Frankfurter Buchmesse 2015 – Eröffnungs-Pressekonferenz, 13. Oktober 2015 – Statement Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse - Das gesprochene Wort gilt – BEGRÜSSUNG Ich möchte einleiten mit einem Zitat von Louis Brandeis, einem Richter des Supreme Court in den USA in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. „Wenn es darum geht, Falschheit und Täuschungen durch Diskussion bloßzustellen und das Böse durch den Prozess der Erziehung abzuwenden, dann ist das Mittel der Wahl immer noch mehr reden (sprechen), keinesfalls die erzwungene Stille.“ Für Brandeis war die freie Rede nicht nur eine abstrakte Tugend, sondern ein Grundelement, das im Zentrum jeder demokratischen Gesellschaft verankert ist. Brandeis trat bereits im Jahr 1920 nicht für nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Bürger zur freien Meinungsäußerung. Sie sollten sich am Regierungsakt und an der Bildung einer demokratischen Gesellschaft beteiligen und dies gelang seiner Auffassung nach nur dann, wenn sie die Regierung umfassend und angstfrei kritisieren könnten. Für mich liegt der Kern dieses Zitates auf dem Begriff des Redens, der Diskussion! In den letzten Tagen wurde weltweit viel berichtet über den Auftritt von Salman Rushdie bei uns sowie über den iranischen Boykott der Frankfurter Buchmesse. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich nicht froh bin über den Boykott des Irans. Denn damit geht einher, dass wir eine weitere Gelegenheit verpassen uns mit den iranischen Kollegen auszutauschen. Es gibt den einen zentralen Aspekt der menschlichen Zivilisation, der für mich nicht verhandelbar ist. Das ist die Freiheit des Wortes, die freie Meinungsäußerung. Über alles andere soll man nicht nur, man muss darüber reden. Dazu passt die Stelle in dem neuen Roman von Salman Rushdie („Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“), in der der Geist des Philosophen Ibn Ruschd aus dem Grab heraus seinen ebenfalls vor Jahrhunderten verstorbenen Widersacher Ghazali auffordert, ihre völlig konträren Standpunkte endlich aufrichtig zu verhandeln. „Die Hindernisse von Zeit und Entfernung stellen kein Problem mehr dar“, sagte er zur Begrüßung zu seinem Feind. „Da können wir die Dinge diskutieren, so wie es sich gehört. Höflich im Umgang mit dem Kontrahenten, aber hart in der Sache.“ Die Aussage, die dahinter liegt, ist völlig simpel, dafür umso wahrer. Eine Idee, eine Haltung ist sowieso nicht totzukriegen. Sie geht nicht weg, auch wenn man all diejenigen umbringt, die sie formulieren. Was einzig bleibt, ist das Reden. Reden ist die bessere Alternative! Eine Erzählung, die diese für mich so wichtige Haltung transportiert wie keine andere (und auch hier stößt uns Rushdie noch einmal mit der Nase drauf), sind „Geschichten aus 1001 Nacht“ aus dem 10. Jahrhundert, in denen sich Scheherazade aktiv in die Hände des Kalifen begibt, um durch ihre Fantasie, ihre Beredsamkeit sein Morden zu beenden. Und die zweite weitere Moral aus den Geschichten aus 1001 Nacht lautet, dass die Geschichten des Anderen so interessant sein können, dass man die eigene Haltung komplett zu verändern vermag, wenn man sich nur auf das Unterfangen einlässt! Die Freiheit des Wortes befindet zurzeit in einem sehr fragilen Zustand. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes unter Beschuss. Wir erleben eine Zeit, die von gewaltsamen Konflikten geprägt ist, in der die Spirale der Gewalt sich scheinbar immer nur in eine, in die falsche, Richtung dreht. Was können wir als Branche hier tun? Wenn es die eine wichtige Aufgabe für die Literatur und das Verlegertum gibt, dann diese: Sie müssen stören. Sehen Sie Rushdie an. Er stört mit seiner Literatur. Die Verleger müssen auch stören. Sie müssen gedankliche Stolpersteine herstellen! Mit ihrem Programm, mit Mut zur Kontroverse. Der Friedenspreisträger Navid Kermani sagt hierzu: „Jedweder Anspruch an Literatur lautet: Respekt für das Andere und Unerbittlichkeit für das Eigene, die Verteidigung des Marginalisierten und die Bestreitung des Herrschenden“. Ich betone wieder die Notwendigkeit der Kontroverse. Höflich, aber hart in der Sache! Machen wir uns nichts vor, wir haben uns geistig sehr gemütlich eingerichtet. Wir wähnen uns hier auf der richtigen Seite der Mauer. Diese spezifischen Mauern nennt man auch Scheuklappen. Sie bewahren uns vor Unbequemlichkeit und den Gefahren einer klaren Stellungnahme. Gleichzeitig können sie zu Fehleinschätzungen führen und uns zu Mittätern machen. Wenn der Claim der Frankfurter Buchmesse „Die Welthauptstadt der Ideen“ überhaupt für irgendetwas nützlich ist, dann für die Erkenntnis, dass Ideen aus der ganzen Welt hier zusammentreffen, aber noch lange nicht nahtlos zusammenpassen. Und dass dieses Zusammentreffen etwas bewirken muss. Die Kunden, die Besucher sollen nach einer Woche Buchmesse eine neue Perspektive eingenommen haben. Das ist nicht zuletzt der Grund, warum wir die Buchmesse dieses Jahr radikal umgebaut haben. Wir haben die englischsprachige Welt ins Zentrum geholt, was weitere Domino-Effekte für sämtliche anderen Hallen zur Folge hatte. Wir wollten und wollen absichtlich (!) den jahrelang eingeübten Ablauf der Messe ändern. Wir wollen mit der Nase darauf stoßen, dass es viele neue Gesprächs- und Geschäftspartner zu entdecken gibt, neue Ideen, Technologien, Chancen. Der Arbeitstitel bei uns war dabei „Mut zur Brücke“ – also der beherzte Übergang in neue Gefilde! Unser Auftrag lautet, dazu beizutragen, dass der Blickwinkel unserer Kunden sich deutlich erweitert und am Ende auch ihr Geschäft. Bitte gestatten Sie mir noch einen Hinweis auf unsere Arbeit. Die Frankfurter Buchmesse im Oktober ist eigentlich nur der jährliche Kulminationspunkt einer kontinuierlichen Arbeit, der wir das ganze Jahr über nachgehen. Wir knüpfen Tag für Tag an einem internationalen Netzwerk des Publishing, also allen, die mit Literatur, mit Content, mit der Verlegerei, mit Medien zu tun haben. Wir gehen in andere Länder, in andere Kulturen, in andere Branchen und helfen wo wir können, das Publishing zu professionalisieren. Wir suchen Anknüpfungspunkte, wir etablieren Schnittstellen und vor allem bringen wir Menschen zusammen – immer mit dem Ziel, das Netzwerk zu erweitern und zu verdichten. Wir reisen dazu auch nach Weißrussland, in die Ukraine, nach China, nach Saudi-Arabien und in den Iran. Es gibt dort überall besonnene Menschen, die sich ebenfalls als Teil des Netzwerkes verstehen. In manchen Jahren fällt diese Netzwerk-Arbeit leichter, in manchen wird sie uns erschwert. Ich möchte Ihnen gerne vermitteln, dass es hier kein eindeutiges Schwarz oder Weiß gibt. Für uns gilt, dass wir versuchen den Gesprächsfaden, das Reden nicht abreißen zu lassen. Wie ich bereits oben gesagt habe: Wir halten reden für die bessere Alternative. Ich zitiere Zum Schluss eine sehr poetische Stelle aus Rushdies Buch, in der der Philosoph Ibn-Rushd zu seiner Frau und Geliebten Dunja spricht: „Wer dünnhäutig, weitsichtig und redselig ist … fühlt zu intensiv, sieht zu klar, und spricht zu freimütig. Er ist der Welt gegenüber verwundbar, während die Welt sich selbst für unverwundbar hält, er versteht ihre Wandelbarkeit, während sie meint, sie sei unwandelbar, er ahnt vor allen anderen, was kommt, er weiß, dass die barbarische Zukunft die Tore zur Gegenwart einreißt, während sich andere an die abgelebte Vergangenheit klammern. Ich freue mich, dass die Frankfurter Buchmesse ein Treffpunkt ist für alle, die redselig sind, dünnhäutig und weitsichtig! Sie sind es, die die wichtigen Fragen jährlich neu verhandeln – sei es durch den expliziten Diskurs, die Diskussion neuer Leitbilder, oder implizit durch geschäftliche Entscheidungen, neue Kooperationen oder Produkte. So kann die Welthauptstadt der Ideen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass wir uns mit der Unterschiedlichkeit des Andersdenkenden auseinandersetzen und dann ganz klar Stellung beziehen – für die Freiheit des Wortes.
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