Ausgabe 01/2016

ROXIN Newsletter – Ausgabe 1 / 2016
Liebe Leserin, lieber Leser,
FIFA und VW sind weiterhin in den Schlagzeilen; in Sachen Korruption steht eine Neuregelung der Bestechung und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen bevor. Wir behalten das
Geschehen im Rampenlicht natürlich im Blick. Daneben wollen wir aber auch auf unterschwellig verlaufende Entwicklungen aufmerksam machen.
Als Strafverteidiger beobachten wir aufmerksam, ob und wie sich die strafprozessualen
Rahmenbedingungen verändern. Seit dem 13.10.2015 liegen die Vorschläge der Expertenkommission zur Reform des Strafprozessrechts beim Bundesministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz vor. Nach ersten Einschätzungen werden sie keine große Strafprozessreform zur Folge haben. Insbesondere in Sachen Transfer von Beweismitteln aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung halten sich die Mitglieder der Expertenkommission bedeckt. Wohin die Reise gehen könnte, wurde 2015 auf dem 39. Strafverteidigertag
in Lübeck ausführlich diskutiert (vgl. z.B. Eckstein, Reform der Hauptverhandlung nach
anglo-amerikanischem Vorbild?, in: Welche Reform braucht das Strafverfahren? Texte und
Ergebnisse des 39. Strafverteidigertages Lübeck, 6. – 8.3.2015, Berlin 2016, S. 107 ff.). Kurz
gesagt: Die Bedeutung der Verteidigung schon im Vorverfahren wird weiter zunehmen.
Wir haben in dieser Ausgabe unseres ROXIN Newsletters Wirtschafts- und Steuerstrafrecht
einige aktuelle Gerichtsentscheidungen vor allem zu strafprozessualen Fragen für Sie aufbereitet. Außerdem bieten wir in regelmäßigen Abständen Seminare und Vorträge zu wechselnden Themen aus allen Bereichen des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts an. Wir freuen
uns besonders, Ihnen einen Praxis-Vortrag zum US-amerikanischen Foreign Corrupt
Practices Act (FCPA) mit Herrn David W. Simon am 20. Mai 2016 in München ankündigen zu können. Herr Simon ist Rechtsanwalt und FCPA-Experte in unserer ROXIN Alliance
US-Partnerkanzlei Foley & Lardner. Nähere Informationen zu dieser Veranstaltung und
zum ROXIN Seminarprogramm finden Sie am Ende dieses Newsletters.
ROXIN Newsletter – 1 / 2016
Im Voraus vielen Dank für Feedback und Anregungen. Wir wünschen Ihnen gewinnbringende Lektüre!
Herzliche Grüße
Für Herausgeber und Redaktion
Ihr
Ken Eckstein
PD Dr. Ken Eckstein, ROXIN Rechtsanwälte LLP
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ROXIN Newsletter – 1 / 2016
Wirtschaftsstrafrecht
BGH zur Strafbarkeit wegen Betrugs durch Verwendung gefälschter Überweisungsträger
Die Betrugsstrafbarkeit setzt den Nachweis eines täuschungsbedingten Irrtums bei einem
Menschen voraus. Daran fehlt es, wenn die entsprechende Vermögensverfügung auch rein
maschinell herbeigeführt worden sein könnte.
BGH, Beschluss vom 11.11.2015 - 2 StR 299/15 = BeckRS 2016, 01160
Die Angeklagte hatte Überweisungsträger dahingehend gefälscht, dass diese in Wahrheit
nicht erteilte Überweisungsaufträge der Geschädigten auf das Konto der Angeklagten auswiesen. Das LG Bonn stellte fest, dass die Angeklagte diese Überweisungsträger eingereicht habe, wodurch es „bei der Bank“ zu einem täuschungsbedingten Irrtum und zu entsprechenden Vermögensverfügungen, also Überweisungen auf das Konto der Angeklagten
gekommen sei. Das bewertete das LG jeweils als Betrug i.S.d. § 263 StGB.
Der BGH kritisiert, dass Feststellungen fehlen, wie genau der einzelne Überweisungsvorgang abgewickelt wurde. So bleibe unklar, ob tatsächlich ein Bankmitarbeiter persönlich
die Überweisungsträger bearbeitet und irrtumsbedingt die Überweisungen veranlasst
habe oder ob dies automatisiert-maschinell erfolgt sei. Im letzteren Fall scheide aber eine
Betrugsstrafbarkeit aus, weil § 263 StGB zwingend den Irrtum eines Menschen voraussetze. Es habe dann vielmehr eine Verurteilung wegen Computerbetrugs nach § 263a StGB
erfolgen müssen.
Zudem ließen die Feststellungen in einzelnen Fällen keine sichere Beurteilung zu, ob es
sich um vollendete oder nur versuchte Betrugs- oder Computerbetrugstaten gehandelt
habe. Es sei teilweise unklar, welches Stadium die „Abbuchungen“ erreicht hatten, bevor
sie – aus ebenfalls unklaren Gründen – „zurückgebucht“ wurden. Darauf komme es aber
für die Abgrenzung zwischen schadensgleicher Vermögensgefährdung, also Vollendung,
und bloßem Versuch entscheidend an.
Praxis-Tipp
von David Rieks, LL.M. (Columbia/UvA), ROXIN Rechtsanwälte LLP
Eine umfassende Strafverteidigung hat stets die Feststellung des Sachverhalts, seine rechtliche Bewertung sowie die Strafzumessung im Blick zu behalten. Eine Verurteilung setzt
primär die umfassende und verwertbare Feststellung des abzuurteilenden Sachverhalts
voraus. Ob dies durch das Gericht fehlerfrei erfolgt, hat die Verteidigung bei der Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels genau zu prüfen. Im vorliegenden Fall mag
zwar die Abgrenzung zwischen Betrug und Computerbetrug wegen der insoweit identischen Strafandrohung und einer bei Unaufklärbarkeit möglichen Wahlfeststellung für den
Mandanten als eher akademischer Streit weniger wichtig erscheinen. Wegen der Strafmilderungsmöglichkeit nach § 23 Abs. 2, § 49 StGB ist dagegen die Frage, ob ein Versuch oder
ein vollendetes Delikt vorliegt, für den Mandanten von wesentlicher Bedeutung.
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Aus Unternehmenssicht kann die vorliegende Entscheidung als Anlass dienen, intern zu
überprüfen, inwiefern das eigene Unternehmen gegen einen sog. „Überweisungsbetrug“
abgesichert ist. In der jüngeren Vergangenheit kam es (erneut) im gesamten Bundesgebiet
zu Tatserien, in denen Dritte mit öffentlich zugänglichen Unterschriften der Geschäftsleitungen diverser Unternehmen Überweisungsträger fälschen und beträchtliche Schäden
anrichten konnten.
Hier bietet es sich aus Unternehmenssicht an, mit der Hausbank eindeutige Zahlungsanweisungsprozesse (z.B. ausschließlicher Rückgriff auf elektronische Zahlungsanweisungen) festzulegen. Zudem sollte sowohl intern als auch mit den Sachbearbeitern des Kreditinstituts ein klar definierter Kommunikationskanal etabliert werden, auf dem für den
Fall des Eingangs systemwidriger Zahlungsanweisungen schnell und effektiv Klärung über
die Rechtmäßigkeit erreicht werden kann. Dies dürfte helfen, etwaigen „irrtumsbedingten
Vermögensverfügungen“ auf Seiten der Bank bereits präventiv zu begegnen.
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Strafprozessrecht
1. BGH und FG Schleswig-Holstein zu den Rechten von Berufsgeheimnisträgern
1. (BGH) Das Gericht verletzt seine Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO nicht, wenn
es die vollumfängliche Verlesung eines ärztlichen Berichts unterlässt, nachdem sich der
ärztliche Sachverständige bezüglich eines bestimmten Sachverhaltskomplexes auf sein
Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO berufen hat.
2. (FG Schleswig-Holstein) Die Zurückbehaltungsrechte aus § 66 StBerG bzw. § 273 BGB
stehen der aus § 147 Abs. 6, §§ 97, 104 Abs. 2 AO entspringenden Verpflichtung eines Steuerberaters, Buchführungsdaten seines Mandanten an die Finanzverwaltung zu übermitteln oder alternativ gegenüber DATEV die Freigabe zu erklären, nicht entgegen. Zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen dem Mandanten und dem Steuerberater sind insoweit nicht
von Belang.
BGH, Beschluss vom 11.11.2015 - 2 StR 180/15 = BeckRS 2015, 20997
FG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12.10.2015 - 2 V 95/15 = BeckRS 2015, 95821
1. Der Entscheidung des BGH zum Zeugnisverweigerungsrecht eines sachverständigen
Zeugen lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Angeklagte war nach einem Suizidversuch intensivmedizinisch betreut worden. Im Anschluss wurde der sachverständige Zeuge
Dr. S. als Konsiliararzt hinzugezogen, um eine Einschätzung hinsichtlich der weiteren Suizidgeneigtheit der Angeklagten abzugeben. Hierzu fertigte der Zeuge einen schriftlichen
Bericht, aus dem die Nebenkläger im Verfahren vor allem Rückschlüsse auf einen schon
länger zuvor gefassten Tatplan der Angeklagten ziehen wollten. Nachdem die Angeklagte
vorsorglich die Schweigepflichtentbindung widerrufen hatte, machte der Zeuge zwar Angaben zur Befindlichkeit der Angeklagten, berief sich aber im Übrigen auf sein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Das Landgericht Marburg sah in der Folge
davon ab, den schriftlichen Bericht des Zeugen Dr. S. durch Verlesung in die Hauptverhandlung einzuführen. Die Nebenkläger sahen darin eine Verletzung der Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO durch das Gericht.
Der BGH teilt diese Ansicht nicht. Er führt aus, dass die Verlesung des Berichts gegen
den Grundsatz der Unmittelbarkeit verstoßen hätte; § 250 S. 2 StPO verbietet es, Urkunden zu verlesen, anstatt einen Zeugen zu vernehmen. Soweit ein Zeuge von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch mache, würde eine Verlesung der von ihm stammenden
Erklärungen seine mündliche Vernehmung ersetzen und außerdem das Zeugnisverweigerungsrecht unterlaufen. Auch im Falle einer Teilaussage dürfe nicht pauschal auf alle
schriftlichen Erklärungen des Zeugen zurückgegriffen werden. Außerdem habe sich die
Verwertung des Berichts des Dr. S. schon nicht aufdrängen müssen.
2. Das FG Schleswig Holstein hatte über folgenden Fall zu entscheiden: Die Antragstellerin
war in den Jahren 2010 bis 2012 als Steuerberatungsgesellschaft eines Gastwirts tätig und
fertigte für ihn Steuererklärungen und Gewinnmitteilungen an. Ab dem Jahr 2013 beauftragte der Gastwirt einen neuen Steuerberater. Als die Finanzverwaltung für die Jahre 2010
bis 2012 eine Außenprüfung anordnete und sich wegen der notwendigen Daten an den
neuen Steuerberater des Gastwirts wandte, teilte dieser der Finanzverwaltung mit, dass
sich die notwendigen Daten noch bei der ehemaligen Steuerberatungsgesellschaft, der Antragstellerin, befänden. Die Antragstellerin mache aber wegen offener Honorarforderun5
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gen ein Zurückbehaltungsrecht geltend. Daraufhin forderte die Finanzverwaltung im Mai
2015 per Bescheid von der Antragstellerin die Herausgabe eines entsprechenden Datenträgers, hilfsweise eine Freigabeerklärung gegenüber DATEV. Die Antragstellerin beantragte
mit Verweis auf ihre Zurückbehaltungsrechte beim Schleswig-Holsteinischen Finanzgericht die Aussetzung der Vollziehung des Bescheids.
Der Antrag blieb ohne Erfolg. Das Gericht hatte nach summarischer Prüfung keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Herausgabeverlangens. Nach § 147 Abs. 6, §§ 97 i.V.m. 104
Abs. 2 AO habe das Finanzamt einen Anspruch auf Herausgabe der verlangten Daten. §
147 Abs. 6 S. 2 AO enthalte die entsprechende Ermächtigungsgrundlage für die Finanzverwaltung, im Rahmen von Außenprüfungen Einsicht in gespeicherte Daten zu nehmen
oder sich diese zur Verfügung stellen zu lassen. Die Antragstellerin sei als Steuerberatungsgesellschaft „andere Person“ i.S.d. § 97 Abs. 1 S. 1 AO und über § 104 Abs. 2 AO – trotz
des Auskunftsverweigerungsrechts der Steuerberater – genauso zur Herausgabe der Daten
verpflichtet, wie es der Steuerpflichtige selbst wäre, wenn sich die Daten bei ihm befänden. Trotz der zivilrechtlichen Streitigkeiten bewahre die Antragstellerin die Daten für
den steuerpflichtigen Gastwirt auf. Auch die insoweit geltend gemachten Zurückbehaltungsrechte änderten nichts am Herausgabeanspruch. Erstens spiele es für die vorliegende
öffentlich-rechtliche Streitigkeit keine Rolle, ob und inwieweit die Steuerberaterleistungen
ordnungsgemäß erbracht und zu vergüten waren. Und zweitens wirkten sowohl das spezielle Zurückbehaltungsrecht aus § 66 Abs. 2 StBerG als auch das allgemeine schuldrechtliche Zurückbehaltungsrecht aus § 273 BGB jeweils nur im Verhältnis zwischen Steuerberater und Mandant und könnten daher nicht gegenüber dem Finanzamt geltend gemacht
werden. Da die Daten vom Finanzamt auch nicht an den Gastwirt weitergegeben würden,
werde das Zurückbehaltungsrecht der Antragstellerin nicht konterkariert.
Praxis-Tipp
von Dr. Ramona Francuski, ROXIN Rechtsanwälte LLP
Diese beiden Entscheidungen verdeutlichen den grundlegend unterschiedlichen Umgang
mit Zeugnisverweigerungsrechten von Berufsgeheimnisträgern im Straf- und Steuerrecht.
Während der 2. BGH-Strafsenat bei einer Teilaussage eines von der Schweigepflicht nicht
entbundenen Arztes und Berufung auf § 53 StPO im Übrigen den pauschalen Zugriff auf
dessen weitere schriftliche Erklärungen nicht zulässt, erlegt das Schleswig Holsteinische
Finanzgericht dem nach § 102 Abs. 1 Nr. 3b AO auskunftsverweigerungsberechtigten Steuerberater eine Pflicht zur Herausgabe von Unterlagen im selben Umfang wie dem Steuerpflichtigen auf. Vor diesem Hintergrund sollten im Steuerberaterbüro nur diejenigen
Unterlagen belassen werden, die zur Wahrnehmung der steuerlichen Pflichten vonnöten
sind. Eine solche Herausgabepflicht würde den Angeklagten in einem Strafverfahren vor
dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes keinesfalls treffen; die Entscheidungen
betonen damit abermals die Unterschiede in der Mitwirkungspflicht des Betroffenen in
den verschiedenen Verfahrensarten. Da sich diese auch in einem Besteuerungs- und einem
parallel wirkenden Steuerstrafverfahren auswirken können, ist sowohl dem Betroffenen
als auch zur Aussage aufgeforderten Berufsgeheimnisträgern zu raten, kundigen Rechtsrat
einzuholen.
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2. OLG Braunschweig zum Akteneinsichtsrecht des Verletzten
In einer „Aussage gegen Aussage“-Konstellation kann der Verletztenseite ein uneingeschränktes Einsichtsrecht in die Verfahrensakten auch dann zustehen, wenn die Angaben
des Verletzten zum Kerngeschehen von denen des Angeklagten abweichen. Einer Beeinträchtigung des Untersuchungszwecks kann etwa dadurch entgegengewirkt werden, dass
der Verfahrensbevollmächtigte der Verletztenseite zusichert, die Akten nicht an den Verletzten persönlich weiterzugeben.
OLG Braunschweig, Beschluss vom 03.12.2015 - 1 Ws 309/15 = BeckRS 2015, 20532
Anlässlich eines zunächst nicht dem Wirtschaftsstrafrecht zuzuordnenden Sachverhalts
hat das OLG Braunschweig zu einer strafprozessualen Frage Stellung genommen, die Auswirkungen auf allen Gebieten des Strafrechts haben kann.
Dem Angeklagten wurde in der Hauptsache vorgeworfen, eine Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen zu haben. Die von der Nebenklägerseite
beantragte Akteneinsicht hatte das Tatsachengericht fast vollumfänglich abgelehnt, weil
sie den Untersuchungszweck gefährde, § 406e Abs. 2 S. 2 StPO. Die hiergegen sowohl von
der Nebenklage als auch von der Staatsanwaltschaft gerichtete Beschwerde hatte Erfolg.
Das OLG Braunschweig gesteht dem Beistand der Nebenklägerin einen Anspruch auf Akteneinsicht nach § 406e Abs. 1 StPO zu. Der Versagungsgrund des Abs. 2 S. 2 liege nicht
vor. Das OLG führt hierzu aus, dass der Untersuchungszweck nur dann gefährdet sei, wenn
die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt
einer von ihm noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte. In sogenannten „Aussage gegen Aussage“-Konstellationen sei das möglich; eine durch den Beistand
vermittelte Kenntnis des Akteninhalts könne die Aussagekonstanz des Verletzten beeinträchtigen. Diese Gefahr sei im vorliegenden Verfahren aber als gering einzuschätzen.
Dem Grad der Aussagekonstanz dürfe nicht schematisch eine bestimmte Bedeutung zugemessen werden. Vielmehr sei einzelfallabhängig zu prüfen, ob eine festgestellte Konstanz
oder Inkonstanz eher für oder gegen die Glaubwürdigkeit der Angaben spreche. Die Versagung des Akteneinsichtsrechts sei daher in derartigen Konstellationen nicht zwingend.
Überdies würde es sich eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeklagten auswirken, wenn
Konstanz und Gewicht der Aussage der Nebenklägerin mit Blick auf ihre vorherige Akteneinsicht relativiert werden könnten. Vor allem aber habe der Beistand der Nebenklägerin
zugesichert, den Akteninhalt der Nebenklägerin persönlich nicht zukommen zu lassen.
Derartige Zusicherungen seien zwar nicht prozessual durchsetzbar, jedoch zeige die Erfahrung, dass derartige Vereinbarungen seitens der Anwaltschaft eingehalten werden, um
den Beweiswert der Aussagen der eigenen Mandantschaft nicht zu schmälern. Der Nebenkläger selbst sei als Zeuge bei Strafdrohung zur Wahrheit verpflichtet und könne zur
Einhaltung der Vereinbarung befragt werden.
Schließlich habe der Nebenklagevertreter ohnehin eine Abschrift der Anklageschrift erhalten und sei daher im Wesentlichen über die Aussagen des Angeklagten und der Verletzten informiert. Er könne sein Beweisantragsrecht kaum sinnvoll ausüben, wenn ihm
unbekannt sei, welche Beweismittel bereits aktenkundig sind. Das Akteneinsichtsrecht zu
versagen, würde den Nebenkläger zum bloßen Beweisobjekt degradieren, was der Intention des 2. Opferrechtsreformgesetzes zuwiderliefe.
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ROXIN Newsletter – 1 / 2016
Praxis-Tipp
von Dr. Frédéric Schneider, ROXIN Rechtsanwälte LLP
Mit der vorliegenden Entscheidung stellt sich das OLG Braunschweig mit überzeugender
Begründung gegen eine maßgeblich vom OLG Hamburg proklamierte Ansicht, die im Falle einer „Aussage gegen Aussage“-Konstellation der Nebenklage ein Akteneinsichtsrecht
kategorisch verweigern will. Die Ausführungen des OLG Braunschweig überzeugen, weil
die erkennenden Richter zwar anerkennen, dass der Wert einer Zeugenaussage durch Aktenkenntnis geschmälert werden kann, aber zu Recht statuieren, dass stets eine Entscheidung im Einzelfall geboten ist. Auch diese konkrete Einzelfallentscheidung gelingt dem
OLG Braunschweig und das nicht nur, weil es auf die besondere Rolle des Rechtsbeistands
im Verfahren rekurriert. Vielmehr betont das OLG insbesondere zu Recht die herausgehobene Stellung des Nebenklägers im Verfahren. Eine Verfahrensstellung, die im Wirtschaftsstrafrecht bisher nur selten genutzt wird, bei genauer Betrachtung aber viele interessante Einflussnahmemöglichkeiten im Prozess eröffnet. Es bleibt abzuwarten, wie das OLG
Hamburg und andere Obergerichte auf die Entscheidung reagieren werden – jedenfalls
aber erscheint es aus Sicht eines Akteneinsichtsberechtigten stets geboten, die Ablehnung
eines Akteneinsichtsgesuchs mit Hilfe des beauftragten Rechtsanwalts kritisch in Frage zu
stellen.
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3. BGH zu den Grenzen der Mitwirkungspflicht von Telekommunikationsdienstleistern
Die Überwachung der Telekommunikation nach § 100a StPO (Telephongespräche, E-Mail,
Kommunikation im Internet) greift nicht nur in Grundrechte des Überwachten ein (Telekommunikationsgeheimnis, Art. 10 GG). Vielmehr ist auch der Telekommunikationsdienstleister, der den Ermittlungsbehörden den Zugriff auf Telekommunikation ermöglichen soll, in seinen Grundrechten betroffen (Berufsausübungsfreiheit, Art. 12 GG). Daraus
resultieren Eingriffsgrenzen. Die Strafprozessordnung erlaubt es nicht, vom Telekommunikationsdienstleister zu verlangen, die IP-Adressen zu ermitteln, von denen aus ein bestimmter Teil einer Internetseite mit einer bestimmten Internetbrowserversion aufgerufen
wird.
BGH, Beschluss vom 20.8.2015 – StB 7/15 = NStZ-RR 2015, 345
In einem vom BGH nicht näher spezifizierten Strafverfahren gegen Unbekannt sollten die
Personen festgestellt werden, die eine bestimmte Seite (Sub-URL) innerhalb einer Internetseite (URL) besuchen. Diese Ermittlungsstrategie kann insbesondere dann sinnvoll sein,
wenn eine Straftat sich auf inkriminierte Inhalte im Internet bezieht.
Um die Besucher der Internetseite zu ermitteln, wurden einem Telekommunikationsdienstleister vier Pflichten auferlegt: (1) Ausleitung aller Anfragen an den DNS-Server, die
sich auf die übergeordnete URL der Haupt-Internetseite beziehen, (2) Filterung der Ergebnisse nach den Suchkriterien „bestimmte Browserversion“ und „bestimmte Sub-URL“
der Ziel-Internetseite, (3) Mitteilung der von den Besuchern verwendeten dynamischen
IP-Adressen, (4) Auskunft über die zugehörigen Bestandsdaten, also die Personalien der
Besucher.
Die Pflichten (1) bis (3) stützte der Ermittlungsrichter des BGH auf Antrag des Generalbundesanwalts auf die Befugnisnormen zur Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation, §§ 100a, 100b StPO. Pflicht (4) wurde als Bestandsdatenauskunft nach
§ 100j Absatz 1 und 2 StPO angeordnet. Gegen die Anordnung nach §§ 100a, 100b StPO
legte der Telekommunikationsdienstleister Beschwerde ein (§ 304 Absatz 5 i.V.m. § 101
StPO).
Der angerufene Strafsenat des BGH hat entschieden: Dem Telekommunikationsdienstleister die Pflicht aufzuerlegen, Telekommunikation nach bestimmten Merkmalen zu filtern
– oben Pflicht (2) –, findet in den Vorschriften der StPO keine Stütze, ist also mangels
gesetzlicher Grundlage ein unzulässiger Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12
GG). In den Worten des BGH ist die Filterung „Überwachung“ und damit Aufgabe der
Ermittlungsbehörden selbst.
Zur Begründung führt der BGH weiter aus: Telekommunikationsdienstleister nimmt
§ 100b Abs. 3 StPO nur insoweit in die Pflicht, als sie den Ermittlungsbehörden die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation (§ 100a StPO) ermöglichen und
erforderliche Auskünfte erteilen müssen. Die Durchführung der Maßnahme selbst, also
Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation, insbesondere die Kenntnisnahme von ihrem Inhalt, obliegen dagegen allein den Ermittlungsbehörden. Für die Telekommunikationsdienstleister und ihre Mitarbeiter bleibt es damit beim grundsätzlichen
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ROXIN Newsletter – 1 / 2016
Kenntnisnahmeverbot, dem Fernmeldegeheimnis, das § 88 TKG statuiert: Kenntnisnahme
von Inhalt und näheren Umständen der Telekommunikation nur, soweit die Erbringung
der Telekommunikationsdienstleistung es erfordert – Browserversionen und Sub-URLs zu
kennen, ist für den Netzbetreiber nicht erforderlich, um die Telekommunikationsdienstleistung zu erbringen.
Praxis-Tipp
von PD Dr. Ken Eckstein, ROXIN Rechtsanwälte LLP
Die Entscheidung des BGH ist systematisch interessant, weil sie einen Aspekt strafprozessualer Grundrechtseingriffe anspricht, der selten Beachtung findet: die Indienststellung
privater Aufklärungsgehilfen zu Beweiszwecken (näher dazu Eckstein, Ermittlungen zu
Lasten Dritter, 2013, S. 82 ff.). Praktisch bedeutsam ist die Entscheidung, weil sie einerseits Grenzen der Indienststellung herausarbeitet und andererseits daran erinnert, dass die
Pflicht, Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung zu ermöglichen, jeden Telekommunikationsdienstleister trifft, § 100b Abs. 3 Satz 1 StPO.
Damit reicht die Vorschrift weiter als § 206 StGB, um dessen Anwendungsbereich im Recht
des Arbeitnehmerdatenschutzes gestritten wird: Nach § 206 StGB machen sich nur Inhaber oder Beschäftigte von Unternehmen strafbar, die geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringen. Ob ein Arbeitgeber darunter fällt, der seinen Arbeitnehmern die private Nutzung beispielsweise ihrer betrieblichen E-Mail-Accounts gestattet, ist umstritten
(näher dazu Süße/Eckstein, Aktuelle Entwicklungen im Bereich „Interne Untersuchung“,
Beck Newsdienst Compliance 9/2014, 19 ff., 20 f.) – § 100b Abs. 3 Satz 1 StPO gilt ohne
weiteres, also unabhängig vom Erfordernis der Geschäftsmäßigkeit.
Von der Ermöglichungspflicht in § 100b Abs. 3 Satz 1 StPO unterscheidet das Gesetz die
Pflicht, für Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen Vorkehrungen zu treffen,
§ 100b Abs. 3 Satz 2 StPO. Insofern bestimmt § 3 Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV), dass zu technischer und organisatorischer Umsetzung der Überwachung nur verpflichtet ist, wer Telekommunikationsdienste für die Öffentlichkeit erbringt
(mit Teilnehmeranschlüssen, mehr als 10.000 Teilnehmern etc.).
Die allgemeine Ermöglichungspflicht nach § 100b Abs. 3 Satz 1 StPO trifft dagegen jeden Telekommunikationsdienstleister. Sie entfaltet damit Breitenwirkung für Unternehmen auch außerhalb der Telekommunikationsbranche. Vor diesem Hintergrund macht
die Entscheidung des BGH deutlich, dass wirkungsvoller Schutz subjektiver Rechte vor
Belastungen durch ein Strafverfahren im Vorverfahren beginnen kann und muss – bei
Beschuldigten ebenso wie bei nichtbeschuldigten Dritten.
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ROXIN Newsletter – 1 / 2016
In eigener Sache
Praxis-Vortrag am 20. Mai 2016 in München
„Der US-amerikanische FCPA – Herausforderungen und Best Practices für deutsche Unternehmen“
Der US-amerikanische Foreign Corrupt Practices Act (FCPA) richtet sich an alle Unternehmen mit Bezug zum US-Markt. Aufgrund dieser grenzüberschreitenden Reichweite
müssen auch viele deutsche Unternehmen die Vorgaben des FCPA beachten. Die amerikanischen Ermittlungsbehörden haben jüngst angekündigt, die Verfolgung von Verstößen
gegen den FCPA weiter zu intensivieren.
Wir laden Sie ein, sich am 20. Mai 2016 von 9:00 - 12:30 Uhr in München zu informieren. Zusammen mit unserer ROXIN Alliance US-Partnerkanzlei Foley & Lardner haben
wir einen Praxis-Vortrag zum FCPA für Sie vorbereitet. Zu den Vortragenden gehört der
US-amerikanische Rechtsanwalt David W. Simon. Er ist ausgewiesener Experte in Fragen
des FCPA. Der Vortrag trägt den Titel:
„Der US-amerikanische FCPA – Herausforderungen und Best Practices für deutsche
Unternehmen“
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wechselnden Themen aus allen Bereichen des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts für Unternehmensjuristen und Compliance-Verantwortliche an. Sie finden unser Seminarprogramm im Internet und können sich dort online anmelden:
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RA David Rieks, LL.M. (Columbia/UvA),
ROXIN Rechtsanwälte LLP,
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Tobias Stadler, wissenschaftlicher Mitarbeiter,
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