Kriminalität und Geisteskrankheit: eine kritische Standortbestimmung

Seminar 2017
„Kriminalität und Geisteskrankheit: eine kritische Standortbestimmung“
Leitung: Dr. h.c. Claudio Besozzi, Ass.-Prof. Dr. Ineke Pruin
Organisation: lic.iur. Nora Erlich, Programmleitung SCIP
Blockseminar: Donnerstag 18. und Freitag, 19. Mai 2017 (Ort wird noch bekanntgegeben)
Vorbesprechung: Dienstag, 21. Februar 2017 um 12:15 Uhr (Hörsaal wird noch bekanntgegeben)
Thema:
Es gibt Straftaten, die keine Fragen aufwerfen. Dies ist der Fall, wenn jedermann im Stande ist, deren
Motive nachzuvollziehen. Sie machen Sinn. Ein Banküberfall zum Beispiel oder ein Betrug. Im
Allgemeinen: wo es bloss um Geld geht. Andere Straftaten, wie vordergründig sinnlose Gewalt,
bieten zum Kopfschütteln Anlass. Wie konnte er (sie) nur so etwas machen? Und: warum? Hier sind
Begriffe wie Krankheit, Verrücktheit, Wahnsinn nicht mehr weit, denn sie schliessen (vorläufig) die
Suche nach Sinn. Sie erklären nichts, aber beruhigen.
Dies erklärt zum Teil, warum Kriminalität und Geisteskrankheit seit jeher miteinander verstrickt sind
und somit zum Paradigma der theoretischen Auseinandersetzung mit jeder Form von Devianz
geworden sind. Beide – Kriminalität und Geisteskrankheit - erwachsen aus einem wie immer
gearteten Defizit und ernähren sich gegenseitig. Ein Verhalten, das nicht verstanden werden kann
und dem kein Sinn zugewiesen werden kann, lässt sich nur meistern, wenn man dem Akteur
Verstand und Verantwortung entzieht. Dies hat Michel Foucault in seinem Werk „Histoire de la folie
à l’âge classique“ beispielhaft dokumentiert.
Wenn aber nun Kriminalität und Geisteskrankheit in ein und demselben Atemzug genannt werden,
so heisst es auch, dass Strafrecht und Psychiatrie eine Ehe eingehen, die als einzige Grundlage ein
verwaschenes, wirklichkeitsfremdes Bild individueller und gesellschaftlicher Normalität vorzuweisen
hat. Denn eine solche Verbindung lässt sich kaum dem Pseudo-Wissen rechtfertigen, das die
Psychiatrie mit in die Ehe nimmt. Dessen ungeachtet, nimmt die Psychiatrie zusehends an Bedeutung
und an Macht zu: nicht nur auf der Ebene der Deutung von strafbarem Verhalten, sondern in der
Praxis des Strafens: ihr obliegt es, über Schuldfähigkeit resp. -unfähigkeit zu entscheiden, die
Anordnung von Massnahmen zu legitimieren, die Gefährlichkeit von Straftätern abzuschätzen und
somit auch mitzureden bei der Gewährung von Urlauben und bedingten Entlassungen.
Dies alles ist Grund genug, um sich mit der Frage nach den vielfältigen, mehrdeutigen Beziehungen
zwischen Kriminalität und Geisteskrankheit bzw. zwischen Strafrecht und Psychiatrie kritisch
auseinanderzusetzen.
Der erste Teil des Seminars wird sich mit einer konzeptuellen Analyse der das Thema definierenden
Begriffe – Kriminalität, Geisteskrankheit – befassen. Es geht hier um das sprachliche Verständnis, um
die Gegenüberstellung der Taxonomien von Strafrecht und Psychiatrie sowie um die Abgrenzung zur
Alltagssprache (meint Geisteskrankheit zum Beispiel dasselbe wie Wahnsinn, Verrücktheit oder
Irrsinn?). Es geht aber auch um das ebenfalls von Foucault angesprochene, sprachphilosophische
Problem der Beziehungen zwischen Sprache und Wirklichkeit, zwischen dem Wort und dem Ding.
Im zweiten Teil sollen die wichtigsten Befunde dargelegt werden, welche die Beziehung zwischen
Kriminalität und Geisteskrankheit zum Gegenstand haben. Anhand der Daten der amtlichen Statistik
und der Ergebnisse empirischer Forschung soll unter anderem festgehalten werden, wie viele
Angeklagte als schuldunfähig betrachtet werden, wie viele Massnahmen verhängt werden, wie viele
Verurteilte an einer Geisteskrankheit leiden.
Der dritte Teil ist der Geschichte der Beziehung zwischen Kriminalität und Geisteskrankheit bzw.
zwischen Strafrecht und Psychiatrie gewidmet. Im Mittelpunkt stehen die von Michel Foucault
verfassten Werke zu diesem Thema sowie die in den 70er Jahren aufkommende Kritik der
institutionellen Psychiatrie, die unter anderen in den Schriften von Thomas Szasz, Erwing Goffman
und Thomas Scheff zum Ausdruck kommt: dies parallel zur soziologisch und kriminologisch
orientierten Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kriminalität als soziale Konstruktion.
Der vierte Teil befasst sich mit der literarischen Darstellung der Verknüpfung zwischen Kriminalität
und Geisteskrankheit bei Autoren, die entweder selbst damit konfrontiert wurden (wie z.B. bei
Friedrich Glauser oder Tasso) oder in ihren fiktionalen Werken darüber berichtet haben (wie z.B.
Shakespeare, Cervantes, Dostojewski, Süsskind, Ken Kesey) oder als Psychiater tätig waren (Walter
Vogt).
Im fünften Teil geht es um die Darstellung und Analyse der strafrechtlichen Bestimmungen zur
Schuldfähigkeit, zu Verhängung von Massnahmen und Verwahrung, zur Gefährlichkeit von
Straftätern.
Der sechste Teil wird konkrete, bekannte Fälle zum Gegenstand haben, in welchen Sachverständige
zur Beurteilung der Schuldfähigkeit bzw. der Gefährlichkeit von Straftätern herangezogen wurden. So
z.B. bei den bekannten Gerichtsverfahren gegen Pierre Rivière im Frankreich des 19. Jahrhunderts,
gegen den Dichter Ezra Pound in den USA, gegen Breiwig in Norwegen, gegen Turcotte in Kanada
oder, in der Schweiz, gegen den Mörder von Adeline, Fabrice A.
Im siebten und abschliessenden Teil soll die Beziehung zwischen Kriminalität und Geisteskrankheit
im Zusammenhang mit den in der postmodernen Gesellschaft auftretenden Haltungen und
Einstellungen (Sicherheitsbedürfnis, Individualismus, Fehlen von langfristigen Perspektiven, die
Aufwertung des Opferstatus, usw.) betrachtet werden.
Zielpublikum und Zulassung:
Zugelassen sind Weiterbildungsstudierende der SCIP, Studierende der Rechtswissenschaft im
Bachelor- und Masterstudium sowie Minorstudierende, Studierende des Studiengangs „Master in
Political, Legal, and Economic Philosophy (PLEP).
Teilnahmebedingung ist die Bereitschaft eine Arbeit (ca. 10-20 Seiten) zu verfassen, ein Referat (ca.
15 Minuten, anschliessend jeweils ca. 15 Minuten Diskussion) zu halten und aktiv an der
Blockveranstaltung mitzuwirken.
Dies ergibt die Seminarleistung im Bachelorstudium (Art. 16 RSL RW) oder ein Wahlfach im
Masterstudium (Art. 25 Abs. 3 RSL RW). SCIP-Studierende können sich das Seminar als
Vertiefungsseminar Kriminologie IV anrechnen lassen.
In der Zeit zwischen der Vorbesprechung und dem Blockseminar werden Besprechungen mit dem
Dozenten zum Stand und Fortgang der Arbeiten durchgeführt. Weitere Hinweise anlässlich der
Vorbesprechung.
Die Teilnehmerzahl ist beschränkt.
Anmeldung:
Anmeldungen sind ab sofort möglich mit Name, Vorname, E-Mail, Matrikelnummer, Angabe des
Seminars, Studienrichtung, Semesterzahl und angestrebtem Leistungsausweis zu senden an
[email protected].
(Keine Motivationsschreiben oder dgl. )
Die Plätze im Seminar werden im Wesentlichen nach Eingang der Anmeldungen vergeben. Es sollen
möglichst alle zugelassenen Studiengänge im Seminar vertreten sein. Die Anmeldungen sind
verbindlich!
Kontaktperson:
Für Fragen und weitere Informationen wenden Sie sich bitte an:
Nora Erlich, lic. iur., LL.M., SCIP, Institut für Strafrecht und Kriminologie Universität Bern
Tel. ++41(0)31 631 48 73
[email protected]