«Der unbekannte Churchill – was können wir von ihm lernen?»

1 «Der unbekannte Churchill –
was können wir von ihm lernen?»
Rede von Thomas Kielinger, OBE, London Korrespondent «Die
Welt» anlässlich der ZHK Generalversammlung vom 2. Juli 2015
Es gilt das gesprochene Wort
Meine Damen und Herren!
In Zürch erscheinen und vor einem so illustren Publikum über
Winston Churchill sprechen zu dürfen, ist eine große Ehre, für
die ich gar nicht genug danken kann. Dabei weiß ich, dass ich mir
meine Sporen erst noch verdienen muss, denn der Vorschuss an
freundlichen Begrüßungsworten ist doch nur eine Hypothek, die
ich jetzt abzahlen muss. Hoffentlich reicht mein Angespartes. . .
Bei Zürich denke ich natürlich als Allererstes an Winston
Churchills Bahn brechende Europa-Rede, die er im September
1946 an der hiesigen Universität hielt. Darauf komme ich noch zu
sprechen. Aber in Zürch hat auch Jahre lang ein PhilosophieProfessor von mir unterrichtet, Hermann Lübbe, und er gibt mir
das willkommene Stichwort zum Einstieg in meine Gedanken
heute. Lübbe prägte vor einigen Jahren das Wort von der
2 „Gegenwartsschrumpfung“, womit er den Verschleiß alles Neuen
meint oder, anders ausgedrückt, die Beschleunigung des
Veraltens. „Gegenwartsschrumpfung“ erfasst auch die
Zeitgeschichte: die Zeitspanne, über die wir verlässliche Urteile
anstellen können, wird von Mal zu Mal kürzer, bedrängt von
Ereignissen, die niemand vorhersah, die Gegenwart „schrumpft“
also, wird immer unberechenbarer.
Wer ahnte vor Beginn des Jahres 2014 etwas von der Krim- und
Ukraine-Krise, wer hatte von der Bedrohung durch ein
islamistisches Kaliphat gehört, das seine Tentakeln nach immer
neuen Opfern ausstreckt, zuletzt in Tunesien? Wer sah die
Springflut der Flüchtenden, die heute aus Afrika und dem Nahen
Osten an Europa anbranden, während alle Augen auf die Lösung
der Euro-Krise und Griechenland gerichtet waren?
In dieser Zeit einer von unberechenbaren Einbrüchen bedrängten
Agenda geht der Blick zurück auf eine Figur wie Winston
Churchill, und wie er sich verhielt innerhalb seiner Zeit und ihren
Unwägbarkeiten. Zwar war auch Hitler außerhalb Deutschland
zunächst kaum zur Kenntnis genommen worden, aber wenigstens
konnte man nach dem Versailler Vertrag ahnen, wohin der Hase
lief, salopp gesprochen. Hören Sie einen der schärfsten
Versailles-Kritiker, den Ökonomen John Maynard Keynes, der
als Leiter der Delegation des britischen Finanzministeriums an
3 jener Friedenskonferenz teilnahm. Schon 1919 veröffentlichte er
seine berühmte Warnung, „Die ökonomischen Folgen des
Friedens“, in der er die Rachementalität der Alliierten gegenüber
Deutschland frontal anging, mit prophetischem Ausblick: „Wenn
der europäische Bürgerkrieg damit enden sollte, dass (die
westlichen Mächte) ihren momentanen Sieg ausnutzen, um das
danieder liegende Deutschland zu zerstören, dann laden sie sich
ihre eigene Zerstörung auf.“
Fünf Jahre später, 1924, lesen wir in einem Aufsatz Churchills
unter dem Titel: „Sollen wir alle gemeinsam Selbstmord
begehen?“ diese Passage: „Von einem Ende Deutschlands zum
anderen vereint intensiver Hass auf Frankreich die ganze
Bevölkerung. Große Kontingente deutscher Jugend kommen Jahr
für Jahr ins militärtaugliche Alter, inspiriert von den wildesten
Gefühlen, und die Seele Deutschlands schwelgt in Träumen eines
Befreiungskrieges oder der Rache. Solche Ideen sind im Moment
nur zurückgehalten durch das physische Unvermögen, sie
umzusetzen. Lasst uns auch nicht einen Augenblick lang
glauben,“ so schließt er, „die Gefahr einer neuen Explosion in
Europa sei vorbei.“
Churchills Geschichtssinn war einmalig, er überragte damit die
Durchschnittsbefähigung der britischen politischen Klasse seiner
Zeit klafterhoch, und so ließ er sich, was Deutschland anging, nur
4 selten von Unvorhersehbarkeiten überraschen. Als die NSDAP in
der Reichstagswahl vom September 1930 auf 18,3 Prozent der
Stimmen hochschnellte, war er alarmiert genug, um in der
Deutschen Botschaft in London um ein Gespräch mit dem
Geschäftsträger Prinz Otto von Bismarck, einem Enkel des
Großen Kanzlers, nachzusuchen, dem er seine Sorgen über
Hitlers Partei vortrug. Laut dem Gesprächsprotokoll, das von
Bismarck anschließend an die Berliner Zentrale schickte, war
Churchill „überzeugt, dass Hitler oder seine Gefolgsleute bei
erster Gelegenheit zu den Waffen greifen würden“. Seit dieser
Zeit hatte Churchill die deutschen Entwicklungen gleichsam auf
seinem Radarschirm. Gegenwartsschrumpfung, den immer
kleiner werdenden Zeitraum, über den wir sichere Urteile fällen
können, kannte er nicht. Er sah vielmehr weit voraus.
Schon nach seiner Rückkehr von einer Reise zu den süddeutschen
Schlachtfeldern des Herzogs von Marlborough, seinem großen
Vorfahr, über den er im Verlaufe der 30er Jahre eine vierbändige
Biografie schreiben wird, greift Churchill im Oktober 1932 vor
dem Unterhaus Passagen aus dem genannten Aufsatz von 1924,
„Sollen wir alle gemeinsam Selbstmord begehen?“ auf: „Diese
Scharen stämmiger teutonischer Jugend, wie sie durch die
Straßen Deutschlands marschieren, mit der Glut des Verlangens
in ihren Augen, für das Vaterland zu leiden – glauben Sie mir, sie
werden, wenn sie erst einmal die Waffen haben, als Nächstes die
5 Rückkehr der verlorenen Territorien verlangen.“ Seine Analysen
stellte er immer wieder in größeren historischen Rahmen. So
lesen wir 1930 in seinem Essay über Wilhelm II., „The ExKaiser“: „Auf den Deutschen ruht eine immense Verantwortung
für ihre Unterwürfigkeit unter den barbarischen Gedanken der
Autokratie. Dies ist die Hauptbeschwerde der Geschichte gegen
sie – dass sie trotz ihrer Intelligenz und ihres Mutes die Macht
anbeten und sich an der Nase herumführen lassen.“
Nun, Sie werden einwenden, kluge Analysen über gegenwärtige
und kommende Krisen hören wir auch heute beständig, es
herrscht sogar ein Überangebot an Gehirnschmalz, bei einem
Unterangebot an Tatkraft und Entschlossenheit, vielleicht liegt
darin sogar das größte Defizit der heutigen westlichen
Verantwortungsträger. Aber der Churchill der 30er Jahre hatte
kein öffentliches Amt, er konnte nichts entscheiden, ihm blieb
nur die Rolle der Kassandra, mit der er sich gleichsam warm lief
für den Ernstfall. Doch schauen wir uns die Kassandra Winston
Churchill einmal genauer an – so eindeutig festgelegt auf die
Warnung vor einem neuen Krieg war er durchaus nicht. Ich war
überrascht bei den Forschungen zu meiner Biographie, wie wenig
eindimensional Churchills Denken in Wirklichkeit war. Er ließ
sich oft nicht leicht festlegen.
6 Viel Hin und Her verraten zum Beispiel seine Meinungen in den
30er Jahren – zu Mussolini, zu Spanien, zu Russland. Das
Jahrzehnt war in reißendem Fluss, eine Herausforderung auch für
sein Urteilsvermögen. Und das überraschenderweise gerade
gegenüber dem Phänomen Adolf Hitler. Von Zeit zu Zeit öffnete
sich Churchill sogar der Hoffnung, es könnte noch alles gut
gehen mit Deutschland und der „Führer“, einmal saturiert, könnte
sich zu friedlichem Verhalten bekehren. Der durchschlagende
Pazifismus in Großbritnannien jener Jahre zwang auch Churchill
zu versöhnlichen Tönen. Der „Kriegstreiber“, als den man ihn
verunglimpfte, musste diesem Eindruck entgegentreten, zumal er
vor Deutschland und seiner Kultur immer größten Respekt hatte,
unbeschadet der Erkenntnis, die er in seinem Essay über Wilhelm
II. formuliert hatte.
Als bestes Beispiel dafür gilt sein Aufsehen erregender Aufsatz in
dem Londoner Monatsmagazin „Strand“ vom Oktober 1935,
„The Truth About Hitler“, „Die Wahrheit über Hitler“. Er
beschreibt darin den Diktator als eine „mystery“, ein Geheimnis,
aber doch auch als den Mann, „welcher der großen germanischen
Nation ihre Ehre und ihren Seelenfrieden zurückgeschenkt und
sie sicher, hilfsbereit und stark in den Kreis der europäischen
Familie zurück geführt hat.“ In einer Prognose von ihm eigener
Bildkraft schildert er, wie unentschieden die Zeitgeschichte vor
dem deutschen Diktator stehe: „Die Zukunft wird entscheiden, ob
7 Hitler als Monster oder als Held in die Geschichte eingehen kann.
Davon wird abhängen, ob er in der Walhalla neben Perikles,
Augustus und Washington stehen wird oder im Inferno der
Verachtenswürdigkeit, neben Attila und Tamerlan. Es mag
genügen, festzustellen, dass im Augenblick beide Möglichkeiten
offen stehen.“
Dabei begann er längst vor der Wiederaufrüstung Deutschlands
zu warnen, aber suchte gleichzeitig nach Gründen für leisen
Optimismus gegenüber den deutschen Vorgängen. Den trägt er
zum letzten Mal in einer Kolumne für den Londoner „Evening
Standard“ vor, vom 17. September 1937, unter der Überschrift
„Friendship with Germany“. Ich lese Ihnen daraus einen Absatz
vor, in dem sie kaum Churchill vermuten würden, so sehr
widerspricht dieses Zitat dem gängigen Klischee über ihn, den
Warner der 30er Jahre; auch in britischen Biographien über
Churchill findet man es kaum: „Man mag Hitlers System nicht
mögen und dennoch seine patriotische Leistung bewundern.
Wenn unser Land einmal geschlagen wäre, hoffe ich doch, wir
würden einen ähnlich unbezwingbaren Champion finden, der
unseren Mut wieder aufrichten und uns zurück auf den uns
zustehenden Platz unter den Nationen führen würde.“
Churchill hat nie Sätze wie diese widerrufen. Im Gegenteil. Noch
im ersten Band seiner Memoiren zum Zweiten Weltkrieg, 1948
8 erschienen, resümiert er: „Ich hatte damals keine nationalen
Vorurteile gegenüber Hitler, ich wusste nichts von seiner
Doktrin, seinem Herkommen, nichts von seinem Charakter. Ich
bewundere Menschen, die ihr Land in der Stunde seiner
Niederlage hoch halten, auch wenn ich selber auf der
gegnerischen Seite stehe. Es war sein gutes Recht, ein deutscher
Patriot zu sein, wenn er es wünschte. Ich suchte immer nach
Freundschaft zwischen England, Frankreich und Deutschland.“
In diesen Zeilen begegnet uns einer der ausgeprägtesten
Charakterzüge Churchills: Der Mut zu absoluter politischer
Unkorrektheit. Auf die Frage, was wir von Churchill lernen
könnten, nenne ich diese Attitüde gerne an erster Stelle – obwohl
er sie oft gegen seine eigenen Interessen praktizierte. Intrigen
waren nicht Churchills Metier, er konnte sich nicht verstellen, er
kämpfte immer mit offenem Visier. Die vielen Metamorphosen in
seiner Vita hätte er mit Montaignes berühmten Satz parieren
können: „Gewiss, ich widerspreche mir zuweilen, aber der
Wahrheit widerspreche ich nie.“ Er pflegte politisch auszuteilen,
mit scharfer Zunge und bildmächtiger Sprache, auch immer
wieder gegen die eigene Partei, und war danach naiv genug zu
glauben, es sei nun alles überstanden und man könne getrost zum
politischen Geschäft zurückkehren, ohne Wunden, ohne Narben.
Zweimal hat er die Partei gewechselt, 1904 von den
Konservativen zu den Liberalen, und 1924 zurück zu den
9 Konservativen. Das Schiff verließ die sinkenden Ratten. . .
Solche Sprünge im Lebenslauf eines Politikers sind heute
unvorstellbar und waren auch damals nur möglich, weil niemand
auf die Urgewalt Churchill, seinen Einsatz und seine Energie im
Umsetzen der jeweiligen Agenda glaubte verzichten zu können.
Aber das Misstrauen, die Vorbehalte gegenüber ihm, dem
Renegaten, blieben.
Vergessen Sie nicht, meine Damen und Herren, welche
sarkastischen Kommentare den neuen Premierminister am 10.
Mai 1940 in seinem Amt begrüßten. „Er mag zwar
zugegebenermaßen der Mann mit Energie und Tatkraft sein,“
schreibt John Colville, den Churchill als beamteten Privatsekretär
von Neville Chamberlain übernommen hatte, in seinem
Tagebuch, „und er mag auch in der Lage sein, unsere ächzende
Kriegsmaschinerie wieder in Schwung zu bringen, aber ein
gefährliches Risiko bleibt er doch. Jedermann ist verzweifelt über
die Aussichten, die sich eröffnen.“ Am gleichen Tag notierte er
sich, was Unterstaatssekretär Rab Butler im Außenministerium
meinte – „die gute alte Tradition in der englischen Politik sei
zugunsten des größten politischen Abenteurers der Neuzeit
aufgegeben worden.“ Man habe sich „feige einem
amerikanischen Mischling übergeben, dessen Hauptanhänger
ebenso untauglich und schwatzhaft seien wie er selber.“
10 Churchills Mutter Jennie, Sie werden sich erinnern, war
Amerikanerin.
Man schaut heute mit Vorliebe auf den Churchill von 1940, der
damals seine historische Größe erreichte. Aber er war vor 1939
ein Außenseiter der britischen Politik, bewundert wegen seiner
Brillanz, gemieden wegen seiner Egozentrik, befremdet wegen
seiner politischen Unkorrektheit, So irrte er, als er glaubte, seine
Partei, die 1935 mit großer Mehrheit an die Macht zurückgekehrt
war, werde ihm alle kritischen Breitseiten verzeihen und ihn wie
den verlorenen Sohn wieder bei sich aufnehmen. Stanley
Baldwin, der Premierminister, unter dem Churchill bereits von
1924-1929 als Finanzminister gedient hatte, dachte garnicht
daran. Einem Mitarbeiter vertraute er: „Eines Tages werde ich ein
paar beiläufige Bemerkungen über Winston fallen lassen, keine
Rede, keine Rhetorik, nur ein paar Worte. Ich habe sie alle
beisammen. Ich werde sagen, dass bei Winston, als er geboren
wurde, sich lauter gute Feen auf seine Krippe niederließen, mit
Gaben wie Phantasie, Eloquenz, Fleiß, Fähigkeit, aber dass sich
dann eine weitere Fee einfand, die verkündete: ‚Kein Mensch hat
das Recht auf so viele Talente’, worauf sie ihn hochhob und so
durchschüttelte, dass ihm bei allen seinen Gaben Urteilskraft und
Weisheit abhanden kamen. Das ist es, warum wir, während wir
ihm im Unterhaus mit Vergnügen zuhören, seinen Rat nicht
annehmen.“ Churchill zahlte es dem Premierminister auf seine
11 Weise heim. Auf die hypothetische Frage, was geschehen würde,
wenn Baldwin im Amt stürbe, knurrte er während einer
Nachtsitzung des Unterhauses hörbar vor sich hin:
„Einbalsamieren, begraben, verbrennen. Nur kein Risiko
eingehen!“
Wäre Churchill im Alter von 65 Jahren gestorben, hätte sein Land
ihn als einen Gescheiterten der britischen Politik angesehen; im
Ausland hätte man seiner kaum gedacht. Bis zu der Zeit, in der
man üblicherweise an den Lebensabend denkt, hatte Churchill
trotz seiner abenteuerlichen Laufbahn wenig von politischer
Konsequenz erreicht, wurde mit keinem Weltbild identifiziert,
außer dem des (verblassenden) Empire, und fühlte sich in keiner
Partei richtig zuhause. Er war ein Gefolgsmann seines eigenen
Sterns, auch ein Schriftsteller von Gnaden. Aber außer im Kreise
seiner engsten Freunde galt er nie als populär. Die Außenwelt tat
ihn mit zwei Attributen ab: hochbegabt, aber unzuverlässig.
Was brachte die Wende? Bis zu Hitlers Einmarsch in Prag am 15.
März 1939 klangen Churchills Warnungen, in literarisch
geschliffenen Satzperioden vorgetragen, oft schrill und
überzogen. Aber mit dem Bruch des Münchner Abkommens vom
September 1938 durch Deutschland kam der Umschwung in der
öffentlichen Meinung: Alles, was den Appeasement-hörigen
Menschen an Churchill auf die Nerven gegangen war, schlug
12 jetzt zu seinem Vorteil aus, er war der einzige, dem man zutraute,
dem Eroberungsdrang Hitlers in den Weg zu treten. Chamberlain,
noch eben gefeiert ob der Einigung in München, wurde
beiseitegschoben wie das wertlose Papier – „Peace in our time!“
–, das er nach Hause gebracht hatte. Churchills Handicap, seine
Bereitschaft zum Krieg, wurde plötzlich sein größtes Kapital.
Dabei hing Englands Schicksal, wie wir wissen, am seidenen
Faden. Ohne den endlichen Kriegseintritt Amerikas im Dezember
1941 hätte die Insel die Partie gegen Hitler verloren. Doch die 18
Monate, vom Mai 1940 bis Ende 1941, in denen Großbritannien
allein der braunen Flut entgegentrat, begründeten Churchills
Ruhm für alle Zeiten. Ich höre es oft sagen, meine Damen und
Herren: so einen wie Churchill, entschlossen, kampfbereit, trotz
schlechter Gewinnchancen unbeugsam – den brauchten wir auch
heute wieder, um der politischen Führung das Mittelmaß
auszutreiben. Ich kann nur mit dem geflügelten englischen Wort
antworten: „Beware what you wish for“ – mögen die Götter dir
nicht deine Wünsche erfüllen. Denn die Historiker, auch in
England, sind sich längst einig: zu einem Churchill gehörte ein
Hitler, die Größe des Staatsmannes traf auf die Größe der
Verruchtheit, Gefahr und Gefährdung stimulierten Churchill zum
Äußersten seiner Kräfte, das Maß des Bösen wurde zum Maß
seiner eigenen Größe. Wollen wir eine solche Paarung erneut?
13 Vielleicht ist die Frage falsch gestellt, weil sie uns verleiten
könnte, Churchill und seine Ära ad acta zu legen mit dem
Argument, das sei ein einmaliges Kapitel gewesen, passé, zu
lernen sei da nichts mehr. Irrtum. Die Art, in der Churchill seine
Aufgabe anging, ist auch für uns Heutige der Nachahmung wert.
Führung jeder Couleur, ob in der Politik, im Untertnehmertum
oder wo auch immer kann sich an Churchill noch immer ein
Beispiel nehmen. Da ist einmal seine Eloquenz. Wer sagt, dass
politische Sprache so abgegriffen daher kommen muss wie heute
oft? Auch in Churchills Zeit war öffentliches Reden längst von
Verflachung bedroht – nicht bei ihm. Seine Ansprachen im
Zweiten Weltkrieg wirkten wie ein Tonikum für die Briten und
die Menschen in den besetzten Gebieten Europas. Die
schwedische Akademie, die Churchill 1953 den Nobelpreis für
Literatur verlieh, ehrte ihn in der Preisurkunde neben seiner
„Meisterschaft historischer und biographischer Darstellungen“
ausdrücklich „für seine brillante Redekunst in der Verteidigung
hoher menschlicher Werte.“
Von Churchill hatte der amerikanische CBS-Korrespondent Ed
Murrow einst geschrieben, „er mobilisierte die englische Sprache
und schickte sie in die Schlacht“. Aber es braucht nicht erst einen
Krieg, um den politischen Führungen von heute zu empfehlen,
die Kunst der Rede neu zu entdecken, wie ein lange verschüttetes
14 Instrument von Leadership. Kommunikation, meine Damen und
Herren, beginnt mit der Pflege der Sprache.
Vorbildich war auch der schier physische Einsatz, mit dem sich
Churchill in die Bresche warf. Seit seiner Erfahrung aus dem
Ersten Weltkrieg wusste er um die eingebaute Trägheit großer
Apparate und nahm sich vor, diese als Premierminister
aufzuscheuchen. Sein Mittel waren hunderte von schriftlichen
Direktiven, Bitten und Forderungen, die er über das Kabinett und
die Beamtenschaft streute mit der unmissverständlichen
Erwartung, man möge ihm in kürzestmöglicher Zeit mit triftigen
Erklärungen antworten. Diese Direktiven versah er mit roten
Aufklebern mit dem Titel „Action This Day“ – Handeln noch an
diesem Tag. Anders gesagt: sofort. Die Wirkung war dramatisch,
es erhöhte den Pulsschlag des gesamten Regierungsapparats, wie
Whitehall es noch nie erlebt hatte. Respektable Beamte gingen
nur noch im Laufschritt durch die Korridore, erinnerte sich John
Colville später. Der Apparat surrte und schnurrte, ob bei großen
oder kleinen Anfragen des Premiers.
Churchill kannte keine Pause, konzentrierte Arbeit war sein
Elixier. Dass Leute ein paar Tage Ferien nahmen, mitten im
Krieg, wollte er partout nicht verstehen. „Ich wünsche Euch ein
geschäftiges Weihnachen und ein hektisches Neujahr“: mit dieser
Botschaft beglückte er zur Jahreswende 1940/41 seine
15 Mitarbeiter; die hatten Mühe, mit diesem Workaholic Schritt zu
halten. Als Mann in den späten 60er Jahren des Lebens hielt
Churchill fünf Jahre lang eine Arbeitswoche von 90 Stunden
durch, überlebte Herzanfälle und Lungenentzündungen. Es hätte
einen Jüngeren aus dem Gleis geworfen. Hinzu kam seine
rastlose Reisetätigkeit, ein Mittel, das britische Gewicht im
diplomatischen Spiel mit Moskau und Washington zu betonen.
Allein in den ersten vier Kriegsjahren absolvierte Churchill 180
000 Kilometer, was sich zu 33 Tagen auf See und 14 Tagen in
der Luft addierte. Man sollte sich solche Daten plastisch vor
Augern führen, zum besseren Verständnis von Geschichte. Ich
nehme dafür als Beispiel, was sich Lord Moran, Churchills
Leibarzt, in seinem Tagebuch notierte, über den Aufbruch im
Januar 1943 zur Gipfelkonferenz mit Franklin D. Roosevelt in
Casablanca:
„Der Flugplatz bei Oxford war winterlich, feucht und trüb (. . .)
Der PM ist voller Lebensfreude, obwohl er eine schlechte Nacht
hinter sich hat. Im Heck des Bombers waren zwei Matratzen
nebeneinander ausgelegt worden, eine für den PM und eine für
mich. Der Rest der Gruppe schlief in ihren Stühlen. (. . .) Ich
schoss aus meinem Schlaf hoch und entdeckte, wie der Premier
auf Knien versuchte, den Luftzug mit einer Decke an der Seite
des Flugzeuges zu stoppen. Er zitterte vor Kälte: wir flogen
immerhin mitten im Winter auf über 7 000 Fuß in einer
16 ungeheizten Maschine. Auch ich stand auf und wir kämpften
beide ohne viel Erfolg gegen die kalte Luft. Der Premierminister
ist bei dieser Art von Reisen im Nachteil, denn er trägt nachts nie
etwas anderes als ein seidenes Hemd. Auf Händen und Knien
rutschend gab er eine seltsame Figur ab, mit seinem großen,
entblößten weißen Hinterteil.“
Lassen wir einmal den Skandal beiseite, den der Arzt ein Jahr
nach Churchills Tod mit der Veröffentlichung seines Tagebuchs
erzeugte – Geschichte lebt auch von solchen Details, die in
gewichtigen Darstellungen leider oft übergangen werden. Dabei
geben sie ein sprechendes Bild ab von den tatsächlichen
Lebensumständen so genannter großer Zeiten, und was
Führerschaft im Krieg auch bedeuten konnte. Wer heute in ein
Flugzeug steigt, kann nur erschrecken bei der Vorstellung, unter
welchen Strapazen sich ein Staatsmann wie Churchill dem
Abenteuer Langstreckenflug vor siebzig Jahren unterzog. Er war
ein Mann der Kontraste, er liebte den Luxus, aber akzeptierte
gleichzeitig die Härte der Umstände mit grimmiger
Entschlossenheit, klaglos, stoisch.
Aber was, meine Damen und Herren, ist Leadership anders als
dass die Spitze ein Vorbild abgibt für das, was man von anderen
erwartet und verlangt? In dieser Hinsicht war Churchill das
absolute Muster: Er schonte sich nie, ebensowenig, wie er seine
17 Untergebenen und seine Stäbe schonte. Douglas MacArthur, der
große amerikanische General, schrieb, man hätte Churchill die
höchste militärische Auszeichnung geben sollen, das Victoria
Cross: „Flüge von 10 000 Meilen Länge, ins Ausland durch zum
Teil feindliches Gebiet, mag die Pflicht von jungen Piloten
gewesen sein, aber bei einem Staatsmann mit der Sorge um die
Welt auf seinen Schultern ist es ein Akt von inspirierender
Tapferkeit und von Mut.“
Ich habe Ihnen bisher Churchill in den vielfältigen Facetten
seiner mittleren und späteren Laufbahn vorgestellt, den politisch
unkorrekten Politiker mit dem Mut zum Risiko, die verschmähte
Kassandra, den Mann, der bei keiner Partei zu Hause war außer
bei seinem Stern, seiner „Destiny“, wie er es nannnte, und wie
der Zweite Weltkrieg ihm erlaubte, mit der Magie seiner
Persönlichkeit den Widerstand gegen Hitler-Deutschland zu
mobilisieren. Aber ausgerechnet auf dem Höhepunkt seines
Ruhms, im Augenblick des Sieges, schickten ihn die Briten in die
Wüste – er verlor die Unterhauswahl vom Juli 1945 und fand sich
erneut als von seinem eigenen Land verschmäht wieder. Doch
mit dem Verlust der Downing Street erlebte er einen Anstieg
seines Ruhm im Ausland, er wurde zur politischen Celebrity der
Nachkriegszeit, New York gab ihm eine Confetti-Parade, man
drängte sich um Churchill als Redner und historischen Visionär.
In Fulton, Missouri, gab er im März 1946 das maßgebliche
18 Stichwort zum Eisernen Vorhang, und in Zürich im September
des gleichen Jahres das zu Europa.
Sie kennen die Gedenktafel in Ihrer Unversität: WINSTON
CHURCHILL HIELT IN DIESER AULA AM 19. SEPTEMBER
1946 SEINE ZÜRCHER REDE AN DIE AKADEMISCHE
JUGEND THEREFORE I SAY TO YOU LET EUROPE ARISE.
Der britische Gast überraschte, wie zuvor in Fulton, mit kühnen
Perspektiven: „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von
Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von
Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzt, jene
einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das
Leben lebenswert machen.“ Wie ein guter Schauspieler kostete
Churchill die Dramatik dessen, was er als seine Kernbotschaft
bereithielt, aus: „Ich sage Ihnen jetzt etwas, das Sie erstaunen
wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen
Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und
Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und
kulturelle Führerrolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein
Wiederaufleben Europas ohne ein geistig großes Frankreich und
ein geistig großes Deutschland.“
In Zürich betrieb Churchill mit seinem rhetorischen Arsenal eine
zweite Mobilmachung, für eine zweite Schlacht – um die
Gestaltung der europäischen Zukunft. War es aber wirklich der
19 Startschuss zu den „Vereinigten Staaten von Europa“? Lange Zeit
über hat man Churchill als Baumeister der europäischen Einigung
gefeiert, und in der Tat kann ihm niemand den Verdienst streitig
machen, in desolater Zeit in Zürich mächtige Zukunftsimpulse
gegeben zu haben, die für das darnieder liegende Europa von
unschätzbarem Wert waren. Aber wir kennen unsere britischen
Pappenheimer heute etwa besser und wissen, was Churchill
damals bei all seiner europäischen Begeisterung wirklich meinte:
Er sprach mehr wie der Taufpate eines geeinten Europa, nicht wie
ein Teilnehmer an der Struktur, die er ins Leben rufen wollte und
die nach ihm entstand.
Das wurde spätestens 1951, als er in die Downing Street
zurückgekehrt war, als das große Missverständnis seiner Haltung
zu Europa erkannt, oder besser: durchschaut. Als Konrad
Adenauer dem neu gewählten Premierminister im Dezember
1951 einen ersten Besuch abstattete, entspann sich zwischen
beiden unter anderem folgender Dialog. Churchill zum
Bundeskanzler: „Sie können beruhigt sein, Großbritannien wird
immer an der Seite Europas stehen.“ Darauf Adenauer: „Herr
Premierminister, da bin ich ein wenig enttäuscht, England ist ein
Teil Europas.“
Achtzehn Monate später, im Mai 1953, reichte Churchill dem
Kanzler bei dessen zweitem Besuch in London so etwas wie eine
20 Erläuterung seines Denkens nach. Auf einer Tischkarte skizzierte
er das Bild von drei sich überschneidenden Kreisen: das
Commonwealth, die USA und das vereinte Europa. Im
Schnittpunkt der Kreise machte er einen Punkt: Großbritannien,
Teilnehmer in allen drei Konstellationen, nicht nur exklusiv in
einer. Nie würden er oder ein anderer britischer Premierminister,
wie sich herausstellen sollte, jemals Englands Beziehungen zu
Amerika oder zum Commonwealth einem supranationalen
Europa zuliebe aufgeben. England hatte eine Rolle auch in
Europa zu spielen, durchaus, aber es beharrte auf seiner freien
Hand, wie immer im Lauf seiner Geschichte.
Ein französisches Sprichwort sagt: Je mehr die Dinge sich
ändern, desto mehr bleiben sie sich gleich. Die Beziehungen
Englands zu Europa haben bis heute etwas von einem „Ja, aber“
an sich. Denken Sie bei dem Begriff „Opt-Out“ an die
Geographie: Eine Insel ist das Opt-out zum Kontinent – das ist
meine Metapher zum Verstehen Großbritanniens. „Wir haben
unsere Geschichte nicht in Europa vergraben“, sagte unlängst im
Unterhaus Liam Fox, Verteidigungsminister in David Camerons
erster Amtszeit. So spricht das insulare Opt-Out aus dem Fundus
seiner historischen Erfahrung.
Aber lassen Sie mich von Churchill reden, meinem Kronzeugen,
und von belegbare Äußerungen des großen Mannes. Dann
21 werden Sie mir vielleicht Recht geben, dass im Grunde Churchill
seiner Überzeugung zum britisch-europäischen Verhältnis immer
treu geblieben ist, unbeschadet der großen Fanfare in Zürich.
Bereits im Februar 1930 hatte er in der damals viel gelesenen
amerikanischen Zeitschrift „Saturday Evening Post” einen
Aufsatz unter der bezeichnenden Überschrift „Die Vereinigten
Staaten von Europa“ veröffentlicht – ein Terminus, den er in
Zürich wieder aufgreifen würde. Großbritannien werde nie zu
diesen Vereinigten Staaten gehören, schrieb er, „denn wir haben
unsere eigenen Träume und Aufgaben. Wir stehen zu Europa,
gehören aber nicht dazu; wir sind verbunden, aber nicht umfasst;
wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht absorbiert; wir
gehören zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen.“ Die
Passage ist es wegen ihrer Bedeutung für Churchills politische
Entwicklung wert, im englischen Original zitiert zu werden: „We
are with Europe but not of it. We are linked but not comprised;
we are interested and associated, but not absorbed. We belong to
no single continent, but to all.” Diese Auffassung spielt bis heute
in die komplexe Haltung der Insel zum europäischen Kontinent
hinein.
Am 1. März 1955 wandte sich der 80Jährige zum letzten Mal an
das Unterhaus, dem er seit 1901, mit einer kurzen Unterbrechung
von 1922-1924, angehört hatte. Die Abgeordneten waren bewegt,
als er von der Hoffnung sprach, dass die „grauenhafte Epoche, in
22 der wir leben müssen“, das nukleare Wettrüsten, eines Tages
überwunden werden könnte. Jeder von uns Heutigen, die wir alle
an den schier unlösbaren Herausforderungen der Gegenwart
leiden, mag sich an Churchills Schlussworten aufrichten:
„Inzwischen dies: Weicht niemals zurück, ermüdet niemals,
verzweifelt niemals.“ Ein klassisches Vermächtnis: „Meanwhile,
never flinch, never weary, never despair.“
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit