Tagesanzeiger online

Tages Anzeiger online (erstellt am 18.9.2015, 07:09)
Weniger Demenzkranke als befürchtet
Neue Studien widersprechen bisherigen Prognosen, die wegen der alternden
Bevölkerung deutlich mehr Betroffene vorhersagen.
In der Schweiz soll sich die Zahl der heute 116'000 demenzkranken Menschen bis
2030 verdoppeln, bis 2050 gar verdreifachen. So rechnet es die Schweizerische
Alzheimervereinigung auf ihrer Website vor, ausgehend von der zunehmenden
Alterung der Bevölkerung. Ähnlich hoch ist der Anstieg, den die Organisation
Alzheimer’s Disease International (ADI) im August vorhersagte. Weltweit sollen in
35 Jahren 130 Millionen Menschen an Demenz leiden, 2,8-mal mehr als heute. In
westlichen Ländern wird mit einer Verdoppelung gerechnet.
Doch nun machen neue Studien Hoffnung. Die angekündigte «Demenzepidemie»
könnte deutlich weniger stark ausfallen als befürchtet. Zu diesem Schluss kommen
international führende Fachleute auf dem Gebiet Demenzepidemiologie, die unlängst
gemeinsam einen Artikel im Fachblatt «Lancet Neurology» veröffentlicht haben.
Darin analysieren sie fünf grosse epidemiologische Studien in Westeuropa der
letzten Zeit, die alle auf das gleiche Resultat kommen: Die Zahl der Demenzkranken
ist trotz der Alterung der Bevölkerung deutlich weniger gewachsen als bislang
erwartet. Dies, weil in den betroffenen Altersgruppen die Häufigkeit neuer Fälle und
damit auch der prozentuale Anteil von Demenz­kranken abgenommen hat.
Durchgeführt wurden die fünf Studien in Schweden (Stockholm und Göteborg), den
Niederlanden (Rotterdam), Grossbritannien (England) sowie Spanien (Saragossa).
Die Forscher verglichen die Häufigkeit der Demenz in der jeweiligen Region in einem
Abstand von ein bis zwei Jahrzehnten und mit der gleichen Diagnosemethode.
Beispielsweise bei der Studie in England sank der Anteil der über 65-Jährigen mit
Demenz zwischen 1990 und 2011 um 22 Prozent. In Spanien kam es von 1987 bis
1990 nur bei den Männern zu einem Rückgang. Dieser betrug jedoch 43 Prozent.
Krankheitsbeginn verschoben
Weil die fünf Studien an verschiedenen Orten zum gleichen Schluss kommen, seien
sie «besonders überzeugend», sagt Monique Breteler vom Deutschen Zentrum für
Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), eine der sieben Autorinnen und Autoren
des «Lancet Neurology»-Papers. «Hinzu kommt, dass Studien in Nordamerika und
Australien zu ähn­lichen Resultaten kommen.» Es zeige sich, dass nicht das Risiko
für den Einzelnen gesunken ist, im Laufe des Lebens dement zu werden. Vielmehr
scheine sich der Zeitpunkt der Erkrankung verschoben zu haben. «Die Menschen
leben nicht nur länger, sie bekommen auch ihre Alterskrankheiten später», so
Breteler.
Die neuen Befunde rütteln am gängigen Bild der Demenzerkrankungen als
unvermeidbare Folge des Altwerdens. Bessere Lebensbedingungen und mehr
Bildung schützen die Menschen vor dem fortschreitenden Hirnabbau, vermuten die
Forscher. Eine wichtige Rolle scheint insbesondere die Senkung von Herz-KreislaufRisiken in den letzten Jahrzehnten zu spielen. «Was gut fürs Herz ist, ist auch gut
fürs Gehirn», sagt Breteler. «Bereits eine kleine Senkung der Risiko­faktoren in der
Bevölkerung kann einen grossen Effekt auf die Häufigkeit von Demenz haben.»
Dabei gehe es um mehr als um Rauchstopp und Medikamente gegen Bluthochdruck
oder schlechte Cholesterinwerte, betont die Epidemiologin.
Herz-Kreislauf-Faktoren beeinflussen Demenz
Interessanterweise zeigt sich, dass Herz-Kreislauf-Risiken sich nicht nur
ausschliesslich auf die sogenannte vaskuläre Demenz auswirkt. Diese tritt bei
Durchblutungsstörungen im Gehirn auf. Herz-Kreislauf-Faktoren beeinflussen auch
alle anderen Arten von Demenz, also auch Alzheimer, die häufigste Form. Die
Forscher gehen davon aus, dass ein besserer Allgemeinzustand generell die
Widerstandskraft gegen einen Gehirn­abbau erhöht. Zudem beobachte man bei
betroffenen Patienten meist verschiedene Formen von Demenz gleichzeitig, oft eben
auch eine vaskuläre, so Breteler. Inwieweit auch Umwelt­einflüsse wie
Feinstaubbelastung oder Ernährung bei der Demenzhäufigkeit eine Rolle spielen, ist
noch offen.
Für Breteler ist klar: «Bei der Prävention von Demenz gibt es gigantisches Potenzial,
das wir noch nutzen könnten.» Dazu brauche es mehr Forschung in dem Bereich.
Mitautorin Carol Brayne von der britischen University of Cambridge fordert gar, dass
Gesellschaft und Wissenschaft ihren Fokus vermehrt auf die Prävention legen und im
Verhältnis zur «aktuellen Überbetonung von Diagnose und medikamentöser Therapie
der Demenz» neu gewichten sollten.
«Änderungen sind in Gang»
Bei allem Optimismus angesichts der neuen Studien – manche Fachleute bleiben
skeptisch. «Ich wäre vorsichtig mit Schlussfolgerungen in Anbetracht der
vorhandenen Daten. Die Evidenz ist immer noch ziemlich schwach», sagt Martin
Prince. Der angesehene Epidemiologe am King’s College London ist Hauptautor des
ADI-Weltalzheimerberichts. Er empfiehlt politischen Entscheidungsträgern, weiterhin
davon auszugehen, dass die Demenz parallel mit der Alterung der Bevölkerung
zunimmt, solange die wissenschaftliche Faktenlage unklar ist.
Auch Carol Brayne und ihre Mitautoren sind der Ansicht, dass ihre Befunde noch
weiter bestätigt werden müssen. Sie gibt jedoch zu bedenken, dass sich auch der
Weltalzheimerbericht im Fall von Westeuropa auf nur wenige, vergleichsweise alte
Daten stütze. «Es sind Änderungen in Gang, das legen auch Resultate aus anderen
westlichen Ländern nahe», insistiert Brayne. Für Afrika, Südamerika und Asien seien
die düsteren Prognosen von der ADI jedoch unstrittig.
Betroffenenorganisationen und viele Forscher geraten durch die neuen Resultate in
einen Konflikt. Sie befürchten, die eigentlich erfreulichen Resultate könnten falsch
ausgelegt werden und die Politik zum Nichtstun ermutigen. Das wäre ein grosser
Fehler, findet ­Monique Breteler: «Demenz wird eine grosse Herausforderung für die
alternden Gesellschaften bleiben, auch wenn die Zahl der Betroffenen weniger stark
zunehmen sollte als erwartet.» (Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 18.09.2015, 07:09 Uhr)
«Wir werden unsere Zahlen anschauen»
Birgitta Martensson, Geschäftsleiterin der Schweizerischen
Alzheimervereinigung, ­reagiert zurückhaltend auf die neuen Demenzstudien.
Verschiedene Studien zeigen, dass die Zahl der Demenzkranken in westlichen
Ländern stagniert. Freuen Sie sich?
Ich glaube, dass es dafür zu früh ist. Es gibt
zwar Anzeichen für stabile Zahlen in Westeuropa. Angesehene Wissenschaftler wie
Martin Prince vom King’s College London äussern jedoch grosse Zurückhaltung.
Aufgrund der vorhandenen Daten lässt sich noch nicht sagen, was tatsächlich
passiert. In Ländern mit mittlerem oder tiefem Einkommen ist zudem klar, dass eine
massive Zunahme zu erwarten ist.
Doch für die Schweiz dürften die jüngsten Beobachtungen ­durchaus
zutreffen.
Wie gesagt, ich würde vorsichtig sein. In der Schweiz gibt es leider keine
einzige grosse Untersuchung zur Häufigkeit der Demenz. Solche Studien sind
anspruchsvoll und aufwendig und wurden bei uns nie durchgeführt. Wir verwenden
deshalb jeweils die Prävalenzraten aus vergleichbaren Ländern, umgerechnet auf die
Bevölkerungszahlen des Bundesamts für Statistik.
Werden Sie nun die von Ihnen verwendeten Zahlen überprüfen?
Wir werden sie
anschauen. Doch wahrscheinlich besteht keine Notwendigkeit für eine grössere
Anpassung. Der Weltalzheimerbericht von Alzheimer’s Disease International vom
August 2015 geht weltweit immer noch von einer Verdreifachung und in westlichen
Ländern von einer Verdoppelung bis ins Jahr 2050 aus.
Die Anzeichen häufen sich, dass sich Demenz zu einem gewissen Grad
vorbeugen lässt.
Präventive Massnahmen haben tat­sächlich eine Wirkung, das ist
eine gute Nachricht. Dafür gibt es schon länger Hinweise. Ein gesundes Leben mit
Bewegung, gesunder Ernährung und ohne Tabakkonsum sowie die Senkung der
Herz-Kreislauf-Risiken wirken sich positiv aus. Darauf achtet man bei uns heute mehr
als noch vor 20 oder 30 Jahren. Wohin das führt, ist noch eine offene
Frage.
Interview: Felix Straumann (Tages-Anzeiger)
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