Volkskirche bleiben - Evang.-ref. Kirche Kanton Schaffhausen

Volkskirche bleiben im Reformprozess (von Markus Sieber, Pfarrer, Steigkirche Schaffhausen)
Können wir Volkskirche bleiben im Reformprozess? Diese Frage war der Ausgangspunkt eines
Vortrags und einer Diskussion im Pfarrkonvent, weil es in der letzten Zeit für den Schreibenden zu
sehr um Strukturen, Zahlen, Prozente und auch um Franken ging. Es ist viel nötiger, darüber zu
reden, was Kirche ist und wofür sie da sein soll. Die nachfolgenden Gedanken waren
Ausgangspunkt und Anstoss, darüber wieder einmal zu reden.
Der Begriff ,Volkskirche‘ setzt sich zusammen aus Volk und Kirche. Etymologisch hat das ‚Volk‘ mit
dem Wort ‚viel‘ und ‚voll‘ zu tun, auch mit der griechischen Vorsilbe poly, und das hängt womöglich
wieder zusammen mit Pleps und Pöbel, also ist einfach ein Haufen von Leuten, z.B. wenn es viel
Volk hat an einem Anlass. - ‚Kirche‘ dagegen, wenn wir vom griechischen Ursprung ausgehen, ist
eher eine kleinere herausgerufene Auswahl, im griechischen Neuen Testament eine ekklesia, die
zum kyrios, zu ihrem Herrn gehört (daraus entwickelte sich das deutsche Wort ‚Kirche‘).
Der Begriff ,Volkskirche‘ besteht also aus einem Gegensatz von viel und wenig, und die Frage ist,
wie das beides zusammenhängt, die vielen und die wenigen. Nicht mehr gut möglich ist die Genitivverbindung, also dass es die Kirche des Volkes ist, die Kirche der vielen, die Kirche der Mehrheit.
Daran erinnern uns die Politiker immer gerne, dass wir eine Minderheit sind. Und das sieht man
sehr deutlich zum Beispiel an der aktuellen Basler Schulstatistik, weil dort die Konfessionen der
Schülerinnen und Schüler erfasst werden. Führend sind schon lange die Konfessionslosen, vor
etwa 6 Jahren haben die Muslime die Katholiken überholt und jetzt auch die reformierten, also 2012
waren 40% der Kinder ohne eine Konfession, 21% Muslime, 16% evangelische und 14%
katholische Christen.
Volks-Kirche: Die Beziehung von zusammengesetzten Substantiven in der deutschen Sprache ist
sehr vielfältig, meistens geht es darum, dass das zweite Wort das Hauptwort ist und durch das erste
determiniert, also näher bestimmt wird. Beim Regenschirm zum Beispiel also bekommt der Schirm
vom Regen seine Bestimmung, und bei der Volkskirche, bekommt die Kirche durch das Volk ihre
Bestimmung, Kirche für das Volk zu sein.
Volkskirche ist eine Minderheit mit einer Beziehung zu den vielen. Eine biblische Parallele dazu ist
die Zwölfzahl der Jünger von Jesus, diese allererste Gemeinschaft um Jesus. Auch das ist eine
kleine Schar mit einer grossen Bedeutung. Zahlenmässig sind es wenige, aber wenn die Zahl die
Vollzahl der Stämme Israels abbildet, dann steht die kleine Zahl für Grosses, für das ganze Volk. Im
Bezug auf die heutige Situation bedeutet das für mich, dass es nicht wichtig ist, wie gross die Zahl
der Mitglieder unserer Kirche ist, weil der Auftrag der gleiche bleibt.
So habe ich es erlebt in meinen beiden Pfarrämtern auf dem Land und in der Stadt. Auf dem Land
war ich immer auch ein Stück weit Dorfpfarrer, also beteiligt an so vielem, was nicht direkt mit
meinem Amt, sondern mit dem Dorf zu tun hatte. In der Stadt habe ich dafür sehr oft mit Menschen
zu tun, die nicht in der Kirche sind. Aber ich denke, das gehört zu unserm Amt dazu, darum haben
wir nicht weniger Arbeit, wenn immer mehr Menschen austreten, weil auch sie manchmal einen
Pfarrer oder eine Pfarrerin brauchen, und weil der Pfarrer und die Pfarrerin zum Dorf gehört.
Damit komme ich zur Mitgliedschaft, und das finde ich interessant, wie wir das definieren. Mitglied in
unserer Kirche ist, wer die Steuern bezahlt. Es braucht kein Bekenntnis und keine Taufe, und auch
keine ethischen Kriterien, jeder kann Mitglied sein, auch ein Zuhälter oder ein Neonazi. Das
bedeutet für mich, dass die Mitgliedschaft keine grosse Bedeutung hat, und ich verstehe sie so,
dass man mit der Kirchensteuer die Arbeit der Volkskirche unterstützen kann, denn auch ein
Zuhälter kann der Ansicht sein, dass die Kirche in unserer Gesellschaft einen guten Job macht.
Völlig fremd ist mir die Ansicht, man könne mit diesen Mitgliederbeiträgen das Recht auf irgendwelche Dienstleistungen erwerben oder eben auch verlieren. Seltsam berührt es mich jeweils auch,
wenn jemand im Austrittschreiben betont, er oder sie würde trotzdem an Gott glauben. Die Muslime
und die Tamilen bei uns haben es einfacher, denn sie können und müssen nicht austreten. Das ist
das irritierende an den Religionsstatistiken, denn die Religion ist ein Teil ihrer Identität und ihrer
Kultur und nur wenige sind praktizierende Mitglieder in einem Tempel- oder Moschee-Verein und
können sich vielleicht sogar einen Imam oder Priester leisten.
Wir haben als Volkskirche keinen Verein, sondern sind mit dem Staat verbunden. Während die
Freikirchen eben frei sind von dieser Verbindung, sind wir durch die gegenseitigen Verpflichtungen
eine unfreie Kirche und haben wie die staatlichen Organe dem Gemeinwohl zu dienen. Allerdings
hat es in einer Zeit überbordender Individualisierung auch der Sozialstaat nicht einfach, seinen
Bürgern zu erklären, warum sie nicht alles Geld für sich selber brauchen, sondern einen Teil dem
Gemeinwohl als Steuern zur Verfügung stellen sollen.
Die Volkskirche hat sich einmal mit dem Staat in dieser Aufgabe solidarisiert. „Jedermann sei
unterthan der Obrigkeit“ - „So gebt nun jedermann, was ihr schuldig seid, die Steuer, dem die
Steuer gebührt“, - zwei Zitate aus Römer 13 im Saal des Kantonsrates sind heute wieder aktuell, wo
ganze Parteien gegen den Staat polemisieren, wo Reiche mit Steuergeschenken angelockt werden
sollen, und wo Steuern zu sparen das höchste aller Ziele ist, und darunter dann die Gemeinschaftsaufgaben des Staates wie der Kirche leiden.
Das Gemeinwohl ist kein Ideal, mit dem man sich abgrenzen kann gegen irgendwelche anderen,
aber es passt zur wunderbaren Botschaft der Bibel, die die Menschen verbindet im Segen
Abrahams, durch den „alle Völker der Erde“ gesegnet werden und in der grosse Freude von
Weihnachten, die „allem Volk widerfahren wird“. Die Botschaft der Kirche ist eine gute und heilsame
Botschaft für alle Menschen, und auch wenn die Kirchen am Sonntag fast leer sind, so bleibt es
unsere schönste Aufgabe, dieses Glück in immer neue Worte zu fassen.
Unverständlich ist für mich darum die Gegenüberstellung der Volkskirche zu einer Kirche mit einem
bestimmten Profil, denn der Begriff ‚Volkskirche‘ ist für mich in erster Linie ein starkes und
eindeutiges Profil einer Kirche für alles Volk, einer Kirche, die nicht trennt zwischen denen drinnen
und draussen, für die das Heil keine Grenzen kennt, und die nicht zuerst für sich selber schauen
muss. Es ist die Kirche, der ich angehöre und für die ich arbeite, und ich selber könnte niemals
Mitglied einer Kirche sein, wo man unter Seinesgleichen bleibt.
Der Begriff Volkskirche ist also nicht ein Wort für Unverbindlichkeit, wo einfach jeder und jede
dazugehört, wie man das früher verstehen konnte, sondern ein Begriff, der erst jetzt sein Profil
gewinnen kann und der sich gerade in diesen Strukturveränderungen bewähren muss, eine Kirche
zu sein, die - so wie ihr Meister - dazu da ist, den Menschen zu dienen, und das nicht nur mit ihrer
diakonischen Arbeit, was immer wieder betont wird, sondern vor allem auch mit ihrer Verkündigung
dessen, was uns in allen Unterschieden miteinander verbindet.
Diese Tradition der Verkündigung zu bewahren, ist die Aufgabe der Volkskirche. Dafür hat sie
Diener und Dienerinnen am Wort, die vor allem eine gute wissenschaftliche Kompetenz haben
müssen, damit sie sowohl dem Studium der Quellen wie dem Dialog mit unserer Zeit gewachsen
sind. Das ist unsere spannende Herausforderung, wie wir weiterhin eine gesellschaftlich relevante
Kirche sein können, auch für ein Volk, das die eigenen Wurzeln nicht mehr kennt, das sich verliert in
den vielen Angeboten unserer Zeit, aber das vielleicht doch einmal froh ist um eine Kirche, die ein
gutes Wort hat, wenn man sie braucht.