1 «Der unbekannte Churchill – was können wir von ihm lernen?» Rede von Thomas Kielinger, OBE, London Korrespondent «Die Welt» anlässlich der ZHK Generalversammlung vom 2. Juli 2015 Es gilt das gesprochene Wort Meine Damen und Herren! In Zürch erscheinen und vor einem so illustren Publikum über Winston Churchill sprechen zu dürfen, ist eine große Ehre, für die ich gar nicht genug danken kann. Dabei weiß ich, dass ich mir meine Sporen erst noch verdienen muss, denn der Vorschuss an freundlichen Begrüßungsworten ist doch nur eine Hypothek, die ich jetzt abzahlen muss. Hoffentlich reicht mein Angespartes. . . Bei Zürich denke ich natürlich als Allererstes an Winston Churchills Bahn brechende Europa-Rede, die er im September 1946 an der hiesigen Universität hielt. Darauf komme ich noch zu sprechen. Aber in Zürch hat auch Jahre lang ein PhilosophieProfessor von mir unterrichtet, Hermann Lübbe, und er gibt mir das willkommene Stichwort zum Einstieg in meine Gedanken heute. Lübbe prägte vor einigen Jahren das Wort von der 2 „Gegenwartsschrumpfung“, womit er den Verschleiß alles Neuen meint oder, anders ausgedrückt, die Beschleunigung des Veraltens. „Gegenwartsschrumpfung“ erfasst auch die Zeitgeschichte: die Zeitspanne, über die wir verlässliche Urteile anstellen können, wird von Mal zu Mal kürzer, bedrängt von Ereignissen, die niemand vorhersah, die Gegenwart „schrumpft“ also, wird immer unberechenbarer. Wer ahnte vor Beginn des Jahres 2014 etwas von der Krim- und Ukraine-Krise, wer hatte von der Bedrohung durch ein islamistisches Kaliphat gehört, das seine Tentakeln nach immer neuen Opfern ausstreckt, zuletzt in Tunesien? Wer sah die Springflut der Flüchtenden, die heute aus Afrika und dem Nahen Osten an Europa anbranden, während alle Augen auf die Lösung der Euro-Krise und Griechenland gerichtet waren? In dieser Zeit einer von unberechenbaren Einbrüchen bedrängten Agenda geht der Blick zurück auf eine Figur wie Winston Churchill, und wie er sich verhielt innerhalb seiner Zeit und ihren Unwägbarkeiten. Zwar war auch Hitler außerhalb Deutschland zunächst kaum zur Kenntnis genommen worden, aber wenigstens konnte man nach dem Versailler Vertrag ahnen, wohin der Hase lief, salopp gesprochen. Hören Sie einen der schärfsten Versailles-Kritiker, den Ökonomen John Maynard Keynes, der als Leiter der Delegation des britischen Finanzministeriums an 3 jener Friedenskonferenz teilnahm. Schon 1919 veröffentlichte er seine berühmte Warnung, „Die ökonomischen Folgen des Friedens“, in der er die Rachementalität der Alliierten gegenüber Deutschland frontal anging, mit prophetischem Ausblick: „Wenn der europäische Bürgerkrieg damit enden sollte, dass (die westlichen Mächte) ihren momentanen Sieg ausnutzen, um das danieder liegende Deutschland zu zerstören, dann laden sie sich ihre eigene Zerstörung auf.“ Fünf Jahre später, 1924, lesen wir in einem Aufsatz Churchills unter dem Titel: „Sollen wir alle gemeinsam Selbstmord begehen?“ diese Passage: „Von einem Ende Deutschlands zum anderen vereint intensiver Hass auf Frankreich die ganze Bevölkerung. Große Kontingente deutscher Jugend kommen Jahr für Jahr ins militärtaugliche Alter, inspiriert von den wildesten Gefühlen, und die Seele Deutschlands schwelgt in Träumen eines Befreiungskrieges oder der Rache. Solche Ideen sind im Moment nur zurückgehalten durch das physische Unvermögen, sie umzusetzen. Lasst uns auch nicht einen Augenblick lang glauben,“ so schließt er, „die Gefahr einer neuen Explosion in Europa sei vorbei.“ Churchills Geschichtssinn war einmalig, er überragte damit die Durchschnittsbefähigung der britischen politischen Klasse seiner Zeit klafterhoch, und so ließ er sich, was Deutschland anging, nur 4 selten von Unvorhersehbarkeiten überraschen. Als die NSDAP in der Reichstagswahl vom September 1930 auf 18,3 Prozent der Stimmen hochschnellte, war er alarmiert genug, um in der Deutschen Botschaft in London um ein Gespräch mit dem Geschäftsträger Prinz Otto von Bismarck, einem Enkel des Großen Kanzlers, nachzusuchen, dem er seine Sorgen über Hitlers Partei vortrug. Laut dem Gesprächsprotokoll, das von Bismarck anschließend an die Berliner Zentrale schickte, war Churchill „überzeugt, dass Hitler oder seine Gefolgsleute bei erster Gelegenheit zu den Waffen greifen würden“. Seit dieser Zeit hatte Churchill die deutschen Entwicklungen gleichsam auf seinem Radarschirm. Gegenwartsschrumpfung, den immer kleiner werdenden Zeitraum, über den wir sichere Urteile fällen können, kannte er nicht. Er sah vielmehr weit voraus. Schon nach seiner Rückkehr von einer Reise zu den süddeutschen Schlachtfeldern des Herzogs von Marlborough, seinem großen Vorfahr, über den er im Verlaufe der 30er Jahre eine vierbändige Biografie schreiben wird, greift Churchill im Oktober 1932 vor dem Unterhaus Passagen aus dem genannten Aufsatz von 1924, „Sollen wir alle gemeinsam Selbstmord begehen?“ auf: „Diese Scharen stämmiger teutonischer Jugend, wie sie durch die Straßen Deutschlands marschieren, mit der Glut des Verlangens in ihren Augen, für das Vaterland zu leiden – glauben Sie mir, sie werden, wenn sie erst einmal die Waffen haben, als Nächstes die 5 Rückkehr der verlorenen Territorien verlangen.“ Seine Analysen stellte er immer wieder in größeren historischen Rahmen. So lesen wir 1930 in seinem Essay über Wilhelm II., „The ExKaiser“: „Auf den Deutschen ruht eine immense Verantwortung für ihre Unterwürfigkeit unter den barbarischen Gedanken der Autokratie. Dies ist die Hauptbeschwerde der Geschichte gegen sie – dass sie trotz ihrer Intelligenz und ihres Mutes die Macht anbeten und sich an der Nase herumführen lassen.“ Nun, Sie werden einwenden, kluge Analysen über gegenwärtige und kommende Krisen hören wir auch heute beständig, es herrscht sogar ein Überangebot an Gehirnschmalz, bei einem Unterangebot an Tatkraft und Entschlossenheit, vielleicht liegt darin sogar das größte Defizit der heutigen westlichen Verantwortungsträger. Aber der Churchill der 30er Jahre hatte kein öffentliches Amt, er konnte nichts entscheiden, ihm blieb nur die Rolle der Kassandra, mit der er sich gleichsam warm lief für den Ernstfall. Doch schauen wir uns die Kassandra Winston Churchill einmal genauer an – so eindeutig festgelegt auf die Warnung vor einem neuen Krieg war er durchaus nicht. Ich war überrascht bei den Forschungen zu meiner Biographie, wie wenig eindimensional Churchills Denken in Wirklichkeit war. Er ließ sich oft nicht leicht festlegen. 6 Viel Hin und Her verraten zum Beispiel seine Meinungen in den 30er Jahren – zu Mussolini, zu Spanien, zu Russland. Das Jahrzehnt war in reißendem Fluss, eine Herausforderung auch für sein Urteilsvermögen. Und das überraschenderweise gerade gegenüber dem Phänomen Adolf Hitler. Von Zeit zu Zeit öffnete sich Churchill sogar der Hoffnung, es könnte noch alles gut gehen mit Deutschland und der „Führer“, einmal saturiert, könnte sich zu friedlichem Verhalten bekehren. Der durchschlagende Pazifismus in Großbritnannien jener Jahre zwang auch Churchill zu versöhnlichen Tönen. Der „Kriegstreiber“, als den man ihn verunglimpfte, musste diesem Eindruck entgegentreten, zumal er vor Deutschland und seiner Kultur immer größten Respekt hatte, unbeschadet der Erkenntnis, die er in seinem Essay über Wilhelm II. formuliert hatte. Als bestes Beispiel dafür gilt sein Aufsehen erregender Aufsatz in dem Londoner Monatsmagazin „Strand“ vom Oktober 1935, „The Truth About Hitler“, „Die Wahrheit über Hitler“. Er beschreibt darin den Diktator als eine „mystery“, ein Geheimnis, aber doch auch als den Mann, „welcher der großen germanischen Nation ihre Ehre und ihren Seelenfrieden zurückgeschenkt und sie sicher, hilfsbereit und stark in den Kreis der europäischen Familie zurück geführt hat.“ In einer Prognose von ihm eigener Bildkraft schildert er, wie unentschieden die Zeitgeschichte vor dem deutschen Diktator stehe: „Die Zukunft wird entscheiden, ob 7 Hitler als Monster oder als Held in die Geschichte eingehen kann. Davon wird abhängen, ob er in der Walhalla neben Perikles, Augustus und Washington stehen wird oder im Inferno der Verachtenswürdigkeit, neben Attila und Tamerlan. Es mag genügen, festzustellen, dass im Augenblick beide Möglichkeiten offen stehen.“ Dabei begann er längst vor der Wiederaufrüstung Deutschlands zu warnen, aber suchte gleichzeitig nach Gründen für leisen Optimismus gegenüber den deutschen Vorgängen. Den trägt er zum letzten Mal in einer Kolumne für den Londoner „Evening Standard“ vor, vom 17. September 1937, unter der Überschrift „Friendship with Germany“. Ich lese Ihnen daraus einen Absatz vor, in dem sie kaum Churchill vermuten würden, so sehr widerspricht dieses Zitat dem gängigen Klischee über ihn, den Warner der 30er Jahre; auch in britischen Biographien über Churchill findet man es kaum: „Man mag Hitlers System nicht mögen und dennoch seine patriotische Leistung bewundern. Wenn unser Land einmal geschlagen wäre, hoffe ich doch, wir würden einen ähnlich unbezwingbaren Champion finden, der unseren Mut wieder aufrichten und uns zurück auf den uns zustehenden Platz unter den Nationen führen würde.“ Churchill hat nie Sätze wie diese widerrufen. Im Gegenteil. Noch im ersten Band seiner Memoiren zum Zweiten Weltkrieg, 1948 8 erschienen, resümiert er: „Ich hatte damals keine nationalen Vorurteile gegenüber Hitler, ich wusste nichts von seiner Doktrin, seinem Herkommen, nichts von seinem Charakter. Ich bewundere Menschen, die ihr Land in der Stunde seiner Niederlage hoch halten, auch wenn ich selber auf der gegnerischen Seite stehe. Es war sein gutes Recht, ein deutscher Patriot zu sein, wenn er es wünschte. Ich suchte immer nach Freundschaft zwischen England, Frankreich und Deutschland.“ In diesen Zeilen begegnet uns einer der ausgeprägtesten Charakterzüge Churchills: Der Mut zu absoluter politischer Unkorrektheit. Auf die Frage, was wir von Churchill lernen könnten, nenne ich diese Attitüde gerne an erster Stelle – obwohl er sie oft gegen seine eigenen Interessen praktizierte. Intrigen waren nicht Churchills Metier, er konnte sich nicht verstellen, er kämpfte immer mit offenem Visier. Die vielen Metamorphosen in seiner Vita hätte er mit Montaignes berühmten Satz parieren können: „Gewiss, ich widerspreche mir zuweilen, aber der Wahrheit widerspreche ich nie.“ Er pflegte politisch auszuteilen, mit scharfer Zunge und bildmächtiger Sprache, auch immer wieder gegen die eigene Partei, und war danach naiv genug zu glauben, es sei nun alles überstanden und man könne getrost zum politischen Geschäft zurückkehren, ohne Wunden, ohne Narben. Zweimal hat er die Partei gewechselt, 1904 von den Konservativen zu den Liberalen, und 1924 zurück zu den 9 Konservativen. Das Schiff verließ die sinkenden Ratten. . . Solche Sprünge im Lebenslauf eines Politikers sind heute unvorstellbar und waren auch damals nur möglich, weil niemand auf die Urgewalt Churchill, seinen Einsatz und seine Energie im Umsetzen der jeweiligen Agenda glaubte verzichten zu können. Aber das Misstrauen, die Vorbehalte gegenüber ihm, dem Renegaten, blieben. Vergessen Sie nicht, meine Damen und Herren, welche sarkastischen Kommentare den neuen Premierminister am 10. Mai 1940 in seinem Amt begrüßten. „Er mag zwar zugegebenermaßen der Mann mit Energie und Tatkraft sein,“ schreibt John Colville, den Churchill als beamteten Privatsekretär von Neville Chamberlain übernommen hatte, in seinem Tagebuch, „und er mag auch in der Lage sein, unsere ächzende Kriegsmaschinerie wieder in Schwung zu bringen, aber ein gefährliches Risiko bleibt er doch. Jedermann ist verzweifelt über die Aussichten, die sich eröffnen.“ Am gleichen Tag notierte er sich, was Unterstaatssekretär Rab Butler im Außenministerium meinte – „die gute alte Tradition in der englischen Politik sei zugunsten des größten politischen Abenteurers der Neuzeit aufgegeben worden.“ Man habe sich „feige einem amerikanischen Mischling übergeben, dessen Hauptanhänger ebenso untauglich und schwatzhaft seien wie er selber.“ 10 Churchills Mutter Jennie, Sie werden sich erinnern, war Amerikanerin. Man schaut heute mit Vorliebe auf den Churchill von 1940, der damals seine historische Größe erreichte. Aber er war vor 1939 ein Außenseiter der britischen Politik, bewundert wegen seiner Brillanz, gemieden wegen seiner Egozentrik, befremdet wegen seiner politischen Unkorrektheit, So irrte er, als er glaubte, seine Partei, die 1935 mit großer Mehrheit an die Macht zurückgekehrt war, werde ihm alle kritischen Breitseiten verzeihen und ihn wie den verlorenen Sohn wieder bei sich aufnehmen. Stanley Baldwin, der Premierminister, unter dem Churchill bereits von 1924-1929 als Finanzminister gedient hatte, dachte garnicht daran. Einem Mitarbeiter vertraute er: „Eines Tages werde ich ein paar beiläufige Bemerkungen über Winston fallen lassen, keine Rede, keine Rhetorik, nur ein paar Worte. Ich habe sie alle beisammen. Ich werde sagen, dass bei Winston, als er geboren wurde, sich lauter gute Feen auf seine Krippe niederließen, mit Gaben wie Phantasie, Eloquenz, Fleiß, Fähigkeit, aber dass sich dann eine weitere Fee einfand, die verkündete: ‚Kein Mensch hat das Recht auf so viele Talente’, worauf sie ihn hochhob und so durchschüttelte, dass ihm bei allen seinen Gaben Urteilskraft und Weisheit abhanden kamen. Das ist es, warum wir, während wir ihm im Unterhaus mit Vergnügen zuhören, seinen Rat nicht annehmen.“ Churchill zahlte es dem Premierminister auf seine 11 Weise heim. Auf die hypothetische Frage, was geschehen würde, wenn Baldwin im Amt stürbe, knurrte er während einer Nachtsitzung des Unterhauses hörbar vor sich hin: „Einbalsamieren, begraben, verbrennen. Nur kein Risiko eingehen!“ Wäre Churchill im Alter von 65 Jahren gestorben, hätte sein Land ihn als einen Gescheiterten der britischen Politik angesehen; im Ausland hätte man seiner kaum gedacht. Bis zu der Zeit, in der man üblicherweise an den Lebensabend denkt, hatte Churchill trotz seiner abenteuerlichen Laufbahn wenig von politischer Konsequenz erreicht, wurde mit keinem Weltbild identifiziert, außer dem des (verblassenden) Empire, und fühlte sich in keiner Partei richtig zuhause. Er war ein Gefolgsmann seines eigenen Sterns, auch ein Schriftsteller von Gnaden. Aber außer im Kreise seiner engsten Freunde galt er nie als populär. Die Außenwelt tat ihn mit zwei Attributen ab: hochbegabt, aber unzuverlässig. Was brachte die Wende? Bis zu Hitlers Einmarsch in Prag am 15. März 1939 klangen Churchills Warnungen, in literarisch geschliffenen Satzperioden vorgetragen, oft schrill und überzogen. Aber mit dem Bruch des Münchner Abkommens vom September 1938 durch Deutschland kam der Umschwung in der öffentlichen Meinung: Alles, was den Appeasement-hörigen Menschen an Churchill auf die Nerven gegangen war, schlug 12 jetzt zu seinem Vorteil aus, er war der einzige, dem man zutraute, dem Eroberungsdrang Hitlers in den Weg zu treten. Chamberlain, noch eben gefeiert ob der Einigung in München, wurde beiseitegschoben wie das wertlose Papier – „Peace in our time!“ –, das er nach Hause gebracht hatte. Churchills Handicap, seine Bereitschaft zum Krieg, wurde plötzlich sein größtes Kapital. Dabei hing Englands Schicksal, wie wir wissen, am seidenen Faden. Ohne den endlichen Kriegseintritt Amerikas im Dezember 1941 hätte die Insel die Partie gegen Hitler verloren. Doch die 18 Monate, vom Mai 1940 bis Ende 1941, in denen Großbritannien allein der braunen Flut entgegentrat, begründeten Churchills Ruhm für alle Zeiten. Ich höre es oft sagen, meine Damen und Herren: so einen wie Churchill, entschlossen, kampfbereit, trotz schlechter Gewinnchancen unbeugsam – den brauchten wir auch heute wieder, um der politischen Führung das Mittelmaß auszutreiben. Ich kann nur mit dem geflügelten englischen Wort antworten: „Beware what you wish for“ – mögen die Götter dir nicht deine Wünsche erfüllen. Denn die Historiker, auch in England, sind sich längst einig: zu einem Churchill gehörte ein Hitler, die Größe des Staatsmannes traf auf die Größe der Verruchtheit, Gefahr und Gefährdung stimulierten Churchill zum Äußersten seiner Kräfte, das Maß des Bösen wurde zum Maß seiner eigenen Größe. Wollen wir eine solche Paarung erneut? 13 Vielleicht ist die Frage falsch gestellt, weil sie uns verleiten könnte, Churchill und seine Ära ad acta zu legen mit dem Argument, das sei ein einmaliges Kapitel gewesen, passé, zu lernen sei da nichts mehr. Irrtum. Die Art, in der Churchill seine Aufgabe anging, ist auch für uns Heutige der Nachahmung wert. Führung jeder Couleur, ob in der Politik, im Untertnehmertum oder wo auch immer kann sich an Churchill noch immer ein Beispiel nehmen. Da ist einmal seine Eloquenz. Wer sagt, dass politische Sprache so abgegriffen daher kommen muss wie heute oft? Auch in Churchills Zeit war öffentliches Reden längst von Verflachung bedroht – nicht bei ihm. Seine Ansprachen im Zweiten Weltkrieg wirkten wie ein Tonikum für die Briten und die Menschen in den besetzten Gebieten Europas. Die schwedische Akademie, die Churchill 1953 den Nobelpreis für Literatur verlieh, ehrte ihn in der Preisurkunde neben seiner „Meisterschaft historischer und biographischer Darstellungen“ ausdrücklich „für seine brillante Redekunst in der Verteidigung hoher menschlicher Werte.“ Von Churchill hatte der amerikanische CBS-Korrespondent Ed Murrow einst geschrieben, „er mobilisierte die englische Sprache und schickte sie in die Schlacht“. Aber es braucht nicht erst einen Krieg, um den politischen Führungen von heute zu empfehlen, die Kunst der Rede neu zu entdecken, wie ein lange verschüttetes 14 Instrument von Leadership. Kommunikation, meine Damen und Herren, beginnt mit der Pflege der Sprache. Vorbildich war auch der schier physische Einsatz, mit dem sich Churchill in die Bresche warf. Seit seiner Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg wusste er um die eingebaute Trägheit großer Apparate und nahm sich vor, diese als Premierminister aufzuscheuchen. Sein Mittel waren hunderte von schriftlichen Direktiven, Bitten und Forderungen, die er über das Kabinett und die Beamtenschaft streute mit der unmissverständlichen Erwartung, man möge ihm in kürzestmöglicher Zeit mit triftigen Erklärungen antworten. Diese Direktiven versah er mit roten Aufklebern mit dem Titel „Action This Day“ – Handeln noch an diesem Tag. Anders gesagt: sofort. Die Wirkung war dramatisch, es erhöhte den Pulsschlag des gesamten Regierungsapparats, wie Whitehall es noch nie erlebt hatte. Respektable Beamte gingen nur noch im Laufschritt durch die Korridore, erinnerte sich John Colville später. Der Apparat surrte und schnurrte, ob bei großen oder kleinen Anfragen des Premiers. Churchill kannte keine Pause, konzentrierte Arbeit war sein Elixier. Dass Leute ein paar Tage Ferien nahmen, mitten im Krieg, wollte er partout nicht verstehen. „Ich wünsche Euch ein geschäftiges Weihnachen und ein hektisches Neujahr“: mit dieser Botschaft beglückte er zur Jahreswende 1940/41 seine 15 Mitarbeiter; die hatten Mühe, mit diesem Workaholic Schritt zu halten. Als Mann in den späten 60er Jahren des Lebens hielt Churchill fünf Jahre lang eine Arbeitswoche von 90 Stunden durch, überlebte Herzanfälle und Lungenentzündungen. Es hätte einen Jüngeren aus dem Gleis geworfen. Hinzu kam seine rastlose Reisetätigkeit, ein Mittel, das britische Gewicht im diplomatischen Spiel mit Moskau und Washington zu betonen. Allein in den ersten vier Kriegsjahren absolvierte Churchill 180 000 Kilometer, was sich zu 33 Tagen auf See und 14 Tagen in der Luft addierte. Man sollte sich solche Daten plastisch vor Augern führen, zum besseren Verständnis von Geschichte. Ich nehme dafür als Beispiel, was sich Lord Moran, Churchills Leibarzt, in seinem Tagebuch notierte, über den Aufbruch im Januar 1943 zur Gipfelkonferenz mit Franklin D. Roosevelt in Casablanca: „Der Flugplatz bei Oxford war winterlich, feucht und trüb (. . .) Der PM ist voller Lebensfreude, obwohl er eine schlechte Nacht hinter sich hat. Im Heck des Bombers waren zwei Matratzen nebeneinander ausgelegt worden, eine für den PM und eine für mich. Der Rest der Gruppe schlief in ihren Stühlen. (. . .) Ich schoss aus meinem Schlaf hoch und entdeckte, wie der Premier auf Knien versuchte, den Luftzug mit einer Decke an der Seite des Flugzeuges zu stoppen. Er zitterte vor Kälte: wir flogen immerhin mitten im Winter auf über 7 000 Fuß in einer 16 ungeheizten Maschine. Auch ich stand auf und wir kämpften beide ohne viel Erfolg gegen die kalte Luft. Der Premierminister ist bei dieser Art von Reisen im Nachteil, denn er trägt nachts nie etwas anderes als ein seidenes Hemd. Auf Händen und Knien rutschend gab er eine seltsame Figur ab, mit seinem großen, entblößten weißen Hinterteil.“ Lassen wir einmal den Skandal beiseite, den der Arzt ein Jahr nach Churchills Tod mit der Veröffentlichung seines Tagebuchs erzeugte – Geschichte lebt auch von solchen Details, die in gewichtigen Darstellungen leider oft übergangen werden. Dabei geben sie ein sprechendes Bild ab von den tatsächlichen Lebensumständen so genannter großer Zeiten, und was Führerschaft im Krieg auch bedeuten konnte. Wer heute in ein Flugzeug steigt, kann nur erschrecken bei der Vorstellung, unter welchen Strapazen sich ein Staatsmann wie Churchill dem Abenteuer Langstreckenflug vor siebzig Jahren unterzog. Er war ein Mann der Kontraste, er liebte den Luxus, aber akzeptierte gleichzeitig die Härte der Umstände mit grimmiger Entschlossenheit, klaglos, stoisch. Aber was, meine Damen und Herren, ist Leadership anders als dass die Spitze ein Vorbild abgibt für das, was man von anderen erwartet und verlangt? In dieser Hinsicht war Churchill das absolute Muster: Er schonte sich nie, ebensowenig, wie er seine 17 Untergebenen und seine Stäbe schonte. Douglas MacArthur, der große amerikanische General, schrieb, man hätte Churchill die höchste militärische Auszeichnung geben sollen, das Victoria Cross: „Flüge von 10 000 Meilen Länge, ins Ausland durch zum Teil feindliches Gebiet, mag die Pflicht von jungen Piloten gewesen sein, aber bei einem Staatsmann mit der Sorge um die Welt auf seinen Schultern ist es ein Akt von inspirierender Tapferkeit und von Mut.“ Ich habe Ihnen bisher Churchill in den vielfältigen Facetten seiner mittleren und späteren Laufbahn vorgestellt, den politisch unkorrekten Politiker mit dem Mut zum Risiko, die verschmähte Kassandra, den Mann, der bei keiner Partei zu Hause war außer bei seinem Stern, seiner „Destiny“, wie er es nannnte, und wie der Zweite Weltkrieg ihm erlaubte, mit der Magie seiner Persönlichkeit den Widerstand gegen Hitler-Deutschland zu mobilisieren. Aber ausgerechnet auf dem Höhepunkt seines Ruhms, im Augenblick des Sieges, schickten ihn die Briten in die Wüste – er verlor die Unterhauswahl vom Juli 1945 und fand sich erneut als von seinem eigenen Land verschmäht wieder. Doch mit dem Verlust der Downing Street erlebte er einen Anstieg seines Ruhm im Ausland, er wurde zur politischen Celebrity der Nachkriegszeit, New York gab ihm eine Confetti-Parade, man drängte sich um Churchill als Redner und historischen Visionär. In Fulton, Missouri, gab er im März 1946 das maßgebliche 18 Stichwort zum Eisernen Vorhang, und in Zürich im September des gleichen Jahres das zu Europa. Sie kennen die Gedenktafel in Ihrer Unversität: WINSTON CHURCHILL HIELT IN DIESER AULA AM 19. SEPTEMBER 1946 SEINE ZÜRCHER REDE AN DIE AKADEMISCHE JUGEND THEREFORE I SAY TO YOU LET EUROPE ARISE. Der britische Gast überraschte, wie zuvor in Fulton, mit kühnen Perspektiven: „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen.“ Wie ein guter Schauspieler kostete Churchill die Dramatik dessen, was er als seine Kernbotschaft bereithielt, aus: „Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle Führerrolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland.“ In Zürich betrieb Churchill mit seinem rhetorischen Arsenal eine zweite Mobilmachung, für eine zweite Schlacht – um die Gestaltung der europäischen Zukunft. War es aber wirklich der 19 Startschuss zu den „Vereinigten Staaten von Europa“? Lange Zeit über hat man Churchill als Baumeister der europäischen Einigung gefeiert, und in der Tat kann ihm niemand den Verdienst streitig machen, in desolater Zeit in Zürich mächtige Zukunftsimpulse gegeben zu haben, die für das darnieder liegende Europa von unschätzbarem Wert waren. Aber wir kennen unsere britischen Pappenheimer heute etwa besser und wissen, was Churchill damals bei all seiner europäischen Begeisterung wirklich meinte: Er sprach mehr wie der Taufpate eines geeinten Europa, nicht wie ein Teilnehmer an der Struktur, die er ins Leben rufen wollte und die nach ihm entstand. Das wurde spätestens 1951, als er in die Downing Street zurückgekehrt war, als das große Missverständnis seiner Haltung zu Europa erkannt, oder besser: durchschaut. Als Konrad Adenauer dem neu gewählten Premierminister im Dezember 1951 einen ersten Besuch abstattete, entspann sich zwischen beiden unter anderem folgender Dialog. Churchill zum Bundeskanzler: „Sie können beruhigt sein, Großbritannien wird immer an der Seite Europas stehen.“ Darauf Adenauer: „Herr Premierminister, da bin ich ein wenig enttäuscht, England ist ein Teil Europas.“ Achtzehn Monate später, im Mai 1953, reichte Churchill dem Kanzler bei dessen zweitem Besuch in London so etwas wie eine 20 Erläuterung seines Denkens nach. Auf einer Tischkarte skizzierte er das Bild von drei sich überschneidenden Kreisen: das Commonwealth, die USA und das vereinte Europa. Im Schnittpunkt der Kreise machte er einen Punkt: Großbritannien, Teilnehmer in allen drei Konstellationen, nicht nur exklusiv in einer. Nie würden er oder ein anderer britischer Premierminister, wie sich herausstellen sollte, jemals Englands Beziehungen zu Amerika oder zum Commonwealth einem supranationalen Europa zuliebe aufgeben. England hatte eine Rolle auch in Europa zu spielen, durchaus, aber es beharrte auf seiner freien Hand, wie immer im Lauf seiner Geschichte. Ein französisches Sprichwort sagt: Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben sie sich gleich. Die Beziehungen Englands zu Europa haben bis heute etwas von einem „Ja, aber“ an sich. Denken Sie bei dem Begriff „Opt-Out“ an die Geographie: Eine Insel ist das Opt-out zum Kontinent – das ist meine Metapher zum Verstehen Großbritanniens. „Wir haben unsere Geschichte nicht in Europa vergraben“, sagte unlängst im Unterhaus Liam Fox, Verteidigungsminister in David Camerons erster Amtszeit. So spricht das insulare Opt-Out aus dem Fundus seiner historischen Erfahrung. Aber lassen Sie mich von Churchill reden, meinem Kronzeugen, und von belegbare Äußerungen des großen Mannes. Dann 21 werden Sie mir vielleicht Recht geben, dass im Grunde Churchill seiner Überzeugung zum britisch-europäischen Verhältnis immer treu geblieben ist, unbeschadet der großen Fanfare in Zürich. Bereits im Februar 1930 hatte er in der damals viel gelesenen amerikanischen Zeitschrift „Saturday Evening Post” einen Aufsatz unter der bezeichnenden Überschrift „Die Vereinigten Staaten von Europa“ veröffentlicht – ein Terminus, den er in Zürich wieder aufgreifen würde. Großbritannien werde nie zu diesen Vereinigten Staaten gehören, schrieb er, „denn wir haben unsere eigenen Träume und Aufgaben. Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu; wir sind verbunden, aber nicht umfasst; wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht absorbiert; wir gehören zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen.“ Die Passage ist es wegen ihrer Bedeutung für Churchills politische Entwicklung wert, im englischen Original zitiert zu werden: „We are with Europe but not of it. We are linked but not comprised; we are interested and associated, but not absorbed. We belong to no single continent, but to all.” Diese Auffassung spielt bis heute in die komplexe Haltung der Insel zum europäischen Kontinent hinein. Am 1. März 1955 wandte sich der 80Jährige zum letzten Mal an das Unterhaus, dem er seit 1901, mit einer kurzen Unterbrechung von 1922-1924, angehört hatte. Die Abgeordneten waren bewegt, als er von der Hoffnung sprach, dass die „grauenhafte Epoche, in 22 der wir leben müssen“, das nukleare Wettrüsten, eines Tages überwunden werden könnte. Jeder von uns Heutigen, die wir alle an den schier unlösbaren Herausforderungen der Gegenwart leiden, mag sich an Churchills Schlussworten aufrichten: „Inzwischen dies: Weicht niemals zurück, ermüdet niemals, verzweifelt niemals.“ Ein klassisches Vermächtnis: „Meanwhile, never flinch, never weary, never despair.“ Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit
© Copyright 2024 ExpyDoc