GEOINFORMATIK Die Kriminalität in Raum und Zeit Die computergestützte Identifizierung kriminogener Faktoren Dipl.-Geogr. Jens Nommel ist GIS-Koordinator bei Oecos-Umweltplanung Verhalten und Lebensraum des Menschen stehen als Teile der Sozialstruktur und des Sozialprozesses in einer Wechselwirkung miteinander. Aus dieser Wechselwirkung entstehen mitunter Kriminalität, Opfer durch Kriminalität und Furcht vor Verbrechen. Die kriminalgeografische Untersuchung mit Geografischen Informationssystemen (GIS) ermöglicht eine raumbezogene Identifizierung von kriminogenen Faktoren. Sie dient dem frühzeitigen Erkennen von Brennpunkten der Kriminalität und Deliktsphänomenen und bildet damit die Grundlage für taktische Führungsentscheidungen. In der Geschichte der Kriminalgeografie hat es vielfältige Erklärungsansätze gegeben, Aufenthalts- und Aktionsgebiete von Delinquenten zu orten. So unterschiedlich die Delinquenzgebiete charakterlich auch sind, eine Gemeinsamkeit besteht nahezu immer im Fehlen einer sozialen Kontrolle. Diese kann beispielsweise durch eine schwache sozioökonomische Struktur oder durch eine nächtliche Verwaisung von Innenstädten hervorgerufen werden. Als weitere „Crime-Generators“ werden in amerikanischen Studien Leerstand, Parkplätze, Bars und Anzeichen der Verwahrlosung (Abfall, Graffiti, Folgen von Vandalismus) bezeichnet. Werden solche Orte aufgrund von Furcht vor Kriminalität von Bürgern gemieden, kann die soziale Kontrolle weiter sinken. Es ist daher erklärtes Ziel der Polizei, Brennpunkte frühzeitig zu erkennen, um geeignete Maßnahmen zur Reduzierung des kriminellen Potenzials ergreifen zu können. Darstellung durch Crime Maps Seit einigen Jahren findet im Bereich der Verknüpfung von Kriminalitätsanalysen mit Hilfe von GIS eine rasante Entwicklung statt. Dies ist einerseits auf die zunehmend digital erfassten polizeistatistischen Daten zurückzuführen, andererseits auf die inzwischen kostengünstige und anwenderfreundliche Software. Beschleunigend hat sich auch die Gründung des CMRC (Crime Bild 1: Perspektivische Ansicht der Häufigkeit jugendtypischer Straßenraubdelikte in Hamburg 1998. Blickrichtung: Nordwest 28 Mapping Research Center) durch das US National Institute of Justice (NIJ) auf die Entwicklung ausgewirkt. Seit 1996 richtet das Institut jährlich Symposien zum Thema aus. Ziel ist es, die Forschung, Evaluation und Verbreitung der Ergebnisse und Erfahrungen voranzutreiben. Als Ergebnis der „Crime Maps“ werden die Tatorte kartografisch dargestellt und die Brennpunkte der Kriminalität statistisch exakt lokalisiert. Das Erkennen von Kriminalitätsstrukturen und deren Verlagerung in Raum und Zeit sind dabei von besonderem Interesse. Bei der Veröffentlichung der dadurch gewonnenen Information, z. B. durch das Internet, schwelt jedoch immer die Gefahr einer örtlichen Stigmatisierung. Ist ein Stadtgebiet erst einmal als kriminell belastet identifiziert, kann in der Folge das individuelle raumbezogene Wissen des Einzelnen, das auf Erfahrungen und Wahrnehmungen beruht, negativ beeinflusst werden. Ein Wohnviertel kann dann im Extremfall zu einem „No-go-Area“ und der oben beschriebene Prozess der Abwanderung und des Sinkens sozialer Selbstkontrolle dadurch eingeleitet werden. Die Veröffentlichung kriminologischer Informationen kann demzufolge die Bewohner im Sinne einer Aufklärung vor Verbrechen schützen, gleichzeitig aber auch Furcht vor Kriminalität produzieren und dadurch soziale Ängste schüren. Analyse der Kriminalitätsverteilung Zur polizeiinternen Zeit-Raum-Analyse registrierter Kriminalitätsdelikte werden schon lange Computer eingesetzt. GIS ermöglichen die schnelle kartografische Lagedarstellung auf Stadtplänen. Bild 1 zeigt Häufungen jugendtypischer Straßenraubdelikte in einer dreidimensionalen Darstellung. Ein anderes Beispiel der Datenverarbeitung ist CrimeStat, ein Programm zur räumlichen Analyse von kriminell belasteten Gebieten, das 1999 am National Institute of Justice entwickelt wurde. Es ist im Internet frei verfügbar (http://www.icpsr.umich.edu/NACJD/crimestat.html) und ermöglicht, geografische Punktdaten einzulesen und diese mit ver- W&S 5/02 Das Thema in Kürze Die Kriminalität in Raum und Zeit Thema: Raum-Zeit-Analyse von kriminalitätsbezogenen Daten Problemstellung: Ein frühzeitiges Erkennen von Brennpunkten der Kriminalität ist die Grundlage für Präventionsmaßnahmen der Polizei. Dazu werden Informationen benötigt, die raum- und zeitbezogen dargestellt werden. Lösung: Am Beispiel Hamburgs kann der Einsatz von GIS zur Analyse von „Hot-Spots“ der Kriminalität beschrieben werden. schiedenen Analysewerkzeugen zu untersuchen. Mit der Hot-Spot-Analyse werden die relative Lage von Tatorten zueinander berechnet und räumliche Häufungen in Form von Ellipsen in Karten dargestellt. Durch eine permanente Kartierung anfallender Kriminalitätsdaten können im Laufe der Zeit wichtige Informationen für strategische Entscheidungen gewonnen werden. So ist das frühzeitige Entstehen neuer Brennpunkte sowie das Erkennen von Verschiebungen räumlicher und zeitlicher Häufungen möglich. Schließlich kann die polizeiliche Arbeit auf Grundlage der Analysen im Bereich Prävention optimiert werden (Bild 2). Kriminalgeografische Analyse In der Kriminalgeografie besagt die „Gravitationstheorie“, dass Stadtzentren Anziehungskraft auf Delinquenten ausüben. Die Hansestadt Hamburg ist grundsätzlich monozentrisch angelegt – mit einem Bebauungsdichtegradienten vom Zentrum hin zum Außenbereich. Bei genauerer Betrachtung werden jedoch Stadtteilzentren erkennbar, die über zentrale Einrichtungen zur Versorgung verfügen. Die Stadtentwicklungsbehörde der Hansestadt Hamburg hat 31 Schwerpunktzentren definiert. Zur Verifizierung der Gravitationstheorie wurden zehn konzentrische Ringe mit einer Breite von 100 m um die einzelnen Zentren gebildet. Das ergibt eine maximale Untersuchungsdistanz von 1 000 m, die die Grenze des Einflussbereichs der Zentren markiert. Anschließend wurde die Zahl aller Delikte ermittelt, die innerhalb der einzelnen Ringe verübt wurden (Bild 3). Das Ergebnis zeigt die größte Dichte im 300- bis 400-m-Ring. Der Dichtegradient nimmt in beide Richtungen ab. Besonders deutlich ist eine kontinuierliche Abnahme mit zunehmender Entfernung von den Zentren erkennbar. So kann konstatiert werden, dass durch die Sogwirkung der Zent- W&S 5/02 Bild 2: Kriminalitätsschwerpunkte werden mit Hilfe der HotSpot-Analyse deutlich. ren die Kriminalitätsdichte im näheren Umfeld der Zentren höher ist. Darüber hinaus sind die Zentren nachts und an Wochenenden oder Feiertagen oft verwaist. Es handelt sich folglich um Gebiete, die nachts über eine geringe Sozialkontrolle verfügen und so gute Gelegenheit zur Kriminalitätsbegehung bieten. Nutzung der Ergebnisse Durch eine kontinuierliche Verwaltung und Analyse von kriminalitätsbezogenen Daten können sicherheitsrelevante Entwicklungen frühzeitig erkannt werden, um in der Folge lageangepasste Maßnahmen zu ergreifen. Hierzu sind durch den Einsatz von GIS Untersuchungen möglich, die über eine rein visuelle Information weit hinausgehen. So ist das frühzeitige Erkennen von Brennpunkten und die Entwicklung von realistischen Prognosen zur lokalen Kriminalitätssituation ein erklärtes Ziel der polizeilichen Anwender. Seit 1999 wird bei der Münchner Polizei das „Gladis“-System eingesetzt. Durch die schnelle und vollständige Erfassung, Auswertung, Bewertung und Steuerung verspricht man sich neue Informationen über die raumzeitliche Kriminalitätsverteilung. Zur Analyse werden zusätzliche GeoDaten aus den Bereichen Soziodemographie, Infrastruktur und Verkehr hinzugezogen. Darüber hinaus ist der Einsatz von GPS-gestützten Einsatzwagen genauso denkbar wie die automatisierte räumliche Registrierung von eingehenden Notrufen. So wird auf der Basis der kriminalgeografischen Forschung und der Nutzung moderner Datenverarbeitungstechnologie eine neue Datenqualität erzeugt, die die Sicherheit in Städten gewährleisten soll. Oecos-Umweltplanung, Bellmannstr. 36, 22607 Hamburg, Tel.: 040-89070622, Fax: -85500811, E-Mail: [email protected] Bild 3: Kriminalitätsgradient in Hamburger Stadtteilzentren 29
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