Ungelernt, arbeitslos, perspektivlos

Wirtschaft 9
Tages-Anzeiger – Dienstag, 2. Februar 2016 Ungelernt, arbeitslos, perspektivlos
Menschen ohne Lehrabschluss haben vergangenes Jahr überdurchschnittlich oft die Stelle verloren. Gleichzeitig wird es für sie
immer schwieriger, einen neuen Job zu finden. Eine unheilvolle Entwicklung, die auch eine Folge des starken Frankens ist.
Franziska Kohler
Marlies Haller ist 55 Jahre alt. 29 davon
hat sie am selben Ort gearbeitet, bei einer Industriefirma im Mittelland. Haller
hilft im Betrieb mit, immer dort, wo
­gerade Arbeit anfällt. Auf Ende Jahr hin
muss sie sich allerdings einen neuen Job
suchen, denn die Fabrik wird geschlossen. Gegenüber der Gewerkschaft Unia
begründete das Unternehmen den Entscheid unter anderem mit dem starken
Franken. Die Firma müsse Geld sparen,
und das sei in der kleinen Fabrik in der
Schweiz nicht möglich. Mehr als 20 Angestellte verlieren ihren Job.
«Um mich selber mache ich mir keine
Sorgen», sagt Haller, die auch in der
­B etriebskommission sitzt. Angst hat sie
um die 15 ungelernten Angestellten, die
keine nennenswerte Berufsausbildung
haben. Die meisten von ihnen sind um
die 50 Jahre alt und arbeiten in der Fabrik. «Bei uns sind sie auf ihrem Gebiet
top – aber wer gibt ihnen nun eine neue
Stelle und die Chance, nochmals von
vorne anzufangen?», fragt sich Haller.
Ihre Sorgen sind berechtigt. Ungelernte sind laut den Gewerkschaften
zwar nicht die Einzigen, die seit Aufhebung der Frankenuntergrenze vermehrt
um ihre Jobs fürchten müssen: Auch Angestellte mit guten Bildungsabschlüssen
verlieren ihre Stelle, weil Firmen zentrale Dienste wie die IT oder das Personalmanagement ins Ausland verlagern.
Allerdings ist die Arbeitslosenquote bei
den Ungelernten in den letzten beiden
Quartalen deutlich stärker gestiegen als
bei den anderen Angestellten. Gleich­
zeitig dürfte es für sie viel schwieriger
werden, einen neuen Job zu finden.
«Der Abstand wird grösser»
Ein Blick auf die Erwerbslosenquote des
Bundesamtes für Statistik zeigt: Im­
3. Quartal 2015 ist die Zahl der Erwerbslosen auf der tiefsten Ausbildungsstufe
(Sekundarstufe 1) gemäss ILO auf 11,5
Prozent angestiegen (Vorjahr: 9,6 Prozent). Das ist der höchste vergleichbare
Wert seit 2010 (zuvor wurde die Quote
im 3. Quartal nicht erhoben). Bei jenen
mit Berufsbildung sank die Quote im selben Zeitraum von 4,5 auf 4,2 Prozent,
bei jenen mit höherer Berufs- und Hochschulausbildung ging sie ebenfalls um
0,2 auf 3,2 Prozent zurück.
Die Erwerbslosigkeit hat bei Ungelernten also überdurchschnittlich stark
zugenommen. Konkret waren sie im
2. Quartal 2,2-mal häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als das Total aller
­Angestellten. Im Vorjahresquartal war
es erst 1,9-mal häufiger gewesen. Im
3. Quartal stieg das Verhältnis auf 2,3 an
(Vorjahr: 2,0) – ebenfalls der höchste
Wert seit 2010. «Die Quote ist für Ungelernte immer höher, aber der Abstand
zu den Übrigen wird grösser», fasst
Yngve Abrahamsen von der Konjunkturforschungsstelle KOF zusammen.
Arbeiter auf dem Vorplatz des Zementproduzenten Holcim in Untervaz GR. Die Firma hat bereits viele Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Foto: Gianluca Colla (Bloomberg)
Das Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco) verweist allerdings auf die eigenen Arbeitslosenzahlen, die sich von der
Erwerbslosenquote gemäss ILO unterscheiden. Diese liessen keine «auffällige
Ungelernte: Der Abstand
ist grösser geworden
Erwerbslosenquote (jeweils 2. Quartal), in %
10
Höchster Abschluss Sekundarstufe 1*
Total
8
6
4
97 99 01 03 05 07 09 11 13 15
* Oberstufen-, Bezirks-, Sekundar- oder Realschule
TA-Grafik mrue /Quelle: Bundesamt für Statistik
Zunahme der Arbeitslosigkeit bei Personen mit Sek-1-Ausbildung» erkennen.
Erstens sei die Erwerbslosigkeit im dritten Quartal saisonbedingt in der Regel
höher. Zweitens sei die ILO-Quote mit
Zufallsschwankungen behaftet, da sie
auf einer stichprobenartigen Befragung
beruht. Diese Schwankungen seien bei
kleinen Bevölkerungsgruppen wie jener
mit Sek-1-Ausbildung ausgeprägter.
Doch auch wenn die ILO-Zahlen nur
einen temporären Anstieg zeigen sollten, so gehen Experten davon aus, dass
Ungelernte von den Umwälzungen auf
dem Arbeitsmarkt überdurchschnittlich
stark betroffen sind. «Niedrig- und mittelqualifizierte Jobs werden den Wechselkurseffekten stärker ausgesetzt sein
als hochqualifizierte», sagt KOF-Ökonom Abrahamsen. Denn die Frankenaufwertung schaffe nicht nur Anreize,
per Produktionsverlagerung Schweizer
durch ausländische Arbeitskräfte zu ersetzen, sondern verstärke auch den Kon-
kurrenzdruck, was Rationalisierungen
erzwinge. «Die resultierenden Produktivitätssteigerungen erhöhen generell die
Nachfrage nach Qualifikationen.»
Mehr Technik – weniger Jobs
«Berufe, die Ungelernte beziehungsweise Niedrigqualifizierte traditionell
ausüben, sterben aus», sagt dazu der Arbeitsmarktforscher George Sheldon. Er
hat in einer vor kurzem veröffentlichten
Studie untersucht, wie sich die Beschäftigungschancen in dieser Bevölkerungsgruppe verändert haben. Das Resultat:
Die Zahl der Erwerbstätigen ohne Berufsausbildung ist seit den Siebzigerjahren zwar von 40 auf 15 Prozent gesunken. Doch gleichzeitig ist die Nachfrage
nach ihnen noch stärker zurückge­
gangen, unter anderem, weil ihre Jobs in
Billiglohnländer ausgelagert wurden.
Wie auf dieses Problem reagiert werden könnte, zeigt sich im solothurnischen Bellach bei der Fraisa AG. 220 An-
gestellte produzieren hier Werkzeuge für
die Metallbearbeitung. Fast jeder Fünfte
hat keine abgeschlossene Berufsbildung
in der Metallbranche. «Wir müssen die
Produktivität stark steigern, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Das erreichen wir über mehr Automation», sagt Fraisa-Chef Josef Maushart.
Mehr Automation heisst weniger Handarbeit – also weniger Arbeit für jene, die
einfachste Tätigkeiten in der Produktion
ausführen. Gerade in diesen Berufen ist
der Anteil Ungelernter mit rund 20 Prozent aber immer noch relativ hoch.
Um mit der Automatisierung mitzuhalten, absolvieren viele Angestellte der
Fraisa AG nun eine berufsbegleitende
Nachholbildung, zum Beispiel als Produktionsmechaniker oder Anlagenführer. Das sei unabdingbar für ihre berufliche Zukunft, sagt Maushart, denn: «Ein
Grossteil der Arbeitsplätze für Ungelernte in der MEM-Industrie wird in den
nächsten fünf Jahren verschwinden.»
Pensionskasse der Credit Suisse senkt Umwandlungssatz und streicht Privilegien
Mit ihren Massnahmen wird
die Vorsorgeeinrichtung
der Grossbank nicht lange
allein bleiben. Andere Kassen
werden nachziehen.
Jürg Rüttimann
Für Angestellte der Credit Suisse, die mit
einem Auge schon Richtung Pensionierung schielen, ist es ein harter Brocken.
Am Montag hat die Pensionskasse der
Bank ihr neues Vorsorgemodell veröffentlicht. Dieses sieht eine Erhöhung
des Pensionsalters von 63 auf 65 Jahre
vor. Zudem wird bis 2025 der Umwandlungssatz – jener Wert also, mit dem bei
der Pensionierung die Höhe der Rente
bestimmt wird – von derzeit etwas über
6 Prozent auf 4,865 Prozent gesenkt. Der
technische Zinssatz schliesslich, mit
dem pensionskassenintern das notwendige Kapital errechnet wird, um die Renten zu gewährleisten, wurde per Jahreswechsel von 3 auf 2 Prozent gesenkt.
Dies hat auch den Deckungsgrad der
Pensionskasse – wenn auch immer noch
auf relativ hohem Niveau – gedrückt, wie
aus den auf der Website der CS-PK veröffentlichten Informationen hervorgeht. Mit den Anpassungen verlieren CSMitarbeiter einerseits Privilegien: Dass
Pensionierungen vor dem ordentlichen
Pensionsalter Standard sind, gibt es fast
nur in der Finanzbranche. Und auch da
gerät das Privileg immer mehr unter
Druck. Anderseits sind die Schritte der
CS-Pensionskasse aber im Zusammenhang mit dem momentanen Zinsumfeld
sowie der Demografie zu sehen.
So lassen sich ohne grosse Risiken
kaum noch Renditen auf dem Kapital erzielen, mit dem eigentlich die laufenden
Rentenverpflichtungen gedeckt sein
sollten. Und da die Bevölkerung immer
älter wird, müsste das angesparte Kapital erst noch länger reichen. In einem
auf der Website der CS-Pensionskasse
veröffentlichten Interview weist Geschäftsführer Martin Wagner denn auch
darauf hin, dass angesichts des Zinsumfelds und der steigenden Lebenserwar-
tung das hohe Leistungsniveau der
Kasse langfristig nicht mehr finanzierbar sei. Bei den deshalb getroffenen
Massnahmen habe der Stiftungsrat aber
Wert darauf gelegt, dass die Kosten nicht
ausschliesslich zulasten der jüngeren aktiven Versicherten gehen.
Stefan Thurnherr vom VZ Vermögenszentrum überrascht der Schritt der
CS-PK nicht. Mit der «erdrutschartigen
Anpassung» nehme die Vorsorgeeinrichtung der Grossbank aber auch etwas die
Rolle eines Eisbrechers ein. Denn noch
haben nicht viele Pensionskassen den
technischen Zinssatz so tief gesenkt wie
nun die CS-Institution. Das zeigt die
Branchenumfrage des Fondsanbieters
Swisscanto vom letzten Frühling, wonach der technische Zinssatz durchschnittlich bei 2,76 Prozent lag. Damit
kalkulierten offensichtlich viele PKs mit
einem Satz, der höher ist als der Referenzwert der Schweizerischen Kammer
der Pensionskassen-Experten (SKPE),
der aktuell bei 2,75 Prozent liegt. Das ist
ein Hinweis darauf, dass nicht wenige
Kassen in nächster Zeit der CS-PK nach-
folgen dürften. Denn laut SKPE sollte der
technische Zinssatz der PKs den Referenzwert eigentlich nicht überschreiten.
«Jene Kassen, die den Satz nicht oder
noch nicht senken, leben einfach länger
und stärker auf Pump», sagt VZ-Pensionskassenexperte Thurnherr dazu. Tendenziell würden sich Stiftungsräte eben
eher zu spät zu einem solchen Schritt
Pensionskassen: Technischer
Zinssatz laufend gesenkt
Entwicklung des durchschnittlichen Zinssatzes, in %
4,0
3,5
3,0
2006
2008
2010
TA-Grafik mrue /Quelle: Swisscanto
2012
2014
durchringen – am Ende sei er für die Stabilität der Vorsorgeeinrichtung aber unabdingbar. Wie gross der Spielraum dabei ist – etwa punkto Tempo der Umstellungen oder bezüglich Abfederungen
von Massnahmen – hänge einzig und allein von deren Gesundheit ab.
Eine andere Vorsorgeeinrichtung, die
wie die CS-PK ihren Zinssatz bereits auf
2 Prozent gesenkt hat, ist die BVK. Weil
die aus der kantonalen Beamtenversicherungskasse hervorgegangene BVK, die
eine der grössten Pensionskassen der
Schweiz ist, finanziell aber nicht so gut
dasteht, erfolgt die Anpassung der Umwandlungssätze auf einen Schlag. Bei den
bei der BVK versicherten Lehrer, Kantons- und Gemeindeangestellten hat dies
für entsprechenden Unmut gesorgt.
Da Vorsorgeverpflichtungen auch in
den Unternehmensbilanzen aufgeführt
werden, dürfte das neue Vorsorgemodell der CS-PK auch die Konzernbilanz
etwas entlasten. Ausschlaggebend gewesen sein dürfte dieser Faktor angesichts
der Rahmenbedingungen für Pensionskassen aber kaum.