Übung 8

Werkstoffe und Fertigung II, FS 2016
Seminarübung 8
Prof. Dr. K. Wegener
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Plastizität, Rekristallisation
Theorie: Plastizität
1.1
Steigerung der Streckgrenze
Es existieren verschiedene Massnahmen, mit welchen die Festigkeit eines Werkstoffes gesteigert
werden kann. Das Grundgitter sollte einen hohen Schubmodul besitzen. Dazu kommen möglichst harte Hindernisse, welche nicht geschnitten werden, die möglichst nahe beieinander liegen.
Hindernisse können Fremdatome, Versetzungen, Korngrenzen oder Teilchen einer zweiten Phase
sein.
σS = σ⊥ + ∆σM + ∆σV + ∆σT + ∆σKG
σS :
Streckgrenze
σ⊥ :
∆σV :
minimale Spannung um die Gleitsysteme zu aktivieren
√
c:
Konzentration Fremdatome
Mischkristallhärtung; ∆σM ∼ c
√
Versetzungshärtung; ∆σV ∼ ρVim
ρVim : Dichte immobiler Versetzungen
∆σT :
Teilchenhärtung;
∆σKG :
Korngrenzeneinfluss;
∆σM :
1.2
1
DT
∆σKG ∼ √ D1
KG
∆σT ∼
DT :
Teilchenabstand (andere Phase)
DKG :
Korndurchmesser
Diskontinuierliches Fliessen
Der Übergang von elastischer zu plastischer Verformung ist häufig mit einem diskontinuierlichen
Fliessen des Werkstoffs verbunden. Die dazugehörige Dehnung wird als Lüders-Dehnung ε L
bezeichnet.
Zu Beginn blockieren Fremdatome die Versetzungen. Ab einer bestimmten Spannung reissen sich
die Versetzungen los und ein Spannungsabfall resultiert. Diese Verformung nennt sich Lüdersband
(45◦ zur Zugrichtung) und überstreicht die gesamte Probenlänge. Sobald die Probe auf der ganzen
Länge gleichmässig verformt ist, beginnt die Verfestigung mit ansteigender Fliessspannung und
später tritt der Bruch ein. In Abb. 1.1 ist das sich ausbreitende Lüdersband dargestellt, wie es die
gesammte Probenlänge überstreicht.
Aus diesen Vorgängen resultiert ein ungleichmässiges Fliessverhalten und Fliessfiguren (abwechselnd verformte und unverformte Bereiche), diese sollen verhindert werden.
Durch Dressieren (Dressurstich) kann dieses Problem umgangen werden. Dabei wird das Material
zuerst über die Lüdersdehnung hinweg gedehnt und wieder entlastet (z.B. durch Walzen). Bei
der nächsten Belastung spielt die Lüders-Dehnung keine Rolle mehr, da die Verfestigung mit
ansteigender Fliessspannung direkt eintritt. Dieser Effekt ist nur temporär, da die sogenannte
Reckalterung ihn rückgängig macht. Dabei diffundieren die interstitiell gelösten Fremdatome
in die Spannungsfelder der Versetzungen zurück und blockieren diese wieder. Dieser Wechsel
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Plastizität, Rekristallisation
zwischen Spannungsanstieg und Spannungsabfall lässt die Fliesskurve sägezahnartig ausschauen
(Sägezahnfliessen).
Abbildung 1.2: Vergleich wahre Spannung
und technische Spannung
Abbildung 1.1: Lüdersdehnung und Lüdersband
1.3
Wahre Dehnung
Die früher eingeführte Nominalspannung ist eine mess-technische Vereinfachung der Wirklichkeit.
Den Bezug auf den aktuellen Querschnitt stellt die wahre Spannung auf. Es wird eine Beschreibung
der Dehnung gesucht, bei der die Verlängerung jeweils auf die momentan vorliegende Länge
bezogen wird. Diese wird wahre oder logarithmische Dehnung ϕ genannt. Die bis jetzt eingeführte
Dehnung wird mit lineare Dehnung ε bezeichnet. Makroskopische Dehnungen enstehen durch
Aufaddition aller Dehnungsinkremente.
ϕ=
Z l1
1
l0
l
dl = ln
l1
l0
Die zwei Dehnungen lassen sich ineinander umrechnen, unterscheiden sich mit zunehmender
Dehnung aber beliebig stark. In Abb. 1.2 ist diese Differenz mit steigender Dehnung deutlich
ersichtlich.
ϕ = ln(1 + ε)
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Plastizität, Rekristallisation
Theorie: Erholung und Rekristallisation
Nach der Kaltverformung befindet sich ein metallischer Werkstoff im Ungleichgewicht. Eingebrachte Gitterfehler erhÖhen die innere Energie und freie Enthalpie. Zusätzlich sind makroskopische
Eigenspannungen vorhanden. Dieses Ungleichgewicht ist bei tiefen Temperaturen beständig. Bei
Erhöhung der Temperatur hat ein Werkstoff die Tendenz Defekte auszuheilen, dabei werden die
durch die Kaltverformung erzeugten Eigenschaftsänderungen rückgängig gemacht. Je nachdem
ob ein Werkstoff dabei sein Korngefüge ändert oder nicht, wird von Erholung (keine änderung
des Korngefüges) oder von Rekristallisation und Kornwachstum (änderung des Korngefüges)
gesprochen.
Gefüge nach:
a) Kaltumformung
b) Erholung
c) Rekristallisation
d) Kornwachstum
2.1
Erholung
Die Kristallerholung zieht keine Änderung der Grosswinkelkorngrenzen nach sich, somit bleibt
das Korngefüge bestehen. Sie läuft bei relativ niedrigen Temperaturen ab (ca. 0.3 TS ).
Es treten durch thermische Aktivierung stufenweise folgende Effekte auf:
1. Abbau nulldimensionaler Gitterbaufehler → Erholung physikalischer Eigenschaften
2. Abbau von Versetzungen durch Annihilierung (Auslöschen von entgegengesetzten Versetzungen in einer Gleitebene ⊥ + > = 0) und durch Klettern (am Ende der Stufenversetzung
entsteht eine Leerstelle, dadurch zieht sie sich zurück) → Erholung mechanischer Eigenschaften
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Plastizität, Rekristallisation
3. Polygonisation (Abbau und Neuordnung von Versetzungen, zu einer energetisch günstigeren Versetzungsstruktur; führt zur Bildung von Kleinwinkelkorngrenzen)
4. Zellbildung (Neuordnung von Versetzungen führt zur Bildung von Zellen oder Subkörnern)
2.2
Rekristallisation
Als Rekristallisation wird die Entstehung und Wanderung von Grosswinkelkorngrenzen bezeichnet.
Damit einher geht die Bildung neuen Gefüges. Dieser Vorgang ist abhängig von:
• Verformungsgrad (Mindestverformung 1-5%)
• Temperatur (> Rekristallisationstemperatur ca. 0.4 TS )
• Glühzeit (> Inkubationszeit, Zeit während welcher ein Stoff mit bestimmter Vorverformung
der Temperatur T ausgesetzt sein muss, bis die Rekristallisation beginnt)
2.2.1
Primäre Rekristallisation
Ausgangspunkt sind Zonen grosser Versetzungsdichte und maximaler Gitterstörung. Dort bilden
sich Keime mit fehlerarmen Kristallbereichen, die angetrieben durch den Enthalpieunterschied zu
wachsen beginnen. Die Aktivierungsenergie für die diffusionsbedingte Umordnung der Atome
stammt einerseits aus der zugeführten Wärme und andererseits aus der gespeicherten Verformungsenergie.
Je stärker das ursprüngliche Material verformt war, desto feiner ist das neu gebildete Korn. Ist
der Verformungsgrad sehr tief oder nicht vorhanden, bleibt das ursprüngliche Gefüge bestehen.
2.2.2
Kornvergrösserung
Nach der Inkubationszeit schliesst sich dieser Vorgang direkt an die Primärkristallisation an. Unter
Aufzehrung von kleinen Körnern nimmt die Korngrösse gleichmässig zu. Die Kornvergrösserung
erfolgt durch Verkürzung und Begradigung der Korngrenzen (120◦ -Regel, Bienenwabenstruktur).
Kornvergrösserung verringert Zähigkeit, Steckgrenze und Bruchspannung. Grösseres Korn führt
aber auch zu weniger Korngrenzen und somit zu besserer Kriechfestigkeit.
2.2.3
Sekundäre Rekristallisation
Einzelne Körner wachsen, so dass im Verlauf des Vorgangs sehr grosse neben relativ kleinen
Kristallen vorliegen. Sie tritt bei hohen Temperaturen und hohen Verformungsgraden auf. Rasches
Wachstum setzt erst dann ein, wenn ein Korn doppelt so gross wie die benachbarten Körner
ist.
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Plastizität, Rekristallisation
Wahr oder Falsch?
a) Der Spannungstensor beschreibt den Spannungszustand in einem Kontinuum ganzheitlich.
b) Der Spannungstensor eines sehr tief im Meer versenkten Probewürfels lässt sich einzig mit
drei positiven und gleich grossen Normalspannungen beschreiben.
c) Der Deformationstensor enthält Informationen über die Verschiebung und Verdrehung eines
Verbindungsvektors zwischen zwei Materiepunkten.
d) Die Asymmetrie der Potentialkurve ist verantworlich für die Dehnung eines Werkstoffes bei
Temperaturerhöhung.
e) Der Schubmodul ist die Proportionalitätskonstante, die die Schubspannungen mit dem
resultierenden Scherwinkel verbindet.
f) Werden die kritischen Schubspannungen überschritten, bricht das Bauteil.
g) Das Schmidsche Schubspannungsgesetz lässt sich genau gleich verwenden wie der Spannungstensor.
h) Sind die kritischen Schubspannungen in einem Gleitsystem höher als die auftretenden Schubspannungen, so werden Versetzungen in Bewegung versetzt.
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Plastizität, Rekristallisation
Aufgaben für die Übungstunde
4.1
Plastische Dehnung: Energieaufnahmevermögen
Ein Steinfangnetz soll den Absturz von Felsblöcken auf eine Strasse verhindern. Das Netz besteht
aus Seilen, die aus Stahldrähten aufgebaut sind. Im Zugversuch wurde mit diesem Draht bei einer
Messlänge von L1 eine Bruchverlängerung von ∆L1 gemessen, bei einer Probe der Länge L2 eine
solche von ∆L2 .
a) Wie gross ist die elastische Energie des Drahtes bei maximaler Kraft (F = A0 · Rm ) im Draht
aufgenommen werden kann?
b) Welche Energie kann ein Draht der Länge L0 bis zum Bruch durch plastisches Fliessen
aufnehmen?
• Einfachste Näherung: Fleisskurve σ(e) als Gerade zwischen R p0.2 und Rm angesetzt.
• Bessere Näherung: Fliesskurve für den Bereich der Gleichmassdehung zwischen R p0.2
und Rm mit der Ludwikgleichung beschrieben. Der Exponent n von e sei n=0.5. (Der
Einfluss der Dehngeschwindigkeit werde vernachlässigt).
4.2
Drahtlänge
L0
=
3m
Drahtdurchmesser
d0
=
2 mm
Festigkeit des Drahtes
Rm
=
1400 N/mm2
Elastizitätsgrenze des Stahldrahtes
R p0.2
=
950 N/mm2
Länge Probe 1
L1
=
0.1 m
Länge Probe 2
L2
=
0.2 m
Totale Verlängerung bis Bruch bei Probe 1
∆L1
=
0.007 m
Totale Verlängerung bis Bruch bei Probe 2
∆L2
=
0.012 m
Rekristallisation
Gegeben ist ein Rekristallisationsdiagramm (Abb. 4.1 ). Bei der Temperatur T1 beginnt ein Werkstück mit dem Verformungsgrad 13% die Rekristallisation zu der Zeit t1 = 90 s (Inkubationszeit).
a) Wie gross ist die Temperatur T1 ?
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Plastizität, Rekristallisation
b) Auf welchen Wert müssen Sie den Verformungsgrad (Temperatur bleibt T1 ) ändern damit die
Rekristallisation zu diesem Zeitpunkt gerade abgeschlossen ist?
c) Auf welchen Wert müssen Sie den Rekristallisationstemperatur T2 erhöhen damit der Verformungsgrad bei 13% Zeitpunkt gerade abgeschlossen ist?
Abbildung 4.1: Verformungsdiagramm bei t1 = 90s
4.3
Plastizität
Ein Stab der Länge L wird langsam mit der wahren Spannung σ auf Zug belastet.
a) Wie gross ist die logarithmische Dehnung des Stabes unter dieser Last?
b) Wie gross ist die lineare Dehnung?
c) Wie gross ist die Verlängerung des Stabes?
d) Bei welcher Spannung würde die Brucheinschnürung beginnen?
e) Wie gross ist die zugehörige Gleichmassdehnung?
f) Geben Sie das Verhältnis an zwischen dem Durchmesser nach dem Bruch, ausserhalb der
Einschnürbereiches, und dem Anfangsdurchmesser.
Rp
=
0
L
=
1m
C
=
1000 MPa
σ
=
500 N/mm2
n
=
0.5
ϕr
=
0.7
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4.4
Plastizität, Rekristallisation
Erholung
Gegeben ist das schematische Abbild (Abb. 4.2) eines Materials mit Versetzungen. Beschreiben
Sie was passiert, wenn das Material einige Zeit bei einer Temperatur von 0.3Ts gehalten wird und
zeichnen Sie den Endzustand.
Abbildung 4.2: Versetzungen des Materials
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Plastizität, Rekristallisation
Hausaufgaben
5.1
Streckgrenze
Gegeben sind der Gesamtspannungswert der Streckgrenze σs = 440 MPa und die Teilwerte der
verschiedenen Verfestigungsarten (∆σM = 5 MPa,∆σV = 20 MPa,∆σT = 50 MPa,∆σKG = 60 MPa).
Berechnen Sie:
a) Die Versetzungsgleitspannung σ⊥
b) σSneu , wenn der Anteil an Fremdatomen verdoppelt und der Teilchenabstand halbiert wird.
5.2
Lineare und logarithmische Dehnung
1. Berechnen Sie für eine lineare Dehnung e von 0%, 1%, 10%, 100% die logarithmische (wahre)
Dehnung ϕ.
2. Das Werkstoffvolumen bleibt bei plastischer Verformung konstant. Formulieren Sie diesen
Sachverhalt mit linearen und logarithmischen Dehnungen.
5.3
Plastizität
Ein Blech soll kalt umgeformt werden. Das Material zeigt im Zugversuch ein Verhalten gemäss
Abb. 5.1.
a) Wie heisst die Erscheinung im Bereich 0 < e p < el ?
b) Worauf ist sie zurückzuführen?
c) Warum ist dieses Verhalten ungünstig für den Umformprozess?
d) Wie können die Nachteile umgangen werden?
e) Sind diese Massnahmen nachhaltig, was ist zu tun?
Abbildung 5.1: Spannungs-Dehnungsdiagramm
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