzes: die Absicht, den direkten Vorsatz und den Eventualvorsatz. Von Absicht (oder auch dolus directus 1. Grades) spricht man zunächst, wenn die Tatbestandsverwirklichung das eigentliche Ziel der Handlung bildet, ganz unabhängig davon, für wie wahrscheinlich der Täter die Tatbestandsverwirklichung hält (das voluntative Element überwiegt). Absicht liegt jedoch auch schon dann vor, wenn die Tatbestandsverwirklichung notwendige Voraussetzung oder Durchgangsstufe zur Erreichung des eigentlichen Handlungsziels ist (sog. notwendiges Zwischenziel). Direkter Vorsatz (oder auch dolus directus 2. Grades) liegt vor, wenn der Täter sicher voraussieht, dass sein Handeln zur Verwirklichung des Tatbestands führt, auch wenn ihm dies an sich unerwünscht ist (das Wissenselement überwiegt). Hier geht es – in Abgrenzung zur Absicht – um Fälle von unvermeidlichen Nebenfolgen der Handlung des Täters, die dieser in Kauf nimmt, um sein eigentliches Handlungsziel zu erreichen. Unter Eventualvorsatz (oder auch bedingtem Vorsatz oder dolus eventualis) versteht man schließlich Fälle, in denen der Täter weder die Tatbestandsverwirklichung beabsichtigt, noch diese als sicher voraussieht, sondern sie lediglich mehr oder weniger für möglich hält und sich trotzdem – mehr oder weniger die Folgen seiner Handlung billigend – für die Vornahme dieser Handlung entscheidet. → „Billigen“ liegt nach der Rechtsprechung auch dann vor, wenn der Erfolg höchst unerwünscht ist, der Täter sich jedoch mit dessen Eintritt „abfindet“. → Damit fällt natürlich erst recht eine diesbezügliche „Gleichgültigkeit“ darunter. Zusammenfassende Formel: Der Täter erkennt die naheliegende Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung, nimmt sie jedoch billigend in Kauf, findet sich mit ihr ab oder zeigt sich ihr gegenüber gleichgültig. UNIVERSITÄT AU GSBURG SEITE 2 V ON 7 Die genaue Bestimmung des Eventualvorsatzes und damit die Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit ist hoch umstritten und praktisch von großer Bedeutung, da oftmals nur vorsätzliches Handeln mit Strafe bedroht ist (z.B. bei der Sachbeschädigung, vgl. § 303 StGB) oder in Fällen, in denen sowohl vorsätzliches als auch fahrlässiges Handeln strafbar ist, die Höhe der Strafandrohung sich i.d.R. wesentlich unterscheidet (z.B. ist die fahrlässige Tötung nach § 222 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bedroht, die vorsätzliche Tötung gemäß § 212 StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren). Bei der Abgrenzungsfrage zwischen bewusster Fahrlässigkeit und dolus eventualis handelt es sich um eine der schwierigsten Fragen der Strafrechtsdogmatik. Gegenstand des Streits sind dabei allerdings mehr die konstruktiven Elemente des Vorsatzbegriffs, als dass einzelne Fallgestaltungen unterschiedlichen Lösungen zugeführt würden. Man kann bei der Abgrenzung zwei Lager unterscheiden: Vorstellungstheorien (Möglichkeitstheorie, Wahrscheinlichkeitstheorie, Risikotheorien) & Willenstheorien (Billigungstheorie, Gleichgültigkeitstheorie, Vermeidungstheorie, Ernstnahmetheorie). Der Unterschied liegt darin, dass die Vorstellungstheorien auf ein Willenselement zur Bejahung des Vorsatzes verzichten, so dass der Schwerpunkt allein auf dem kognitiven Element liegt. Maßgeblich zur Bejahung des Eventualvorsatzes ist allein ein qualifiziertes Gefahrenbewusstsein des Täters. Gegen die Vorstellungstheorien kann man deshalb stets das Argument vorbringen, dass sie das Willenselement (das voluntative Element) des Vorsatzes verkennen bzw. ignorieren. Vorstellungstheorien Möglichkeitstheorie: Dolus eventualis liegt vor, wenn dem Täter die konkrete Möglichkeit der Rechtsverletzung bewusst ist & er dennoch handelt. Erkennt er sie nicht, liegt nur Fahrlässigkeit vor. Kritik: Es kommt zu einer zu weiten Ausdehnung des Vorsatzes in den Bereich der Fahrlässigkeit. Nicht jeder, der ein Gefahrenbewusstsein hat, muss den Erfolgseintritt auch zwangsläufig wollen. Der Täter kann trotzdem auf das Ausbleiben des Erfolges vertrauen. Wahrscheinlichkeitstheorie: Dolus eventualis liegt vor, wenn der Täter den Erfolgseintritt für wahrscheinlich hält. Wahrscheinlich bedeutet dabei mehr als möglich, aber weniger als überwiegend wahrscheinlich. Hält er ihn nicht für wahrscheinlich, liegt Fahrlässigkeit vor. Kritik: Der Begriff der Wahrscheinlichkeit ist zu unbestimmt & konturenlos; mangelnde Praktikabilität (Beweisschwierigkeiten). Willenstheorien Ältere Einwilligungstheorie: Dolus eventualis liegt vor, wenn der Täter die Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung ernst nimmt (mit ihr rechnet) und sich mit ihr abfindet bzw. diese billigt. Kritik: Auch beim Eintreten eines unerwünschten Erfolges kann dolus eventualis vorliegen. Gleichgültigkeitstheorie: Dolus eventualis liegt vor, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung aus Gleichgültigkeit gegenüber dem geschützten Rechtsgut gutheißt oder in Kauf genommen hat. Er liegt nicht vor, wenn dem Täter der Erfolg unerwünscht ist. Kritik: Die Theorie ist zu einseitig & zu eng. Sie erfasst unter dem Blickwinkel des Gesinnungsunwertes nur einen Teilaspekt des Problems. Auch beim Eintreten eines unerwünschten Erfolges kann dolus eventualis vorliegen. H. M. (modifizierte Billigungstheorie): Dolus eventualis liegt vor, wenn der Täter den Erfolgseintritt für möglich hält bzw. als nicht ganz fern liegend erkennt & ihn billigend in Kauf nimmt. Ein Billigen im Rechtssinne ist auch zu bejahen, wenn der Erfolg dem Täter höchst unerwünscht ist, er sich jedoch um des erstrebten Zieles Willen mit ihm abgefunden hat („na wenn schon“; Lederriemenfall, BGHSt 7, S. 363). Bewusst fahrlässig handelt der Täter dagegen, wenn er die Tatbestandsverwirklichung zwar für möglich hält, jedoch ernsthaft darauf vertraut, dass der tatbestandliche Erfolg ausbleiben werde (es wird schon gut gehen). UNIVERSITÄT AU GSBURG SEITE 3 V ON 7 Die Rspr. folgert ein „Billigen“ unter Anderem aus der Fortführung eines Vorhabens trotz äußerster Gefährlichkeit und wenn der Täter es dem Zufall überlässt, ob sich die von ihm erkannte Gefahr verwirklicht oder nicht („Daraufankommenlassen“). Die Entscheidung zwischen beiden Schuldformen soll nach der Rspr. jedoch niemals schematisch, sondern nur nach Erforschung der höchst individuellen (psychischen) Situation des jeweiligen Täters und der jeweiligen Tat erfolgen. Die Rspr. stellt bei diesen Überlegungen auch immer mit ein, dass vor dem Tötungsvorsatz eine viel höhere Hemmschwelle steht als vor dem Körperverletzungsvorsatz. Hilfreiche gedankliche Frage: Durfte der Täter auf das Ausbleiben des Erfolges vertrauen (dann lediglich bewusste Fahrlässigkeit), oder konnte er lediglich darauf hoffen (dann Eventualvorsatz)? Literaturhinweise: Schroth, NStZ 1990, S. 324 ff. (NStZ gibt es bei Beck Online!) vertiefend: Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 1 ff.; speziell zum Meinungsstand der Abgrenzung von Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit: BGHSt 36, 1 ff. Fall 1 P hat sein Zweites Juristisches Staatsexamen erfolgreich hinter sich gebracht. Von allen Rechtsgebieten hat er das öffentliche Recht am meisten gehasst; daher ist er froh, sich niemals wieder mit öffentlichem Recht beschäftigen zu müssen. Um diese Tatsache angemessen zu würdigen, beschließt er, seine öffentlichrechtlichen Gesetzestexte feierlich zu verbrennen. Dies tut er auch. Dabei unterläuft ihm jedoch ein Fehler: Versehentlich verwechselt er seine Gesetzestexte mit denen seiner Freundin F. Strafbarkeit des P? A. P könnte sich wegen einer Sachbeschädigung gemäß § 303 I StGB strafbar gemacht haben, indem er die Gesetzestexte seiner Freundin F verbrannte. 1. Objektiver Tatbestand Dann müsste er eine fremde Sache beschädigt oder zerstört haben. Bei den Gesetzestexten handelte es sich um körperliche Gegenstände iSd § 90 BGB, also um Sachen. Diese waren für P auch fremd, da sie ausschließlich F gehörten. Diese Gegenstände könnte P zerstört haben, d.h. sie in ihrer Existenz vernichtet oder ihre bestimmungsgemäße Brauchbarkeit vollständig aufgehoben haben. Da sie verbrannt sind, sind sie bereits in ihrer Existenz vernichtet und somit zerstört. Dies hat P auch objektiv zurechenbar verursacht. Der Begriff „rechtswidrig“ in § 303 I StGB ist kein Tatbestandsmerkmal, sondern nur ein ausdrücklicher und überflüssiger Hinweis auf die allgemeine Wertungsstufe der Rechtswidrigkeit. 2. Subjektiver Tatbestand P müsste vorsätzlich gehandelt haben, d.h. mit Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Zwar wusste er, dass die Gesetzestexte Sachen sind und er sie durch das Verbrennen auch zerstören würde, er dachte jedoch, es wären seine eigenen Gesetzestexte, so dass er nicht wusste, dass sie fremd waren. Da die Fremdheit der Sache ein Umstand ist, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, befand er sich gemäß § 16 I 1 StGB in einem Tatbestandsirrtum. Er handelte damit nicht vorsätzlich. 3. Ergebnis: P hat sich mangels Vorsatzes nicht gemäß § 303 I StGB strafbar gemacht; da eine fahrlässige Sachbeschädigung, deren Strafbarkeit gemäß § 16 I 2 StGB unberührt bliebe, nicht strafbar ist, hat sich P durch das Verbrennen überhaupt nicht strafbar gemacht. Ein Irrtum ist das Auseinanderfallen von Vorstellung und Wirklichkeit. Auch wenn einem dies als Selbstverständlichkeit erscheinen mag, sollte man es sich bei jedem möglichen Irrtum vergegenwärtigen. Dies hat zwei Vorteile: Zum einen gerät man nicht in die oft bestehende Gefahr, in einen Sachverhalt Irrtümer hinein zu interpretieren, obwohl gar keine vorliegen; zum anderen kann man auf diese Art und Weise herausarbeiten, worüber der Beteiligte sich genau geirrt hat. Ein Irrtum kann in zwei Erscheinungsformen auftreten, als Unkenntnis, wenn man etwas nicht weiß (Gesetzeswortlaut!), und als irrige Annahme, wenn man sich falsche Vorstellungen macht. Das StGB kennt nur sehr wenige allgemeine Irrtumsvorschriften. Die beiden wichtigsten sind die §§ 16 und 17 StGB. Der hier vorliegende Irrtum nach § 16 I 1 StGB wird als Tatbestandsirrtum bezeichnet und ist eine für den vermeintlichen Täter sehr günstige Regelung. Insofern stimmt das Sprichwort „Unwissenheit schützt nicht vor Strafe“ – zumindest was die Kenntnis von unrechtsbegründenden Umständen angeht – nicht. UNIVERSITÄT AU GSBURG SEITE 4 V ON 7 Wichtig: Der Tatbestandsirrtum betrifft nicht die Kenntnis oder Unkenntnis der Rechtswidrigkeit, sondern allein die der Tatumstände. Fall 2 Ausgangslage wie Fall 1. Die Gesetzestexte gehören jedoch P und F gemeinsam, was P auch weiß. Er verbrennt sie trotzdem, ohne dafür F´s Zustimmung zu haben. Dabei geht er davon aus, dies sei nicht strafbar, da die Gesetzestexte auch ihm gehören, also für ihn nicht fremd seien, und er müsse lediglich F für ihren Eigentumsanteil Schadensersatz leisten. Als F davon erfährt, ist sie sauer, da sie die Gesetzestexte mit vielen Anmerkungen versehen hat, die nun verloren sind. Sie stellt daher gegen P Strafantrag. Strafbarkeit des P? A. P könnte sich wegen einer Sachbeschädigung gemäß § 303 I StGB strafbar gemacht haben, indem er die Gesetzestexte verbrannt hat. 1. Objektiver Tatbestand Dann müsste er eine fremde Sache beschädigt oder zerstört haben. Die Gesetzestexte sind eine Sache und zerstört i. S. d. § 303 I. Die Gesetzestexte müssten aber auch für P fremd gewesen sein. Eine Sache ist fremd, wenn sie nicht im Alleineigentum des Täters steht und nicht herrenlos ist. Zwar gehörten sie zum Teil P selbst, jedoch auch F und somit auch jemand anderen. Da Schutzzweck des § 303 I StGB ist, Sachen vor Beschädigung zu schützen, es sei denn, die Beschädigung geht vom Eigentümer aus, der damit verfahren kann wie er will (§ 903 BGB), ist eine Sache auch für den Miteigentümer fremd, da er nicht allein nach Gutdünken mit ihr verfahren kann. Die Gesetzestexte waren also für P fremd. 2. Subjektiver Tatbestand P müsste vorsätzlich gehandelt haben, d.h. mit Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Zwar wusste er, dass die Gesetzestexte Sachen sind und er sie durch das Verbrennen auch zerstören würde; er dachte jedoch, dass sie für ihn nicht fremd wären, da sie zum Teil auch ihm gehörten. Da es sich bei dem Tatbestandsmerkmal „fremd“ um ein normatives Merkmal handelt, muss P, um vorsätzlich zu handeln, eine Parallelwertung in der Laiensphäre vollziehen, d.h. er muss die Tatsachen kennen, die dem normativen Begriff „fremd“ zugrunde liegen, und er muss auf der Grundlage dieses Wissens den sozialen Sinngehalt des Begriffes richtig erfassen. P kannte alle Tatsachen, die die Gesetzestexte für ihn fremd i.S.d. § 303 I StGB gemacht haben, da er wusste, dass diese ihm gemeinsam mit F gehörten. Er wusste zudem, dass nur der Alleineigentümer frei über die Sachen verfügen kann, da er davon ausging, er sei F schadensersatzpflichtig, so dass er auch den Sinngehalt des Begriffs „fremd“ richtig erfasst hat. Er hatte somit auch bzgl. dieses Tatbestandsmerkmals Vorsatz. Dass er trotzdem davon ausging, sie seien für ihn nicht fremd, begründet keinen Tatbestandsirrtum i.S.d. § 16 I 1 StGB, sondern lediglich einen für den Vorsatz unbeachtlichen Subsumtionsirrtum. P handelte vorsätzlich. 3. Rechtswidrigkeit Da Rechtfertigungsgründe nicht ersichtlich sind, handelte P auch rechtswidrig. 4. Schuld P ging davon aus, er habe sich nicht strafbar gemacht, so dass ihm ein Verbotsirrtum nach § 17 S. 1 StGB unterlaufen sein könnte. Dann müsste ihm die Einsicht gefehlt haben, Unrecht zu tun. Das Unrechtsbewusstsein verlangt, dass der Täter weiß, dass er gegen die verbindliche rechtliche Wertung verstößt, also dass seine Handlung verboten ist. Zwar ging P davon aus, sein Verhalten sei nicht strafbar. Er wusste jedoch, dass er F Schadensersatz zu leisten hat, dass sein Verhalten also jedenfalls zivilrechtswidrig ist. Er wusste somit, dass es verboten ist, so dass er Unrechtsbewusstsein hatte und kein Verbotsirrtum vorlag. P handelte somit auch schuldhaft. 4. Ergebnis: P hat sich wegen einer Sachbeschädigung nach § 303 I StGB strafbar gemacht. Da F auch einen gemäß § 303c StGB notwendigen Strafantrag gestellt hat, kann die Strafverfolgung eingeleitet werden. UNIVERSITÄT AU GSBURG SEITE 5 V ON 7 Der Bezugspunkt des Vorsatzes: Die Tatbestandsmerkmale Man unterscheidet herkömmlicherweise bei Tatbestandsmerkmalen zwischen deskriptiven und normativen Merkmalen. Deskriptiv sind solche, die in der Regel unmittelbar sinnlich wahrnehmbar sind (wie z.B. „Mensch“ und „Sache“). Normative sind solche Gegebenheiten, die nur im Zusammenhang mit rechtlichen oder sozialen Normen verständlich sind (wie z.B. fremd und Urkunde), also wertausfüllungsbedürftig. Der Sinn dieser Unterscheidung liegt darin, dass es bei normativen Tatbestandsmerkmalen nicht genügt, dass man Kenntnis der reinen Tatsachen hat, aus denen sich die soziale bzw. rechtliche Wertung zusammensetzt, also in unserem Fall, die Umstände, die die Gesetzestexte für P fremd machen. Andererseits ist es sicherlich nicht erforderlich, dass der Täter genau subsumiert hat (also die Definition des Merkmals kennt und dann noch richtig subsumiert), sonst könnte, wie oft anschaulich eingewendet wird, nur ein Jurist ein Verbrechen begehen (bzw. im vorliegenden Fall noch nicht mal ein solcher). Bei solchen Tatbestandsmerkmalen genügt daher nach h.L. und Rspr., eine Parallelwertung in der Laiensphäre des Täters, d.h. der Täter muss die Tatsachen kennen, die dem normativen Begriff zugrunde liegen, und er muss zusätzlich auf der Grundlage dieses Wissens den sozialen Sinngehalt des Begriffes richtig begreifen. ↓ Kenntnis (intellektueller Moment des Vorsatzes) bedeutet also sinnliche Wahrnehmung der deskriptiven und geistiges Verstehen der normativen Tatumstände. Vgl. vertiefend z.B. Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 95 ff. Vertiefung: Die Regelung des § 17 StGB – vor allem im Vergleich zu § 16 StGB – hat die Diskussion zwischen der sog. Vorsatztheorie und der Schuldtheorie über den Standort des Unrechtsbewusstseins zugunsten der Schuldtheorie entschieden. Nach der heute nicht mehr vertretenen Vorsatztheorie hatte der Vorsatz allein Bedeutung für die Schuld; er umfasste sowohl den Tatbestandsvorsatz (der also auch erst in der Schuld geprüft wurde!) als auch das Unrechtsbewusstsein. Die Konsequenz dieser Ansicht war, dass zwischen einem Irrtum über Tatsachen und einem Irrtum über die rechtliche Wertung einer Norm nicht unterschieden wurde. Wer kein Unrechtsbewusstsein hatte, handelte somit ohne Vorsatz. Das geltende Recht unterscheidet jedoch in den §§ 16, 17 StGB zwischen diesen beiden Irrtumsarten. Es folgt damit der Schuldtheorie, die den Unterschied darin sieht, dass derjenige, der einem Tatbestandsirrtum unterliegt, gar nicht die Umstände kennt, die das Unrecht seiner Tat begründen; ein solcher Irrtum ist grundsätzlich verzeihlicher, als ein Verbotsirrtum, bei dem der Täter die Umstände kennt und sich lediglich nicht bewusst ist, etwas verbotenes zu tun, also kein Unrechtsbewusstsein hat. Die Schuldtheorie ermöglicht so – je nach Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums – eine differenzierte, abgestufte Bestrafung des Täters. Vertiefend s. dazu das Arbeitspapier zum Thema Schuld. Wichtig ist: Aus § 17 StGB folgt, dass nur die objektiven Tatbestandsmerkmale Gegenstand des Vorsatzes sind, nicht jedoch die Bewertung als Unrecht (Unrechtsbewusstsein). Tipp: Unterläuft dem Täter ein für den Vorsatz unbeachtlicher Subsumtionsirrtum, ist stets zu prüfen, ob nicht auch ein Verbotsirrtum vorliegt. Dies dürfte in der Regel nicht der Fall sein, da es – wie gesagt – auf ein Strafunrechtsbewusstsein nicht ankommt und der Täter meist auch weiß, dass sein Verhalten – auch wenn er davon ausging, es sei nicht strafbar – rechtlich nicht erlaubt ist. Ergänzung: Wenn man in einem Fall (nicht in diesem) einen Verbotsirrtum bejaht, entfallen noch nicht die Schuld und damit die Strafbarkeit des Täters; zusätzlich ist erforderlich, dass dieser Irrtum unvermeidlich war. Für diese Unvermeidbarkeit werden – vor allem von der Rspr. – strenge Voraussetzungen aufgestellt: Der Täter muss nach seinen individuellen Fähigkeiten bei Einsatz aller seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen, u.U. auch durch Erkundigungen, nicht in der Lage gewesen sein, die Unrechtseinsicht zu erlangen. Fall 3 P ärgert sich sehr über die schlechte Korrektur seiner Probeexamensklausur. Er beschließt deshalb, dem Korrekturassistenten K einen Denkzettel zu verpassen. Dazu legt er sich am Abend vor der Juristischen Fakultät auf die Lauer, um ihm einen Schneeball ins Gesicht zu werfen. Als gegen 23.00 Uhr der Professor von K das UNIVERSITÄT AU GSBURG SEITE 6 V ON 7 Gebäude verlässt, verwechselt P ihn mit K, da K im Laufe der Zeit in seiner grenzenlosen Bewunderung seinem Professor immer ähnlicher geworden ist. Der Professor wird von P´s hartem Schneeball im Gesicht getroffen. P bemerkt seinen Fehler, rennt sofort zu dem Professor und entschuldigt sich. Dieser ist jedoch über P so verärgert, dass er Strafantrag stellt. Strafbarkeit des P? § 224 StGB ist nicht zu prüfen. A. P könnte sich wegen einer Körperverletzung an dem Professor gemäß § 223 I StGB strafbar gemacht haben, indem er ihm einen Schneeball ins Gesicht warf. 1. Objektiver Tatbestand Der Professor, eine andere Person, müsste körperlich misshandelt worden sein. Eine körperliche Misshandlung ist jede üble und unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigt. Von einem harten Schneeball ins Gesicht getroffen zu werden, beeinträchtigt das körperliche Wohlbefinden, da der Aufprall – auch durch die Kälte des Schnees – schmerzhaft ist. Diese Beeinträchtigung ist auch mehr als unerheblich, da es nicht nur eine sozial übliche, bagatellarische Einwirkung ist; sie ist damit auch unangemessen. Diese Körperverletzung hat P auch durch seinen Schneeballwurf kausal und objektiv zurechenbar bewirkt. 2. Subjektiver Tatbestand P müsste vorsätzlich gehandelt haben, also mit Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Er wusste, dass er mit seinem Schneeballwurf diejenige Person, die er anvisierte, körperlich misshandelt; dies hatte er ja auch als Denkzettel beabsichtigt. Er irrte sich jedoch über die Identität der Person, da er davon ausging, es handele sich bei der Person, die er anvisierte, nicht um den Professor, sondern um K. P unterlief damit ein sog. error in persona. Fraglich ist, ob es sich bei diesem Irrtum um einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum i.S.d. § 16 I 1 StGB handelt. Der Vorsatz des P hat sich auf das im Tatbestand vertypte Unrecht vollständig konkretisiert, indem er den Professor anvisiert und ihn auch mit dem Schneeball getroffen hat. Er wusste, dass es sich bei dem Professor um eine andere Person handelt. Die Identität dieser Person ist kein Tatumstand. Da das vorgestellte und das anvisierte Angriffsobjekt abstrakt gleichwertig sind – bei beiden handelt es sich um einen anderen Menschen – ist der Irrtum über die Identität dieses Angriffsobjekts ein für den Tatbestandsvorsatz unbeachtlicher Motivirrtum. P handelte somit vorsätzlich. 2. P handelte rechtswidrig und schuldhaft. 3. Ergebnis: P hat sich wegen einer Körperverletzung gemäß § 223 I StGB strafbar gemacht. Der Professor hat den nach § 230 I StGB notwendigen Strafantrag gestellt, so dass die Strafverfolgung eintreten kann. Hinweis: Dieses Ergebnis ist für den error in persona vel objecto unumstritten. Es handelt sich dabei nicht um einen Tatbestandsirrtum i.S.d. § 16 I 1 StGB. Es wird trotzdem in den Lehrbüchern unter den Sonderfällen des Tatbestandsirrtums behandelt, weil er von der aberratio ictus abzugrenzen ist. Die Abgrenzung ist in der Regel unproblematisch: Bei der aberratio ictus trifft der Täter nämlich – anders als beim error in persona vel objecto – gerade nicht das anvisierte Objekt, sondern ein anderes gleichwertiges. Wie dieser Irrtum zu behandeln ist, ist umstritten (siehe dazu sogleich). Sind die Tatobjekte dagegen nicht gleichwertig führt der error in persona vel objecto zu einer Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bezüglich des getroffenen Objektes und zu einer Bestrafung wegen Versuchs bezüglich der vorgestellten Tatbestandsverwirklichung. Beispiel: A will den Hund des Nachbarn N töten und erschießt im Zwielicht ein Kind, das in die Hundehütte gekrochen war, weil er dieses für den Hund gehalten hatte. Fall 4 Ausgangslage wie Fall 3. K und sein Professor verlassen jedoch gemeinsam das Fakultätsgebäude. Da P sich seiner Wurfkünste sicher ist, wirft er in Richtung K. Der Schneeball wird jedoch von einer plötzlichen Windböe erfasst, ändert seine Flugbahn und trifft den Professor ins Gesicht; mit dieser Möglichkeit hat P nicht gerechnet. Er entschuldigt sich sofort bei dem Professor, trotzdem stellt dieser Strafantrag. Strafbarkeit des P nach § 223 I StGB? UNIVERSITÄT AU GSBURG SEITE 7 V ON 7 A. P könnte sich wegen einer Körperverletzung des Professors gemäß § 223 I StGB strafbar gemacht haben, indem er ihm einen Schneeball ins Gesicht warf. 1. Objektiver Tatbestand: (s.o.) 2. Subjektiver Tatbestand P müsste vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung gehandelt haben. Er wusste, dass ein ins Gesicht geworfener Schneeball eine körperliche Misshandlung verursacht. P wollte jedoch nicht den getroffenen Professor verletzen, sondern den neben ihm gehenden K, den er auch anvisiert hatte. Es liegt daher eine sog. aberratio ictus vor. Fraglich ist, ob es sich bei diesem Irrtum P´s um einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum i.S.d. § 16 I 1 StGB handelt. Nach einer Ansicht hat sich der Vorsatz des Täters in einem solchen Fall auf das anvisierte Angriffsobjekt konkretisiert und individualisiert (sog. Konkretisierungstheorie), so dass er nur bzgl. dieses Tatobjekts vorsätzlich gehandelt hat. Danach hätte P den Professor nicht vorsätzlich körperlich misshandelt. In Betracht kämen höchstens eine versuchte Körperverletzung an K und eine fahrlässige Körperverletzung an dem Professor. Die Gegenposition hält diese Konkretisierung für unerheblich, so dass bei tatbestandlicher Gleichwertigkeit von anvisiertem und getroffenem Objekt Vorsatz gegeben sei (sog. Gleichwertigkeitstheorie). Da der Professor und K beides andere Personen i.S.d. § 223 I StGB sind und damit tatbestandlich gleichwertig, wäre somit nach dieser Meinung der Vorsatz zu bejahen. Da die beiden Ansichten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, ist eine Streitentscheidung vorzunehmen. Für die Gleichwertigkeitstheorie spricht, dass P einen Menschen verletzen wollte und dies auch erreicht hat. Von einer Konkretisierung als Tatumstand ist in § 223 I StGB nicht die Rede, daher kann man sich darüber auch nicht irren. Es reicht ein genereller Vorsatz bzgl. der einzelnen Umstände. Richtig erscheint jedoch die Konkretisierungstheorie, da P sein Ziel, den K zu treffen, nicht erreicht hat. Die eingetretene Verletzung lag gerade außerhalb seines Vorsatzes, schließlich setzt der Vorsatz die Konkretisierung auf ein bestimmtes Tatobjekt voraus. Die aberratio ictus ist damit keine eigene Rechtsfigur, sondern nur ein besonderer Fall einer Kausalabweichung. Die Annahme eines generellen Vorsatzes (dolus generalis) ist auch deshalb nicht sachgerecht, da sich der Täter stets etwas Konkretes vorstellt. Schließlich ist nicht einzusehen, dass P hier – obwohl er sein Ziel verfehlt hat – wegen einer vollendeten Tat bestraft werden soll, nur weil er zufällig den daneben gehenden Professor getroffen hat, schließlich hätte der Schneeball auch einfach nur vorbeifliegen können. Die überwiegenden Argumente sprechen also für die Konkretisierungstheorie. 2. Ergebnis: P hat sich mangels Vorsatzes nicht wegen einer vollendeten Körperverletzung des Professors gemäß § 223 I StGB strafbar gemacht. Zur Vollständigkeit: Eine vermittelnde Ansicht möchte danach unterscheiden, ob es für das jeweilige deliktstypische Unrecht auf die Individualität des Tatobjekts ankommt; dies sei nur bei höchstpersönlichen Rechtsgütern der Fall, so dass die Abirrung auch nur dann erheblich und der Vorsatz zu verneinen sei (sog. materielle Gleichwertigkeitstheorie). Nach dieser Meinung wäre ein Vorsatz bzgl. der körperlichen Misshandlung des Professors abzulehnen, da das durch § 223 I StGB geschützte Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit höchstpersönlich ist. Eine Auseinandersetzung mit dieser singulär gebliebenen Ansicht ist in einer Klausur nicht unbedingt notwendig, im Rahmen einer Hausarbeit jedoch angezeigt. Da die Fallfrage auf die Strafbarkeit gemäß § 223 I StGB – also auf eine vollendete vorsätzliche Körperverletzung – beschränkt war, waren eine versuchte Körperverletzung gemäß §§ 223 II, 22, 23 I StGB zum Nachteil des K und eine fahrlässige Körperverletzung gemäß § 229 StGB zum Nachteil des Professors nicht zu prüfen. Dies würde Kenntnisse voraussetzen, die noch nicht verlangt werden können. Im Ergebnis liegt hier eine Strafbarkeit nach beiden Normen unproblematisch vor. Literaturhinweise zum Tatbestandsirrtum: vertiefend: Roxin, AT I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn. 95 ff.
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