Lateinische Lektüre Ferienübung Den folgenden Text zu verstehen sollte nicht übermäßig schwer sein; ihn in angemessenes Deutsch zu übersetzen könnte sich allerdings als schwieriger herausstellen als gedacht. Die Kürze und Eleganz des lateinischen Originals wird z. B. durch etliche Partizipialkonstruktionen erreicht, die im Deutschen nicht in gleicher Weise nachgeahmt wer- Seite ___ den können. Der deutsche Text wird daher unweigerlich deutlich länger und „behäbiger“ ausfallen. Versuchen Sie dennoch, den Sinn möglichst treffend in „schönes“ Deutsch zu übertragen! Vielleicht erledigen Sie auch zuvor noch die Grammatikübung, um die Übersetzung von Partizipialkonstruktionen (§§ 23.6–23.9) im Vorfeld noch einmal zu üben. NB: Alle §-Angaben beziehen sich auf den Grammatikteil meines Buches „Prüfungswissen Latinum“ (Stark-Verlag). Das Testament des Hundes (Poggio Bracciolini: Facetiae 36) Der folgende Text stammt aus dem 1450 veröffentlichten Buch Liber facetiarum des italienischen Autors Poggio Bracciolini. Dieser hatte viele Jahre als Sekretär im Vatikan gewirkt und gilt als Schöpfer der Literaturgattung der Fazetie – einer kurzen Erzählung mit witziger Pointe, die jedoch (im Unterschied zur Fabel) keine moralkritische Absicht verfolgt. Erat sacerdos rusticanus in Tuscia admodum opulentus. Hic caniculum sibi carum, cum mortuus esset, sepelivit in coemeterio. Audivit de ea re Episcopus et in eius pecuniam animum intendens sacerdotem velut maximi criminis* reum ad se vo5 cat ad eum puniendum. Sacerdos, qui animum Episcopi satis noverat, quinquaginta aureos secum deferens ad Episcopum venit. Qui sepulturam canis graviter accusans iussit ad carceres sacerdotem duci. Hic vir sagax autem: „O Pater“, inquit, „si nosceres, qua 10 prudentia caniculus fuit, non mirareris, si sepulturam inter homines meruit; fuit enim plus quam ingenio humano, cum in vita tum praecipue in morte.“ – „Quidnam hoc est?“, ait Episcopus. – „Testamentum“, inquit sacerdos, „in fine vitae condens sciensque egestatem tuam tibi quinquaginta aureos 15 rusticanus, a, um: auf dem Land lebend | Tuscia, ae f.: Toskana (Gegend nördl. von Rom) | opulentus, a, um ~ dives | caniculus, i m. ~ parvus canis | mortuus, a, um: gestorben | sepelire 4.: begraben, beerdigen | coemeterium, i n.: Friedhof | Episcopus, i m.: Bischof | animum intendere (in …): (an etw.) Interesse haben | reus, i m.: Angeklagter | aureus, i m.: Goldmünze | deferre ~ ferre sagax, acis: schlau, klug, scharfsinnig | Ⓚ quā prudentiā (Abl. qualitatis, § 22.1) | mirareris, si …: „du würdest dich wundern, dass …“ | Ⓚ ingenio humano (Abl. qualitatis) | cum … tum: sowohl … als auch besonders | quidnam: was denn? | ait ~ inquit (vgl. § 9.10) | testamentum condere 3.: sein Testament machen ex testamento reliquit, quod mecum tuli.“ Tum Episcopus et testamentum et sepulturam probans accepta pecunia sacerdotem absolvit. * zu Zeile 4: Da Hunde – als Tiere – nach christlicher Auffassung keine Seele besitzen, dürfen sie auch nicht zusammen mit Menschen beerdigt werden. Grammatikaufgabe Identifizieren Sie jeweils die Partizipialkonstruktion, und übersetzen Sie sie auf verschiedene Weisen! a) Ulixes1 Troia urbe eius dolo a Graecis capta et deleta decem annos a dies iratis per maria agitabatur. b) Ulixes a Penelopa2 uxore Telemacho3 filioque diu exspectatus tandem in patriam venit. c) Incolae Ulixem post multos annos Ithacam4 advenientem non cognoverunt. d) In patriam adveniens Telemachum filium magno gaudio affecit. e) Ulixe post tot annos sibi reddito Penelopa maximis curis liberata est. 1 Ulixes, xis m.: Odysseus | 2 Penelopa, ae f.: Penelope | 3 Telemachus, i m. | 4 Ithaca, ae f.: (die Insel) Ithaka (= Heimat des Odysseus) Lateinische Lektüre Ferienübung Seite ___ Musterübersetzung In der Toskana gab es einen (wörtl.: war ein) auf dem Land lebenden, ziemlich/überaus reichen Priester. Dieser bestattete sein Hündchen, das er sehr gern mochte (wörtl.: sein ihm teures Hündchen), nach dessen Tod (wörtl.: als es gestorben war) auf dem Friedhof. Der Bischof hörte davon (wörtl.: von dieser Sache) und, weil er (p. c.: Episcopus … animum intendens) es auf dessen Geld abgesehen hatte (wörtl.: an dessen Geld Interesse hatte), rief er (im Lat. historisches Präsens) den Priester wie jemanden, der des größten Verbrechens angeklagt ist (wörtl.: wie einen des größten Verbrechens Angeklagten) zu sich, um ihn zu bestrafen. Der Priester, der die Absichten (im Lat. Singular) des Bischofs zur Genüge (satis) kannte (Das Perfekt von cognoscere hat präsentische Bedeutung: novit = er hat erkannt = er kennt; das Plusquamperfekt hat demnach Vergangenheitsbedeutung: noverat = er hatte erkannt = er kannte; vgl. § 9.10 f ), nahm fünfzig Goldmünzen mit sich und (p. c.: sacerdos … deferens) begab sich (wörtl.: kam) zum Bischof. Dieser klagte (p. c.: Qui … accusans … iussit) die Bestattung des Hundes mit gewichtigen Worten (graviter) an und befahl, den Priester ins Gefängnis zu bringen (wörtl.: befahl [+ AcI: sacerdotem … duci], dass der Priester ins Gefängnis (im Lat. Plural) gebracht wird/werde). Dieser scharfsinnige Mann jedoch sagte: „O Vater, wenn du wüsstest (si + Konj. Impf.: Irrealis der Gegenwart, vgl. § 24.4 c und § 25.5 „Konditionalsatz“), wie umsichtig (wörtl.: von welcher Umsicht/Klugheit) (mein) Hündchen gewesen ist, würdest du dich nicht wundern, dass es eine Bestattung unter Menschen verdient hat; es besaß nämlich einen mehr als menschlichen Charakter (wörtl.: war von mehr als menschlichem Charakter), sowohl im Leben als auch besonders im Tode.“ – „Wie kann das denn sein?“ (wörtl.: Was ist denn das?), sagte/fragte der Bischof. – Der Priester antwortete/sagte: „Am Ende seines Lebens hat es ein Testament gemacht und (zwei p. c.: <caniculus> … condens … sciens … reliquit), weil es deine Armut kannte, hat es dir in seinem Testament (wörtl.: aus seinem Testament), das ich mitgebracht habe (wörtl.: mit mir gebracht habe), fünfzig Goldmünzen hinterlassen.“ Da billigte/akzeptierte der Bischof sowohl das Testament als auch die Bestattung und (p. c.: Episcopus … probans) sprach den Priester frei – nachdem er das Geld erhalten hatte (abl. abs.: accepta pecunia). Grammatikaufgabe Identifizieren Sie jeweils die Partizipialkonstruktion, und übersetzen Sie sie auf verschiedene Weisen! a) Troia urbe … capta et deleta = abl. abs. (§ 23.8) Nachdem Troja durch seine List von den Griechen erobert und zerstört worden war, wurde Odysseus zehn Jahre (lang) [Akk. der zeitl. Ausdehnung, § 21.4] von den erzürnten Göttern über die Meere getrieben. | weitere Varianten, z. B.: Weil … b) Ulixes … exspectatus = p. c. (§ 23.7) Endlich kam Odysseus, der von seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemachus lange erwartet worden war, in seine Heimat (zurück). | weitere Varianten, z. B.: nachdem er … erwartet worden war c) Ulixem … advenientem = p. c. Die Einwohner erkannten Odysseus, der nach vielen Jahren nach Ithaka (Akk. der Richtung, § 21.3) kam, nicht. | weitere Varianten, z. B.: als er … kam d) <Ulixes> … adveniens = p. c. Als er in seiner Heimat ankam, bereitete er seinem Sohn Telemachus eine große Freude (afficere + Abl.: wörtl.: erfüllte er seinen Sohn T. mit großer Freude). | weitere Varianten, z. B.: bei seiner Ankunft …; durch seine Ankunft … e) Ulixe … reddito = abl. abs. Dadurch, dass ihr Odysseus nach so vielen Jahren zurückgegeben worden war, wurde/war Penelope von ihren größten Sorgen befreit/frei. | weitere Varianten, z. B.: nachdem ihr …, weil ihr …
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