Wolfgang Neumann Vor der Flut Die Traditionalisten und das Ende unserer Welt Gegenstand dieses Aufsatzes sollen Vorstellungen über Weltuntergänge und Zeitzyklen vor allem aus dem Bereich des Hinduismus aber auch des Judentums, Christentums und Islam sein. Dies aber nicht von einer objektiven, wissenschaftlichen Warte aus, sondern im Spiegel einer besonderen Strömung innerhalb der neuzeitlichen Esoterik. Ich werde die Untergangsmythen so präsentieren, wie sie heutzutage in gewissen esoterischen Kreisen geglaubt und interpretiert werden. Dass gegenwärtige Esoterik auf alte Traditionen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen zurückgreift, sie in ihrem Sinne deutet und umdeutet, ist wahrlich nichts Neues. Die Melange, die daraus gekocht wird, ist für einen wissenschaftlichen Geist meist nur sehr schwer zu genießen, Esoterik nur als eigenständiges religiöses Phänomen von Interesse und nicht als Ideenlieferant bei der Betrachtung alter Traditionen. Auf die esoterische Richtung, von der hier die Rede sein soll, trifft dieses Verdikt nicht zu. Ihre Deutung religiöser Traditionen mag nicht dem wissenschaftlichen Konsens entsprechen, qualitativ, an Tiefe der Erkenntnis, steht sie aber haushoch über dem, was gewöhnlich unter „Esoterik“ und „New Age“ firmiert. In der Tat grenzen sich die Vertreter dieser Richtung selbst entschieden von aller modernen Esoterik ab und zählen zu ihren schärfsten Kritikern. Die Urtradition Man kann die Gruppe, um die es hier geht, am besten als „Traditionalisten“ bezeichnen. Ein Ausgangspunkt ihrer Anschauungen ist das postulierte Bestehen einer Urtradition, einer Urreligion, sozusagen die Religion des ersten Menschen, Adams. Die heutigen Religionen, soweit sie rechtgläubig sind und nicht falsche menschliche Schöpfungen, also eigentlich alle Weltreligionen bis hin zum Islam, sind demnach bruchstückhafte Spiegelungen dieser Urreligion bzw. Urtradition. Sie sind göttliche Offenbarungen aber zugleich auch äusserlich zum Teil widersprüchliche Anpassungen des göttlichen Wortes, der göttlichen Wahrheit, an die besonderen Erfordernisse von Ort und Zeit. In ihrem Kern aber, so die Auffassung der Traditionalisten, sind sie mit der einen göttlichen, transzendenten Wahrheit identisch, die ihr Ursprung ist. Die innere, esoterische Seite jeder Religion ist nichts anderes als diese gemeinsame eine Wahrheit, formuliert in einer jeweils eigenen religiösen Sprache. Die metaphysische Wahrheit selbst gründet im göttlichen Geist und existiert jenseits aller doktrinalen oder mentalen Formulierungen und in dieser Weise ewig und immerwährend. Die „Traditionalisten“ sprechen deshalb auch von einer philosophia perennis „immerwährenden Philosophie“ (ein Begriff den auch schon Leibniz verwendet) oder auch, um das moderne Verständnis des Begriffes Philosophie zu vermeiden, von einer religio perennis oder sophia perennis. In den Religionen kommt diese sophia perennis vor allem in den Grundsymbolen und Grundwahrheiten der jeweiligen Religion zum Ausdruck, nicht etwa in irgendeinem verborgenen nur wenigen mitgeteilten Geheimwissen. Die Esoterik, aufgefasst als die Innenseite einer Religion, besteht im Gegensatz zur Exoterik dann darin, die einfachen Sinnbilder in ih- 1 rer Tiefe auszuloten, sie mit einem sozusagen metaphysischen Auge zu betrachten. Soweit die Ausgangsposition der „Traditionalisten“. Der Aufschwung von Okkultismus und Esoterik im 19. und 20. Jahrhundert Die Geschichte der Traditionalisten beginnt am Ende des 19. Jahrhunderts. Das 19. Jahrhundert ist ja nicht nur die Zeit der großen wissenschaftlichen Entdeckungen und Fortschritte auf allen Gebieten, der großen Reisenden und Geisteswissenschaftler, sondern auch eine Blütezeit des Okkulten, der Magie, des Satanismus, der Schwarzen Romantik, des Spiritismus, der Freimaurer und Rosenkreuzer. Es gab damals eine regelrechte esoterisch-okkulte Modeströmung, die auch das offizielle Kulturleben stark beeinflusste. Ein Hauptinitiator dieses Interesses am Okkulten war Alphonse-Louis Constant (18101875) alias Eliphas Lévi. Lévi schrieb eine Reihe von Büchern, die einen enormen Einfluß hatten, darunter „Dogme et rituel de haute magie“ (1856), „Histoire de la magie“ (1859) und „La Clef des Grandes Mystères“ (1861). Der selbsternannte „Abbé“ Lévi war Mitglied mehrerer Geheimgesellschaften in Frankreich und England, wo er auch u.a. Lord Bulwer-Lytton begegnete, dem Autor des okkulten Romans „Zanoni“, bei uns besser bekannt als Autor von „Die letzten Tage von Pompej“ oder, unter Kennern, als Verfasser hervorragender viktorianischer Gesellschaftsromane. Nach seinem Tode war es vor allem sein Schüler Gérard Encausse (1865-1916), der unter dem Pseudonym Papus den Okkultismus in Schwung hielt. Papus war Gründer bzw. „Wiederbeleber“ des sog. „Martinistenordens, der später in engen Kontakt mit dem deutschen O.T.O. (Ordi Templi Orientis) trat, einem Orden, dem auch Rudolf Steiner angehörte und der heute mit sehr guter Internet-Präsenz vor allem die Ideen Aleister Crowleys vertritt. Papus zählte zu den Mitgliedern des „Obersten Rates“ seines Martinistenordens eine Reihe von bekannten Schriftstellern wie Paul Barrès, Paul Adam, Joséphin Péladan, Stanislas Guaita u.a. und wirkte bei der Gründung zahlreicher anderer okkulter Gruppen mit. Joséphin Péladan (1858-1918), der einem sog. Rosenkreuzer-Orden (Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix) vorstand und seinerseits z.B. Maupassant, Claudel, Jarry und Maurras beeinflusste, wirkt übrigens heute noch nach durch die Musik die Eric Satie, der eine Zeitlang mit diesen rosenkreuzerisch-gnostischen Gruppen sympathisierte für ihn schrieb. Der Anteil den Schriftsteller an der okkulten Bewegung nahmen, ist bezeichnend für das Interesse des Fin de siècle am Okkulten. Bereits Balzac hatte ja für Swedenborg geschwärmt, Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, Lautréamont bedienten sich des Okkulten als einer Waffe in ihrer Auflehnung gegen das Bürgertum. Huysman schrieb seinen einflußreichen Roman „Làbas“, eines der Hauptwerke der Dekadenz, unter dem Einfluß eines Schwarzmagiers, des entlassenen katholischen Priesters Abbé Boullan, der später, nach Huysman fester Überzeugung von Stanislas Guaita durch schwarze Magie zu Tode gebracht wurde. August Strindberg gehört ebenfalls in diese Reihe, in England Arthur Conan Doyle und William Butler Yeats, als einflußreiches Mitglied des „hermetischen“ Order of the Golden Dawn. Der „Magier“ S.L. MacGregor Mathers (1854-1918) gehörte ebenfalls diesem Orden an, ebenso Aleister Crowley (1875-1947), bevor dieser dann seinen eigenen Orden gründete. Aleister Crowley ist einer der heute noch einflußreichsten Okkultisten – dank seiner genialen Verbindung von Magie, Sex und Drogen und einer hervorragenden Eigenwerbung (er nannte sich selbst das Tier 666 aus der Apokalypse) –, dessen Einfluss man nicht unterschätzen sollte (die von ihm entworfenenen Tarotkarten gibt es überall zu kaufen, Ron Hubbard und seine Scientology Church kommen historisch von ihm her, er hat eine Reihe Künstler wie z.B. den Filmregisseur Kenneth Anger und den Dichter Fernando Pessoa beeinflusst). Kom2 plettieren wir das Bild durch die Theosophische Gesellschaft, 1875 gegründet von Madame Helena Petrovna Blavatsky erwähnen, und die in historischer Linie daraus entstehende Anthroposophische Gesellschaft Rudolf Steiners. Rene Guénon und die Traditionalisten Dies alles hat Früchte getragen und der gegenwärtige Boom der Esoterik hat sicher eine seiner Wurzeln in diesen Entwicklungen seit der zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts. Die Kritik von Anhängern der „Aufklärung“ an diesen „irrationalen“ Entwicklungen ist heftig, aber irgendwie auch hilflos, denn mit Vernunftargumenten ist der ganzen Sache offensichtlich nicht beizukommen. Diese Kritik ist für uns hier auch nicht so sehr von Interesse, sondern die von einer ganz anderen Seite. Mircea Eliade schreibt in einem Aufsatz über den Okkultismus sehr treffend: „Die gelehrteste und vernichtendste Kritik an diesen sogenannten okkulten Gruppen stammte nicht von einem rationalistischen, ,außenstehenden‘ Beobachter, sondern von einem Autor aus dem inneren Kreis, Réné Guénon, der genauestens in einige der geheimen Orden eingeführt worden war und mit ihren okkulten Lehren wohl vertraut war. Ferner ging diese Kritik nicht von einem skeptischen oder positivistischen Standpunkt aus, sondern von einer ,traditionellen Esoterik‘ “1 1 Eliade 1978: 57. 3 Réné Guénon ist wohl der eigentliche Begründer der Bewegung der Traditionalisten. Er wurde 1886 in Blois, Frankreich, geboren und wuchs in einer katholischen Familie auf. Er studiert Mathematik und beginnt sich früh für Esoterik und Okkultismus zu interessieren und wird Mitglied verschiedener esoterischer Organisationen. Er lernt Vertreter authentischer esoterischer Traditionen aus dem hinduistischen und islamischen Bereich kennen, tritt 1912 zum Islam über und wird in einen sufischen Orden aufgenommen. 1930 reist er nach Kairo, wo er für den Rest seines Lebens unter dem Namen Abdel Wahed Yahia lebt und 1951 als ägyptischer Staatsbürger stirbt.2 Er publiziert eine große Zahl von Aufsätzen (vor allem in der in Paris erscheinenden Zeitschrift „Etudes traditionnelles“, deren Herausgeber er ist) und zahlreiche Bücher, in denen er die moderne westliche Zivilisation als zutiefst antitraditionell und dekadent kritisiert, als Ausdruck einer Entwicklung, die zeigt, dass wir uns dem Ende dieser Welt immer rascher nähern. Ein weiteres Zeichen für das herannahende Ende sieht er in dem Aufblühen der pseudoesoterischen Bewegungen im Westen. In seinen Büchern „Le Théosophisme: Histoire d’une Pseudo-Religion“ (1921)3 und „L’Erreur spirite“ (1923) unterzieht er diese einer vernichtenden Kritik. Seine positive Darstellung der traditionellen Metaphysik entfaltet er – obwohl Muslim und praktizierendes Mitglied eines islamischen Ordens (tariqah shadiliya) – vornehmlich in hinduistischen Begriffen. Der Hinduismus ist für ihn und seine Anhänger die lebende religiöse Tradition, die dank ihres hohen Alters noch am direktesten den Gehalt der Urreligion ausdrückt. Die Reihe der Darlegungen einer die verschieden Religionen übersteigenden metaphysischen Doktrin, beginnt ebenfalls 1921 mit seiner „Introduction Générale à L’Etude des Doctrines Hindoues“; dem folgt 1925 ein weiteres Hauptwerk „L’Homme et son Devenir selon le Vedanta“ und noch eine Vielzahl anderer Werke. Guénon findet in Laufe der Jahre zahlreiche Mitstreiter aus dem islamischen, hinduistischen, buddhistischen, christlichen und jüdischen Bereich. Herausragend unter ihnen ist der Singhalese Ananda Coomaraswamy (1877-1947), Kunsthistoriker und exzellenter Kenner des Hinduismus, Buddhismus und der abendländischen Philosophie und Theologie und selbst Autor einer Vielzahl von Publikationen, die allerdings im Vergleich zu denen Guénons einen sehr viel wissenschaftlicheren Anstrich haben.4 Eine weiterer relevanter, Guénon verbundener Autor ist Alain Daniélou. 1907 in eine sehr wohlhabende und einflußreiche Familie in Paris geboren – sein Vater war mehrfach Minister, sein Bruder, Jean Daniélou, wurde später Kardinal. – begibt er sich nach einer musikalischen und tänzerischen Ausbildung auf eine ausgedehnte Weltreise, bereist ab 1932 Indien, hat Kontakt mit Ranbindranath Tagore und lässt sich 1937 in Benares nieder, wo er traditionelle Musik studiert. Er gelangt in die höchsten orthodoxen Kreise, konvertiert zum Hinduismus, studiert Sanskrit, Hindi und andere indische Sprache, Philosophie und traditionelle Wissenschaften. Er wird Professor und Direktor eines Musikinstituts in Benares. Nach Jahrzehnten des Aufenthalts in Indien, kehrt nach Europa zurück und wird 1963 Direktor des Institutes für vergleichende Musikwissenschaft in Berlin und später in Venedig (1969). Er schreibt musikwissenschaftliche Werke, gibt Aufnahmen tradtioneller Musik, vor allem der Indiens im Auftrag der Unesco heraus, und veröffentlicht eine Reihe Werke über indische Religion, insbesondere den Shivaismus. Daneben übersetzt er traditionelle Texte aus indischen Sprachen. In seinen äußerst lesenswerten Lebenserinnerungen schreibt er über Guénon: „Die einzigen Werke, die mir nützlich waren, um der Religion und der Philosophie Indiens näherzukom2 3 4 Chacornac 1958; Gattegno 2001. „In diesem gelehrten und vorzüglich geschriebenen Buch entlarvte Guénon alle jene sogenannten okkulten Gruppen, von der Theosophischen Gesellschaft Mme Blavatskys und Papus bis hin zu den zahlreichen neospiritualistischen oder pseudo-rosenkreuzerischen Logen.“ (Eliade 1978: 71). Coomaraswamy 1977. 4 men, waren die von René Guénon. L’Introduction aux doctrines hindoues bleibt eines der seltenen Werke, die eine exakte Darstellung der philosophischen und kosmologischen Grundlagen der indischen Zivilisation bieten. ... Der Einfluss von Guénon auf Mircea Eliade ist evident.5 ... Guénon bleibt immer noch der Hauptausgangspunkt um zu verstehen, wie die Inder die Welt sehen. Die Auffassungen Guénons fanden Interesse bei den indischen Gelehrten. Was ich davon präsentieren konnte, erleichterte sehr meinen anfänglichen Zugang zu den großen Gelehrten.“6 Die Weltenzyklen Für die Tradionalisten ist der Hinduismus, wie bereits gesagt, die Religion, die der Urreligion, der sophia perennis, historisch am nächsten steht. Im Hinduismus finden sie diese Lehre am klarsten und unverhülltesten ausgedrückt. Der Begriff Sanâtana Dharma „immerwährende Religion“, wie die Hindu ihre Religion selbst nennen, gibt sogar in etwa wieder, was mit sophia perennis gemeint ist.7 Nach den kosmologischen Vorstellungen des Hinduismus ist die Schöpfung der Welt kein einmaliger Akt, ebensowenig das Ende der Welt. Es gibt eine Unzahl von Welten, die aufeinander folgen, Schöpfung und Zerstörung der Welten in endloser Folge. Die monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) dagegen kennen nur eine Schöpfung und ein endgültiges Ende der Welt. Das ist natürlich ein Widerspruch. Die Traditionalisten versuchen ihn zu lösen, indem sie die Auffassungen der monotheistischen Religionen in die Zyklenlehre integrieren. Demnach sind die Weltentwicklungsvorstellungen der monotheistischen Religionen nicht falsch, sondern haben nur eine geringere Reichweite. Die monotheistischen Religionen nehmen nur auf einen Teil der gesamten kosmologischen Entwicklung Bezug, einen Zyklus innerhalb einer endlosen Reihe von Zyklen, sind aber in ihren Aussagen über diesen Zyklus stimmig. Wie sieht nun die indische Lehre von den Zeitzyklen aus? Die Entwicklung der Welt, der Galaxien, des gesamten Universums, wie der Lebewesen und Individuen, ihr Entstehen und Vergehen, verläuft in Zyklen. Die Zeit hat zwar – rein quantitativ betrachtet – einen linearen Verlauf, inhaltlich ist sie aber durch einen qualitativen Verlauf gekennzeichnet, z.B. durch Kreisläufe. Das Wort Kreislauf ist allerdings ungenau, da der Anfang und das Ende eines Zyklus nie identisch sein können (eine strenge Wiederholung eines Ereignisses ist eine logische und ontologische Unmöglichkeit). Zwischen Anfang und Ende besteht vielmehr eine Analogie, so dass man genauer als von einem Kreislauf von einer „spiralenförmigen Abwicklung“ sprechen könnte. Guénon definiert einen Zyklus als den Prozess der Entwicklung eines bestimmten Seinsbereichs innerhalb des „kundgegebenen“ oder „manifestierten“ Seins, oder, wenn es sich um Zyklen auf einer niedrigeren Stufe handelt – wie z.B. die Jahreszeiten oder die menschlichen Lebensalter –, um die Entwicklung von mehr oder weniger beschränkten Modalitäten dieses Seinsbereichs8. Unter Kundgebung oder Manifestation wird die „Entfaltung“ oder „bestimmungsmäßige Auswirkung“ der im unbedingten (absoluten) und unendlichen (infiniten) Sein enthaltenen „Möglichkeiten“ verstanden. 5 6 7 8 Und der von Coomaraswamy ebenso. Danielou 1993: 157ff. Vgl. Guénon 1989. Guénon 1970 : 14. 5 Die grundlegenden Gesetze, die die Entwicklung des gesamten Universums bestimmen, sind dabei diesselben, die auch seine Teile bestimmen. Es besteht eine Analogie zwischen den verschieden Zyklen der selben Ordnung, wie auch zwischen den Hauptzyklen und ihren Unterzyklen. Es besteht z.B. eine Analogie zwischen dem Makrokosmos, dem manifesten Sein als Ganzem und dem Menschen, der ein Kosmos im Kleinen, ein Mikrokosmos ist. Ebenso ist aber auch die Entwicklung der verschieden Gattungen von Lebewesen, ja auch das Sein der Götter, Zyklen unterworfen. Betrachten wir nun die kosmischen Zyklen im einzelnen. Einer der größten Zyklen, die Periode, in der eine Welt besteht, wird Kalpa genannt. Dies entspricht einem Tag Brahmas, des Schöpfergottes. Auf einen Tag folgt eine Nacht Brahmas gleicher Länge, in der es keine Welt gibt und in der die Formen der möglichen Welten verborgen in Brahma ruhen. Danach, wenn ein neuer Tag Brahmas anbricht, entsteht eine neue Welt. Das Leben Brahmas dauert 100 Brahma-Jahre oder ein Para. Danach vergeht ein weiteres Brahma-Jahrhundert, in dem es nicht nur keine Welten, sondern auch keine Götter und ihre Seinsbereiche gibt, nur das absolute Sein in seiner Dunkelheit, dann beginnt ein neues Leben Brahmas. Wenn wir hier von Brahmajahren und ähnlichen chronologischen Abfolgen sprechen, die unseren menschlichen Erfahrungshorizont übersteigen, so ist dies nach Guénon rein symbolisch zu verstehen. Das Wesen des symbolischen Ausdrucks sei es ja gerade eben, sich auf die eben erwähnten Korrespondenzen und Analogien zwischen den verschiedenen Seinsbereichen und Seinsstufen zu stützen. Folglich: „Man kann bei einem Kalpa, der die vollständige Entwicklung einer Welt repräsentiert, d.h. eines Bereiches oder einer Stufe des existentiellen Seins in seiner Totalität, offensichtlich nicht im wörtlichen Sinne von der Dauer eines Kalpa sprechen, einer Dauer in irgendeinem Zeitmaß, das sich auf die Seinsbedingungen gründet, die die unserer Welt sind. Die Überlegungen, die die Dauer und die Abfolge des Kalpa betreffen, haben nur einen symbolischen Wert und müssen als Analogieaussagen verstanden werden. Die zeitliche Abfolge ist in diesem Sinne nur ein Bild der zugleich logischen und ontologischen Verkettung einer „außerzeitlichen“ Serie von Ursachen und Wirkungen. Da aber die menschliche Sprache nur das direkt ausdrücken kann, was zu den Existenzbedingungen unseres Seins gehört, ist eine solch symbolische Redeweise vollkommen natürlich und gerechtfertigt.“9 Zahlenangaben, die sich auf Welten außerhalb der unseren beziehen, bezeichnen also eher Proportionen als wirkliche Zeitdauern.10 Während die Schöpfung des Kosmos am Beginn eines para und die Wiedererschaffung nach der Auflösung am Beginn eines neuen Kalpa das Werk des Gottes Brahma (Prajapati) ist, wird die auf einer niedrigeren Stufe verantwortete Zeugung und Leitung einer Menschheit von einem Urvater oder Patriarchen (Pitr) bewerkstelligt, den man als Manu (Sankr. „Mensch“) bezeichnet. Jedes Kalpa, jeder Tag Brahmas, gliedert sich in vierzehn Manvantaras (Manubschnitte)11. Jedem dieser Manvantaras steht ein Manu als Stammvater, Gesetzgeber und Erhalter vor. Der erste Manu des gegenwärtigen Kalpa war z.B. Svayambhuva, „das Kind von Svayambhu, „des aus sich selbst Existierenden“. Jedes Manvantara geht in einer Katastrophe, einer großen Flut unter, und jeder Manu ist ein Überlebender aus dem vorherigen untergegangenen Manvantara, durch den die heilige Urtradition bewahrt und weitergegeben und die „Samen“ der 9 10 11 Guénon 1970, S. 14f. Vgl. auch Guénon 1957: 62f. „Im Sanskrit wird u vor einem Vokal zu v; darum wird manu-antara (,Manuabschnitt‘) zu Manvantara.“ (Zimmer, 1972: 21). 6 zukünftigen Welt über die Katastrophe hinüber gerettet werden. Der Manu des gegenwärtigen Manvantara ist der siebente und trägt den Namen Vaivasvata, „Kind der Sonne“12. Es werden noch sieben Manvantaras und Manus folgen bis zum Ende des gegenwärtigen Kalpa. Jedes Manvantara ist wiederum unterteilt in vier Weltalter, Yugas genannt. Die zeitliche Dauer der vier Yugas ist sehr unterschiedlich: der erste Yuga ist der längste, die folgenden drei Yugas sind um jeweils ein Viertel kürzer. Die Abfolge der Yugas entspricht also dem Zahlenverhältnis 4, 3, 2, 1. Als Summe ergibt dies 10, die Zahl für die Gesamtheit eines Manvantara. Zu jedem Yuga gehört eine „Morgendämmerung“ und eine „Abenddämmerung“ , deren Dauer jeweils ein Zehntel des Gesamtyuga beträgt. Der erste, längste Yuga, heißt Satya-Yuga, (Satya, skr. „wahr, echt“), oder Krita-Yuga, (Krita, skr. „getan, vollendet“). In diesem Zeitalter, das dem Ursprung am nächsten ist, ist alles noch wie es sein sollte, der Dharma ist noch vollständig. Unter Dharma versteht man gleichzeitig das moralische Gesetz und die rechte Ordnung des Universums, für das Individuum das „Selbst-Gesetz“ (sva-dharma), die Berufung, soziale Stellung oder Pflicht, wie sie für ihn durch seine eigene Natur gegeben ist. „Während dieses Yuga werden Männer und Frauen schon tugendhaft geboren. Sie widmen ihr Leben der Erfüllung ihrer Pflichten und Aufgaben wie sie vom Dharma göttlich vorbestimmt sind. Die Brahmanen erstrahlen in Heiligkeit, Könige und adlige Stammeshäupter handeln in Übereinstimmung mit den idealen Bahnen königlichen Verhaltens. Bauern und Stadtvolk widmen sich mit ganzer Hingabe der Hauswirtschaft und dem Handwerk. Die niederen dienstbaren Klassen verharren gesetzesgebunden in Gehorsam. Selbst Leute niedrigsten Standes befolgen die heilige Ordnung des Seins.“13 Im Manu-Samhita, dem sog. Gesetzbuch des Manu, heißt es dazu (Vers 81-82): „Im KritaZeitalter steht der Dharma in Gestalt eines Stieres fest auf seinen vier Füßen, und die Menschen haben auch noch keinen Vorteil von der Ruchlosigkeit. Aber in dem folgenden Zeitalter wird er nach und nach durch ungerechten Gewinn eines Fußes beraubt, und selbst gerechte Vorteile werden unvermittelt durch überhandnehmende Diebereien, Falschheit und Betrug um ein Viertel verringert.“14 Mit dem Wechsel der Zeitalter und der Verkürzung ihrer Dauer geht eine Beschleunigung der Lebensprozesse einher, wie als ob in eine kürzere Zeitspanne all das gepresst werden solle, was einst seinen ruhigen, ordnungsgemäßen Gang ging. Die Lebenszeit der Menschheit wird ebenfalls affiziert: „Im Krita-Yuga gelangen Menschen, die frei von Krankheit bleiben, zu aller Art glücklichen Wohlstandes und leben vierhundert Jahre, aber im Treta-Yuga und den folgenden Yugas wird ihr Leben allmählich um jeweils ein Viertel kürzer.“ (Manu, Vers 83) Der Dharma verringert sich Viertel um Viertel, gleichzeitig verliert die Ordnung an Boden. Dies macht sich schon im zweiten Zeitalter, dem Treta-Yuga (Treta heißt „Drittel“, verwandt mit dem lateinischen tres, dem englischen three, dem deutschen drei) bemerkbar, denn das menschliche Handeln folgt nun nicht mehr intuitiv und spontan den Gesetzen, sondern die Pflichten müssen erlernt werden. Im darauf folgenden Dvâpara-Yuga ist ein Gleichgewicht zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit, Licht und Finsternis erreicht. Sein Name ist abgeleitet von dvi, dvâ, dvau, „zwei“ (vgl. unser „zwei“, lat. duo, fr. „deux“, das engl. „deuce“) und bedeutet „nach den zwei“ aber vor allem auch „Zweifel, Ungewissheit“. In diesem Zeitalter balanciert der 12 13 14 Vivasvant ist ein vedischer Name des Sonnengottes. Nach dem Bhagavatapurana war es der König Satyavrata (Schwur der Wahrheit), vgl. die Bezeichnung „Satya-Yuga“, der unter dem Namen Vaivasvata der Manu dieses Manvantara wurde. Siehe Hohenberger, 1930: 17. Zimmer 1972, S. 18f. Das Gesetzbuch des Manu 1980. 7 Stier des Dharma nur noch auf zwei Beinen. „Die Vollkommenheit der spirituellen Ordnung gibt dem Dasein des Menschen und des Universums keine Kraft mehr. Alle menschlichen Wesen, Brahmanen und Könige sowohl wie Handelsvolk und Diener werden, geblendet durch Leidenschaften und nach irdischem Besitztum süchtig, gemein und erwerbsgierig. Sie wenden sich von der Erfüllung auch der geheiligsten Pflichten ab, wenn diese Selbstverleugnung erfordern.“15 Im Kali-Yuga, dem letzten Zeitalter, triumphieren die finsteren Kräfte. Kali bedeutet „Streit, Konflikt“. Der Mensch und seine Welt rast mit immer größerer Geschwindigkeit dem niedrigsten Punkt entgegen, dem Zustand des größten geistigen und moralischen Verfalls. Im Vishnu-Purana heißt es: „Wenn die Gesellschaft in einen Zustand gerät, wo Reichtum Rang verleiht, Besitz die einzige Quelle der Tugend wird, Leidenschaft das einzige Band zwischen Mann und Frau, Betrug die Grundlage des Erfolgs im Leben, geschlechtliche Liebe der einzige Weg zur Freude und äußere Verwirrungen mit innerlichem Glauben zusammengeworfen werden“ .... dann wissen wir, dass wir im Kali-Yuga sind, unserer heutigen Welt.“16 Der Kali-Yuga begann nach einigen indischen Berechnungen 3102 v. Chr, als der in Krishna verkörperte Vishnu in den Himmel zurückkehrte. Enden wird es einer Katastrophe, einer Flut, die fast alles menschliche Leben vernichten wird. In seinem Buch „Le Règne de la Quantité et les Signes des Temps (1945) hat Guénon dargestellt, nach welchen Gesetzmäßigkeiten die Entwicklung im Kali-Yuga verläuft. Er geht in dieser sehr detailreichen Abhandlung, die hier nicht im Einzelnen resümiert werden kann, von den allgemeinen Prinzipien jeglicher Manifestation des Absoluten in einem kontingenten Sein aus. Manifestation als solche hat immer zwei Pole zur Voraussetzung. Einen essentiellen Pol, der in synthetischer Weise die Möglichkeiten der Manifestation enthält und einen substantiellen Pol, der das „Feld“ der Manifestation darstellt, sozusagen den „Spiegel“ in der sich die Möglichkeiten gewissermaßen „analytisch“ entfalten können. Dieses Feld ist das, was in der Kabbala als Zimzum bezeichnet wird, die ursprüngliche Selbsteinschränkung der göttlichen Fülle und Schaffung eines „Raumes“ der Kundgebung. Für unsere Welt nun als einer Kundgebung eines Ensembles von Möglichkeiten, die bestimmten gleichen Bedingungen unterliegen – dies ist die Definition einer Welt –, nehmen diese beiden Pole der Manifestation den Gegensatz von Qualität und Quantität an. Es ist hierbei wichtig festzuhalten, das die beiden Pole selbst nicht manifest werden, sondern außerhalb der Welt bleiben. D.h. in diesem Falle, Qualität und Quantität sind als Eigenschaften in dieser Welt niemals isoliert und als solche anzutreffen. Es gibt nur Existenzen, die durch beide bestimmt sind, wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung. Nach Guénon ist es nun so, dass die Entwicklung einer Welt in einer Bewegung vom essentiellen Pol weg hin zum substantiellen Pol hin besteht. Dies bedeutet, dass am Anfang eines Manvantara Verhältnisse stehen, in denen der qualitative Aspekt der Dinge dominiert. Das ist gewissermaßen die Nähe des Himmels, die Existenz in der Mitte der Welt, am Ursprungspunkt. Die sich stetig beschleunigende Entfernung vom essentiellen Pol hin zum substantiellen, gleicht symbolisch einem Fall von oben nach unten, oder einer zentrifugalen Bewegung vom Ursprungspunkt weg hin zur Peripherie, deren Ende allerdings nie erreicht werden kann, da der substantielle Pol, wie gesagt, ausserhalb des Daseins steht. Diese Bewegung hin zum quantitativen Pol äußert sich am Ende des Kali-Yugas in einer Quantifizierung der Lebensverhältnisse. Zeichen für diese Herrschaft der Quantität sind für Guénon Vermassung und Uniformisierung der Lebensformen in den modernen Gesellschaften. Sie bringen von einander isolierte, einander möglichst ähnliche, auf möglichst niedrigem 15 16 Zimmer 1972: 20. Daniélou, 1985, S.18, Zimmer, 1972, S. 20f. 8 geistigen Niveau vegetierende Einzelwesen hervor. Diese, von den modernen Wirtschaftsformen zu maschinenhaften und sinnlosen Tätigkeiten gezwungen, denen jeder rituelle Bezug zu höheren Seinsbereichen fehlt, verbringen ihr Dasein in einer Illusion. In der Illusion, das Alltagsleben wäre das wirkliche Leben. Der mit Descartes entstehende Rationalismus und der nachfolgenden Materialismus in Theorie und Lebenspraxis, die Entwicklung der Wissenschaften und der modernen Welt im Ganzen haben eine Schale gebildet, durch die die Menschen von allem Jenseitigen abgeschnitten sind. Die Welt ist ganz diesseitig geworden, selbst objektiv, da die Veränderungen auch kosmische Auswirkung haben. Für das profane Dasein ist Gott unwahrscheinlich geworden, selbst sich als religiös bezeichnende Menschen leben in ihrem Alltag so als ob es keinen Gott gäbe. Doch dieses Abschneiden der Verbindung ist nach Guénon erst der erste Schritt. Nachdem die Schale gefestigt und die Welt ihren höchsten Grad an „Verfestigung“ erreicht hat, beginnt der Prozess der Auflösung: die Schale bekommt „Risse“, und von unten strömen Einflüsse ein, die die Welt noch schneller ihrem Ende zuführen. Diese Einflüsse sind satanischen Ursprungs, die nun auf eine Menschheit treffen, die sich erfolgreich von himmlischen Einflüssen abgeschottet hat, die den dämonischen Kräften hätte Einhalt gebieten können. Ein Zeichen für diese aus der Tiefe kommenden satanischen Einflüsse ist für Guénon die moderne Esoterik. Er prophezeit ein weiteres Erstarken dieser irrationalen Bewegungen, die ihrer Form nach eine Karikatur einer wahren Spiritualität darstellen, bis zum Ende der gegenwärtigen Menschheit. Er sieht sich damit in Einklang mit der Antwort Jesu, der auf die Frage der Jünger : „Was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?“ (Matt 24,3) u.a. antwortete: „Und es werden sich viele Propheten erheben und werden viele verführen.“ (Matt 24, 11 ). Die Abwärtsbewegung des gesamten Manvantara, der immer schnellere Absturz der Vernichtung entgegen, verläuft aber nicht ohne Korrekturen, zeitweise Wiederherstellungen der Balance, oder auch Beschleunigungen des Himmels. Vishnu selbst steigt von Zeit zu Zeit herab und inkarniert sich in einem irdischen Wesen, um in die Geschehnisse einzugreifen. Eine solche Inkarnation nennt man Avatara („Herabstieg“).17 Es gibt zehn hauptsächliche Inkarnationen Vishnus in dem gegenwärtigen Manvantara. Am Anfang, im ersten Weltalter, dem KritaYuga steht die Inkarnation Vishnus als Fisch, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Dem folgen Avataras in Gestalt einer Schildkröte (Kurma), eines Ebers (Varaha), eines Mannlöwen (Narasimha). Im zweiten Weltalter, dem Treta-Yuga, erscheint Vishnu als Zwerg (Vamana), als Rama mit dem Beil (Parashu-rama), dann als der Rama, dessen Heldentaten im Epos Ramayana geschildert werden. Am Ende des dritten Weltalters erscheint Vishnu als der Avatara Krishna. Im vierten Weltalter erscheint er als Buddha, um die Menschen mit Irrlehren zu verführen, die ihren Untergang beschleunigen. Der letzte Avatar, der Kalkin-Avatar wird noch erwartet. In der Abenddämmerung des Kali-Yuga wird er kommen und in Begleitung bewaffneter Brahmanen ein mächtiges Heer führen. Er wird auf einem weißen Roß reiten und ein leuchtendes Schwert in der Hand halten und alle gottlosen und schlechten Menschen vernichten. Dann wird der Avatara wieder verschwinden und das Kali-Yuga zu Ende gehen. 17 Von der Wurzel tri, „überschreiten oder hinüberschreiten, hinübersegeln“, und dem Präfix ava-, „hinunter“. (Zimmer 1972: 22). 9 Auffallend ist natürlich hier die Ähnlichkeit mit der Darstellung des Endzeitgeschehens in der Offenbarung des Johannes (19, 11-15). Dort heißt es: „...und siehe, das war ein weißes Pferd, und der der auf ihm saß, heißt: ,Der Treue und Wahrhaftige‘; gerecht richtet er und führt er Krieg. Seine Augen waren wie Feuerflammen. ... Die Heere des Himmels folgten ihm auf weißen Pferden; sie waren in reines, weißes Leinen gekleidet. Aus seinem Mund kam ein scharfes Schwert, mit ihm wird er die Völker schlagen. ... Auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte trägt er den Namen: ,König der Könige und Herr der Herren‘.“ Nach indischer Überlieferung wird dann das Ende durch eine gewaltige Flut herbeigeführt, die die Erde vollständig bedecken und so hoch steigen wird, das auch die nächsten zwei Weltregionen überschwemmt werden.18 Der gesamte Kosmos, das Ei des Brahma (Hiranyagarbha), besteht aus verschiedenen horizontal übereinandergelagerten Bereichen oder Schichten. Unter der Erde liegen die sieben 18 Danielou 1985: 34f.; Hohenberger 1960: 120f. 10 unterirdischen Regionen oder Höllen (Patalas), darüber befinden sich die sieben oberen Regionen: zunächst die Erde (Bhur, Bhurloka), dann Bhuvar (Bhuvarloka), die Atmosphäre, die bis zum Sonnenkreis reicht, dann folgt Svar (Svarloka), der Götterhimmel, der die Sphäre des Mondes, der Planeten und der Fixsterne bis zum Polarstern umfaßt, dann Mahar (Maharloka), Janas (Janoloka), Tapas (Tapoloka) und Satyam (Satyaloka, Brahmaloka), die von den höheren Göttern bewohnt werden. Übrigens ist es laut Guénon nicht wörtlich zu verstehen, wenn in diesem Zusammenhang von Sonne und Mond die Rede ist. „Es handelt sich, wohlverstanden, niemals um die Sphäre der Sonne oder des Mondes, insofern sie sichtbare Sterne sind, als solche gehören sie einfach der Körperwelt an, sondern um die allgemeinen Prinzipien, die diese Sterne auf ihre Art in der sinnlich wahrnehmbaren Welt repräsentieren“, mit anderen Worten, es handelt sich um eine symbolische Darstellung von außerkörperlichen Zuständen.19 Die Wasser, die die Welt überschwemmen, zerstören also nicht die ganze Welt, sondern nur die drei ersten Regionen, d.h. die Wasser steigen nur bis Maharloka. Die oberen vier Welten werden erst am Ende eines Brahmalebens zerstört und damit das ganze Weltei. Alles Leben der drei Regionen wird vernichtet, bis auf Weniges, das mit Manu, dem Stammvater des zukünftigen Lebens in ein neues Goldenes Zeitalter hinübergerettet wird. Das Ende unseres Manvantara wird in etwa so aussehen wie das Ende des vorigen Manvantara, wie es uns in verschiedenen Überlieferungen berichtet wird. Nehmen wir die Schilderung im Matsyapurana als Beispiel 20: „In alter Zeit (lebte) ein König mit Namen Manu, ein Sohn des Sonnengottes. Voller Huld übertrug er die Regierung seinem Sohn und widmete sich schwieriger Askese.“ Einmal fand Manu im Wasser einen kleinen Fisch, den er in einem Wasserkrug aufbewahrte. Am nächsten Tag war der Fisch gewachsen und rief: „Schütze mich.“ Manu setzte ihn in einen größeren Topf, dort wuchs er über Nacht auf 3 Ellen. Manu setzte ihn in einen Brunnen. Aber der Fisch wuchs weiter und als er auch in dem Brunnen keinen Platz fand, wurde er in einem prächtigen Teich ausgesetzt. Schnell erreichte er eine Ausdehnung von der Größe einer Meile. Und wieder sprach er traurig: „Schütze mich, bester der Könige!“ Als er darauf, von Manu im Ganges ausgesetzt, ebenfalls immer weiter wuchs, da entließ ihn der König ins Meer. Als der Fisch, nachdem er das ganze Meer ausgefüllt hatte, sich näherte, war Manu erst erschrocken, dann erkannte er in dem Fisch Vishnu. Dieser sprach: ,Schon in kurzer Zeit, o König, wird die Erde samt Bergen, Wäldern und Hainen im Wasser versunken sein. Dieses Schiff, das von der Menge aller Götter gebaut wurde, dient der großen Menge lebender Wesen zur Bewahrung, o König! Die aus Schweiß und die aus Eiern hervorgehen, die der Erde entsprießen und die aus einem Mutterschoß geboren werden: alle diese hilflosen Wesen schütze, indem du sie auf ihm unterbringst, o Frommer! Wenn das Schiff, o König, von den Weltuntergangsstürmen ergriffen wird, dann wirst du es, o Indra unter den Königen, an diesem meinem Horn befestigen. Am Ende der Auflösung alles Beweglichen und Unbeweglichen wirst du dann Schöpfer der Welt werden, o König! So wirst du am Anfang des Kritayuga als allkundiger, standhafter König Regent eines Manvantara und selbst für die Götter verehrungswürdig werden. ... Von heute an wird Mangel an Regen herrschen auf Erden, ein volles Jahrhundert hindurch Unheil bringende Hungersnot. Dann werden die sieben unbarmherzigen Strahlen der Sonne, die den kleinen Wesen Verderben bereiten, durchglühte Kohlen regnen lassen. Auch das unterseeische Feuer wird beim Verschwinden des Zeitalters eine Veränderung erfahren, ferner das 19 20 Guénon 1986: 174. Hohenberger 1930: 9-12. 11 Giftfeuer, das der Hölle, (und zwar) dem Munde des Samkarsana entströmt, desgleichen das Feuer aus dem dritten Auge Shivas, das sich auf dessen Stirn befindet. Brennend werden die drei Welten in Erschütterung geraten, großer Weiser! Wenn so die ganze Erde verbrannt und in Asche verwandelt sein wird, wird der Luftraum durch die Hitze ausgeglüht werden, o Peiniger der Feinde! Dann wird die Welt samt Göttern und Gestirnen untergehen. ... (Die) sieben Weltuntergangswolken, die aus dem Schweiß des Agni entstehen, werden die Erde überschwemmen. Die Meere werden, nachdem sie in Erschütterung geraten sind und sich vereinigt haben, diese ganze Dreiwelt in ein einziges Meer verwandeln. Nachdem du dieses Schiff von den Göttern entgegengenommen, Wesen und Samen von überallher aufgeladen und mittels eines besonderen, von mir dargereichten Seils, o Frommer, das Schiff an meinem Horn befestigt hast, wirst du, durch meine Macht beschützt, allein bestehen bleiben, während sogar die Götter verbrannt werden. Soma und Surya (Sonne), ich, Brahma samt den vier (oberen) Welten, der heilige Fluß Narmadâ und der große Seher Mârkandeya, Bhava (Shiva), Veden und Puranas: dies alles wird, von den Wissenschaften rings umgeben, mit dir bestehen bleiben bei dem Untergang der (jetzigen Manu-) Periode.‘ ... Als der bestimmte Zeitpunkt der Ankündigung ... gemäß eingetreten war, da kam Janârdana (Vishnu) in Gestalt eine gehörnten Fischs zum Vorschein. (Auch) eine Schlange, die wie ein Seil aussah, näherte sich dem Manu. Sobald der Kenner des Rechts alle Wesen durch Yoga zusammengezogen und aufgeladen hatte, befestigte er das Schiff mit der Schlange als Seil an dem Horn des Fisches, nachdem er, oben darauf stehend, sich vor Janârdana verneigt hatte. Als die hereingebrochene Flut sich verlaufen hatte, wurde auf die Bitte des in Versenkung ruhenden Manu von dem Gott in Fischgestalt das (Matsya-) Purana21 verkündigt.“ Es ist bemerkenswert, dass nicht nur Lebewesen vor der Flut bewahrt werden, sondern auch das heilige Wissen in Gestalt der Veden und Puranas. Die Uroffenbarung, die am Anfang des Manvantaras den Weisen, den sogenannten Rishis, offenbart wird, ist sowohl transzendenten Ursprungs als auch immerwährend. Während der Katastrophe bleibt der Veda verschlossen und verborgen. Nach einer anderen Überlieferung (z. B. dem Mahabhârata, III, 187/2-56) sind die sieben ersten Rishis (Weisen) als Mitbewahrer des heiligen Wissens mit an Bord der Arche. Christliche und islamische Parallelen Uns erinnert der indische Bericht von der Flut natürlich vor allem an zwei biblische Geschichten, einmal die Geschichte von Noah, der Arche und der Sintflut, zum anderen an die Geschichte von Jona, der von einem Fisch vor dem Ertrinken bewahrt wird. Die biblische Flut ist im Vergleich mit der soeben gehörten indischen Überlieferung ein Geschehen geringeren Ausmaßes, d.h. eine Katastrophe innerhalb einer Schöpfung, während die indische Überlieferung das Ende eines Schöpfungszyklus und den Beginn eines neuen ins Auge faßt. Der Geschehensablauf ist in beiden Fällen aber parallel. Was bei Noah allerdings fehlt, ist der Fisch-Erretter. Diesen finden wir in der Geschichte von Jona. Hier geht es aber nicht um den Untergang einer ganzen Welt, sondern um ein individuelles Widerfahrnis. Das Geschehen ist trotzdem vergleichbar, denn das kosmische Geschehen wie das individuelle gehorchen den gleichen Gesetzen. Für Jona ist mit der Berufung durch Gott eine Phase, ein Zyklus seines Lebens zu Ende, ein neuer beginnt. Jona widerfährt eine Initiation, die Geschichte folgt dem Muster allen Initiationsgeschehens. Die Transformation des Seins, der Übergang von einem Seinszu21 Matsya Sanskrit „Fisch“. 12 stand in einen anderen, ist eine Tod und eine Wiedergeburt. Jona muss sterben und neu wiedergeboren werden, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Dass es sich bei Jona um Tod und Auferstehung handelt, bestätigt Jesus selbst, wenn er sagt (Matt 12, 40): „Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein.“ Und in diesen Zusammenhang gehört auch der Ausspruch Jesu: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Wer so neu geboren worden ist und eine neue Identität bekommen hat, der kann mit Paulus sagen: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2, 20) Im Falle Jona ist der Tod eine Rückkehr ins Wasser, dass wir hier als Symbol für das Urchaos ansehen können. In ihm bewahrt wird aber das Sein, das verwandelt wiedergeboren wird. Bewahrt und errettet wird es im Fisch, der hier wie in der indischen Überlieferung den unzerstörbaren Kern des Seins in ein neues Dasein führt. Bekanntlich ist auch im Christentum der Begriff des Erretters mit dem Symbol des Fisches verknüpft. Jesus macht seine Jünger zu Menschenfischern (Mk 1, 17), er selbst wird dem Fisch gleichgesetzt. Im frühen Christentum wurde ja bekanntlich häufig das griechische Wort für Fisch, Ichthys als Akristichon gedeutet, d.h. als zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben des Satzes: Jesus Christos Theu Hyos Soter, Jesus Christus, Gottes Sohn, Erretter. Ein interessante Seite dieser Symbolik von Fisch und Erretter finden wir im Islam, der ja auch die Propheten Noah und Jona kennt. René Guénon hat darauf in seinem Aufsatz „Les mystères de la lettre Nun“22, „Die Geheimnisse des Buchstabens Nun“ hingewiesen und zwar im Zusammenhang mit der esoterischen Deutung der Buchstaben des arabischen Alphabets. Nach einer Überlieferung soll Muhammad gesagt haben: „Alles, was im Koran offenbart worden ist, ist in der Fatihah (der ersten Sure) enthalten. Alles von der Fatihah ist in der Eingangsformel Bismi Llahi r-Rahmani r-Rahim (‚Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen, des Erbarmers‘) enthalten. Alles davon ist im Buchstaben Ba (mit dem der Satz beginnt), und dieser ist enthalten im Punkt unter dem Ba.“ ( ) ب23 Mit anderen Worten: Der gesamte Koran ist in einem einzigen Ursprungspunkt enthalten. Man könnte sagen: Nicht nur das Wort, sondern die ganze Schöpfung. Denn jedes manifestierte Sein oder Wesen hat ein Zentrum, eine Mitte, einen Pol, das ihn mit den höheren Seinsbereichen verbindet; das ist die sogenannte Weltachse. Im Punkt, der den essentiellen Pol des Wesens oder Seins darstellt, sind die im Sein entfalteten Daseinsmöglichkeiten synthetisch, im Keime enthalten. Der Ursprungspunkt selbst ist außerhalb von Raum und Zeit, und er ist es, der in der Arche bewahrt wird. Im Hinduismus wird dieser Ursprungspunkt Bindu genannt (im Tantra mit dem Samen des Mannes identifiziert). Den Punkt unter dem arabischen Buchstaben Ba finden wir wieder bei dem Buchstaben Nun. Der Buchstaben hat – alleine stehend – die Form eines nach oben geöffneten Halbkreises mit einem Punkt auf der ideellen Linie zwischen den Enden des Halbkreises ( ) ن. Guénon interpretiert dies als Symbold der Arche – der Halbkreis -, die den Punkt bewahrend enthält. Das Nun ist der vierzehnte Buchstabe des arabischen Alphabets, wenn man es den Zahlenwerten der Buchstaben nach ordnet, beendet also die erste Hälfte der Serie von insgesamt 28 Buchstaben des Alphabets. Der islamischen Tradition nach steht er für al-Hût ()ﺣﻮﺖ, den Wal. Dies stimmt mit der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Nun überein, von dem der Buchstabe seinen Namen hat, und die nichts anderes als „Fisch“ ist. Darum wird der Prophet Jona, im Arabischen Yunus, auch Dhu-Nun, wörtlich „Besitzer des Fischs“ genannt. 22 23 Guénon, 1962 : 154-158. Vgl. Lings 1971:148ff. 13 Eine kurze Bemerkung noch zur „Reise“ der Arche. Ananda Coomaraswamy hat darauf hingewiesen, dass die Fahrt der Arche nicht in der Horizontalen sondern in der Vertikalen geschieht, also ein Hinauf- und ein Hinabsteigen ist, entsprechend dem Steigen und Fallen der Flut.24 Die Reise des Manu in der Arche ist insofern ein Sonderfall des Pitri-yana, des Weges der Ahnen bzw. Väter, der nach hinduistischen Vorstellungen einer der zwei möglichen nachtodlichen Entwicklungen darstellt. In der Bhagavadgita werden die zwei möglichen Jenseitswege der Toten folgendermaßen charakterisiert (VIII, 23-26): Nun will ich dir, o bester der Bharatas, erklären, zu welcher Zeit die Yogins hinscheidend nimmer wiederkehren, und auch jene Zeit, in welcher sie hinscheidend wiederkehren. Das Feuer, das Licht, der Tag, der zunehmende Mond, die sechs Monate des nördlichen Weges (der Sonne): hier fortschreitend gehen die Menschen, die das Brahma kennen, in das Brahma ein. Der Rauch, die Nacht, und auch der abnehmende Mond, die sechs Monate des südlichen Weges (der Sonne): hier fortschreitend erlangt der Yogin das Mondlicht und kehrt zurück. Licht und Dunkelheit, diese Pfade gelten als der Welt ewige (Pfade). Auf dem einen geht man zur Nichtwiederkehr, auf dem anderen kehrt man zurück.“25 Der Devayana, der Götterweg führt aus dem Kreislauf des Daseins heraus in die ewige Glückseligkeit ohne Wiederkehr. Der Pitriyana, der Weg der Väter (also der Ahnen), ist ebenfalls aufsteigend, führt aber nur bis zur Sphäre des Mondes (Chandra), wo die Verstorbenen in einer Art Paradies (Chandra-Loka) leben, bis sie wiedergeboren werden und wiederherabsteigen. Die Flut am Ende eines Manvantara ist ein ebensolches Hinauf- und Hinabsteigen. Sie gelangt bis zur Sphäre des Mondes, erfasst also den Chandra-Loka und bezieht die in einem Manvantara Verstorbenen mit ein. Man kann hier eine Parallele zum letzten Gericht der monotheistischen Religionen sehen. Der Manu ist nicht nur der Urahn am Anfang der neuen Weltperiode, sondern auch der Eröffner eines neuen Weges der Väter, aus dem unablässig neues Leben auf die Erde herabkommt. Die Rolle von Elija Wie wir gesehen haben, ist für die traditionalistische Schule in der Nachfolge Guénons der Hinduismus die Religion, die der sog. Urreligion historisch am nächsten steht. In ihr finden sie die geeignesten Begriffe zur Darstellung ihrer Sicht der „immerwährenden Religion“. In ihrer religiösen Praxis gehören die Traditionalisten aber zumeist in den christlichen oder islamischen Bereich. Entsprechend häufig sind die Rückbezüge auf diese Traditionen und die Versuche, sie in ein einheitliches Bild zu integrieren. Es ginge über den hier gegebenen Rahmen hinaus, wollte ich versuchen, über diesen Aspekt des traditionalistischen Denkens ein umfassendes Bild zu geben.26 Aus dem jüdischen Bereich gibt es, so weit ich das sehe, nur einen Vertreter, den man den Traditionalisten zurechnen kann. Es handelt sich um Leo Schaya, der vor allem über die Kabbala, die esoterische Interpretation der Tora, aber auch über die islamische Esoterik publiziert hat. In einem Aufsatz, mit dem Titel „Die Mission des Elija“27 behandelt er einige jüdische eschatologische Vorstellungen und versucht, den jüdischen Standpunkt in die traditionalisti24 25 26 27 Coomaraswamy 1987: 400. Zitiert nach der Übersetzung von S. Lienhard. Nur am Rande möchte ich bemerken, dass alle „Traditionalisten“ in Dantes „Göttlicher Komödie“ eine unübertroffene Darstellung einer traditionsgemäßen christlichen Sicht sehen. Schaya 1980. 14 schen Vorstellungen einzugliedern. Der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist die endzeitliche Rolle Elijas, die er ganz im Einklang mit den christlichen und muslimischen Auffassungen sieht. Bekanntlich ist ja Elija jener Prophet, der leibhaftig in den Himmel aufgenommen wurde, wie es im 2. Buch der Könige, in Kap. 2, berichtet wird: Elija kommt zusammen mit Elischa, seinem Nachfolger, an den Jordan. „Hier nahm Elija seinen Mantel, rollte ihn zusammen und schlug mit ihm auf das Wasser. Dieses teilte sich nach beiden Seiten, und sie schritten trockenen Fußes hindurch ... Während sie miteinander gingen und redeten, erschien ein feuriger Wagen mit feurigen Pferden und trennte beide voneinander. Elija fuhr im Wirbelsturm zum Himmel empor. Elischa sah es und rief laut: Mein Vater, mein Vater! Wagen Israels und sein Lenker! Als er ihn nicht mehr sah, fasste er sein Gewand und riß es entzwei.“ Mit der Aufnahme in den Himmel bei lebendigem Leib ist aber das Wirken Elijas nicht zu Ende. Seitdem ist er viele Male im Verborgenen wieder auf die Erde gekommen und hat sich auf geheimnisvolle Weise enthüllt. Man glaubt ihn im Judentum zugegen bei jeder Beschneidung (8 Tage nach der Geburt) und bei jedem Passahmahl. Manchen offenbart er sich, um sie in die Geheimnisse der Schrift einzuweihen und den Eifer im Studium und Befolgen der Gesetze anzufachen, besonders am Ende der Zeiten. In der folgenden Passage am Ende des Buches Maleachi (3, 22-24) sieht Schaya einen verschlüsselten Hinweis auf die endzeitliche Aufgabe des Elija: „Denkt an das Gesetz meines Knechtes Mose; am Horeb habe ich ihm Satzung und Recht übergeben, die für ganz Israel gelten. Bevor aber der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare Tag, da sende ich zu euch den Propheten Elija. Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern, damit ich nicht kommen und das Land dem Untergang weihen muss.“ Diese Passage weist für Schaya auf die unterschiedlichen und einander ergänzenden Aufgaben Moses und Elijas hin: Das Wirken Mose bezieht sich vor allem auf das Gesetz, die Tora, auf die Gesamtheit von Exoterik und Esoterik des Glaubens. Elija dagegen ist der Typus des „verborgenen Meisters“, der die Elite Israels in die esoterische Seite der Tora einführt. „Mose“ bedeutet das äußere Gesetz, das die esoterische Seite einschließt, Elija bedeutet die durch die esoterische Erkenntnis und Praxis bewirkte Belebung und Verwirklichung der Exoterik. Aber nach Ansichts Schayas, und hier schlägt er die Brücke zu den beiden anderen monotheistischen Religionen und zu den Weltreligionen allgemein, steht Elija nicht nur für die Esoterik des Judentums, sondern für Esoterik allgemein. Er ist die Verbindung zu der einen Religion, der Urtradition, die auf die Offenbarung Gottes an Adam, den ersten Menschen, zurückgeht. Einen Hinweis auf diese einheitliche Urtradition sieht Schaya in Genesis 11,1, wo es heißt: „Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.“ Der Mythos vom Turmbau zu Babel schildert den Verlust dieser ursprünglichen Einheit und die Entstehung der verschiedenen Sprachen und Traditionen. Jede dieser Traditionen (Religionen) bewahrte und erneuerte auf jeweils ihre Weise die ursprünglich eine Offenbarung. Mit dem Messias wird die eine Offenbarung erneut vom Himmel kommen und damit eine neue einheitliche Tradition. Elija ist derjenige, der sie vorbereitet in seinem Amt als Vorläufer des Heilands. Durch Mose bzw. die Religion, für die sein Name steht, wird der Messias „ankündigt“, Elija kommt vom Himmel um ihm den „Weg zu bereiten“. Eine Bestätigung dieser Doppelfunktion sieht Schaya in der Szene der Verklärung Jesu (Mat 17,1-4), bei der Mose und Elija zugegen sind. Wie bei Maleachi wird Elija hier neben Mose gestellt. Am Ende der Zeiten wird Eliaja nach jüdischer Tradition seine Stimme so laut erheben, dass sie von einem Ende der Welt bis zum anderen gehört werden kann. Er wird also nicht nur zu Israel, sondern zu allen Menschen und damit zu allen Religionen sprechen. Die Stelle aus 15 Maleachi, „Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern“, bedeutet nach Schaya in diesem Zusammenhang, dass die offenbarten und echten Religionen, die Väter, die Tür zum ewigen Heil öffnen werden und Zugang zur Erlösung in der Einung mit dem Einen und Einzigen gewähren werden. Das Herz der Väter sei der innere, wesentliche Kern der Religionen, aus dem ihre Wahrheit ausströmt – und das Herz der Kinder die geistige Annahme und Empfänglichkeit dafür. Diese Annahme und Empfänglichkeit ist nichts anderes als die Kabbalah (wörtl. die Tradition), die esoterische Seite des Judentums, dessen Meister Elija im Verborgenen ist. Das verborgene Wirken und Lehren Elijas wird, wie gesagt, am Ende der Zeiten offen und umfassend werden, sich auf alle „Väter“ erstrecken. Elija wird Frieden zwischen allen echten Religionen stiften und ihre wesentliche innere Einheit offenbaren, die bei der Ankunft des Messias in eine neue einheitliche Form münden wird. Schaya zitiert in diesem Zusammenhang den Propheten Sacharja (14, 9): „An jenem Tag wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige.“ Das Amt des Elija ist nicht unbedingt an seine Person gebunden, es kann auch auf andere übertragen werden, die es für ihn ausüben. Schaya sieht in Johannes dem Täufer solch einen „Funktionsträger“, der dem ersten Kommen des Messias voranging. Elija selbst wird erst am Ende wiederkommen „und er wird alles wiederherstellen“, wie es bei Matthäus heißt (17,11). Zunächst wird er die geistigen Dinge wieder zurechtrücken. Er wird den Kinder Israel alles in den mosaischen Gesetzen erklären, das ihnen unverständlich geworden ist. Er wird aber nicht nur die Probleme unvollständiger talmudischer Exegesen lösen und die vollständige und vollkommene Interpretation der Tora lehren, sondern er wird den Inhalt des „Buches der Gerechtigkeit“ (Sepher ha-Yashar) enthüllen. Die ganze Torah ist nicht mehr als eine Zeile dieses Buches, d.h. das Sepher ha-Yashar wird die endgültige universale Offenbarung sein, die über Israel hinausgehen wird, denn Elija wird seine Stimme so laut erheben, das alle Menschen ihn hören werden. So wie Elija sein Amt auf andere Personen übertragen kann und im Verborgenen bereits jetzt wirkt, so ist auch seine endgültige Botschaft schon am Wirken. Schaya spricht von einer „eliatischen Strömung“ die vom himmlischen Fluß des Lebens ausgeht und am Ende der Zeiten immer stärker werden wird. Im Fortschreiten oder besser rasenden Absturz der kosmischen Entwicklung ist durch die Abwendung der Menschen von Gott, durch den stetigen Vormarsch von Materialismus und Rationalismus gleichsam eine harte Schale entstanden, die die Verbindung zwischen den jenseitigen Seinsbereichen und unserer Erfahrungswelt unterbrochen hat. Am Ende der Zeiten bekommt diese Schale – es war schon die Rede davon – Risse, aus der von „unten“ untermenschliche, chaotische Einflüsse in unsere Welt einströmen. Glücklicherweise gibt es, so Schaya – und er sieht die Dinge hier positiver als Guénon – in jeder Welt einen gewissen Ausgleich. Wenn die Schale Risse bekommt, entstehen auch oben Risse, und aus diesen „oberen Rissen“, d.h. Öffnungen zur himmlischen Welt der Gnade, strömt ein geistiges Licht, das die „Herzen der Söhne“ ihren Vätern wieder zuwenden lässt. Dieser eliatische Strom wird stärker werden in dem Maße, wie die Welt dunkler wird, bis zum Ende. Dann, wie es im Buch Joel (3,1-5) heißt, „aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein ... Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und schreckliche Tag. Und es wird geschehen: Wer den Namen des Herrn anruft, wird gerettet. Denn auf dem Berg Zion und in Jerusalem gibt es Rettung, wie der Herr gesagt hat und wen der Herr ruft, der wird entrinnen.“ 16 Elija im Islam Schaya weist darauf hin, das im Islam die eben beschriebenen Aufgaben des Elija, das eliatische Amt sozusagen, auf mehrere Personen verteilt sind. Es gibt einmal Elija selbst (Koran 6,85; 37,123-132) aber auch die Gestalt des al-Khidr oder al-Khâdir, des „Grünen“, der typische Merkmale des Elija aufweist und auch gelegentlich mit ihm identifiziert wird, bzw. mit ihm zusammen auftritt. Oft stellt man sich al-Khidr als in Grün gekleideten Mann vor, der auf einem Fisch reitet. Er ist ein unsterbliches Wesen und hat Macht über den Regen und die Vegetation und wo er hintritt, grünt die Erde. In der islamischen Esoterik gilt er als der verborgene Meister, der wie Elija höheres geistiges Wissen verleiht. Im Koran, in der Sure „Die Höhle“, tritt er in Gemeinschaft mit Mose auf und enthüllt diesem die verborgene Bedeutung scheinbar absurder Geschehnisse. (Auch hier spielt ein Fisch eine Rolle, mit dessen Hilfe Mose zur Quelle der Unsterblichkeit gelangt.)28 Der Mahdi, der Rechtgeleitete, ist eine weitere Gestalt, die Funktionen des Elija erfüllt, denn er ist im Islam derjenige, der „alles wiederherstellt“. Nach der islamischen Tradition wird der Mahdi aus der Familie des Propheten Muhammad abstammend, am Ende der Zeiten erscheinen. Er soll ein Mann von hoher Stirn und mit Adlernase sein und er wird Gerechtigkeit über die Erde bringen und alle Tyrannen besiegen, also die Dinge in ihrer rechten Ordnung wieder herstellen. Er wird in Mekka ein Gebet leiten und Jesus wird vom Himmel herabkommen und hinter ihm beten. Seine Herrschaft wird sieben Jahre lang dauern, nach anderen Angaben wird er erst einen Tag vor dem Jüngsten Gericht erscheinen. Danach wird der Antichrist (dajjal) erscheinen. Nach dem Propheten Muhammad ist der Antichrist ein Mann, dessen rechtes Auge blind ist, in dem alles Licht erloschen ist, als ob es eine Traube wäre. Er wird durch Wunder viele Anhänger finden. Die Gläubigen werden gegen ihn kämpfen und wenn sie sich zum Gebet aufstellen, „wird Jesus, der Sohn der Maria, herabsteigen und sie im Gebet leiten. Und der Widersacher Gottes wird dahinschmelzen, wenn er Jesus sieht, wie Salz im Wasser schmilzt. Würde er so gelassen, ginge er schmelzend zugrunde. Aber Gott wird ihn durch Jesu Hand töten, der ihnen das Blut des Feindes auf seiner Lanze zeigen wird.“29 Das himmliche Jerusalem und das Paradies Vishnus Nach dem Tod des Antichristen beginnt das Gericht über alle Toten und dann – nun sind wir wieder im Christentum – die Herabkunft des neuen Jersualem. Diese Herabkunft des neuen Jerusalem vollendet den Zyklus, an dessen Anfang einst das irdische Paradies stand. Beide, Anfang und Ende, sind Momente der unmittelbaren Gottesgegenwart, insofern berühren sie einander, wie Gott das Alpha und das Omega ist. Das Ende schlägt in den Anfang um, der Himmel ist neu wie die Erde, Gott wohnt unter den Menschen, der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. (Offb.21) „Er, der auf dem Thron saß, sprach: „Seht, ich mache alles neu. ... Wer durstig ist, den werde ich umsonst aus der Quelle trinken lassen, aus der das Wasser des Lebens strömt. Wer siegt, wird dies als Anteil erhalten.“ Das Paradies, wie es in der Gensis geschildert wird, war als Urzustand und Anfang eines Kommenden, einer Entwicklung, ein frühlingshafter Garten voller Leben – das himmlische 28 29 In der Sure „Die Höhle“ finden sich weitere eschatologische Themen, u.a. der Bericht über die Siebenschläfer, die aus der Zeit heraustreten und nach ihrem „Todesschlaf“ im göttlichen Zwischenreich der „Höhle“ eine „Auferstehung“ in einer für sie „neuen Welt“ erleben, dann auch der Bericht vom Bau der Schutzmauer gegen die am Ende der Zeiten hereinbrechenden Gog und Magog. Lings 1989: 132. 17 Jerusalem hingegen ist das Bild der statischen Vollendung und Bewahrung der Früchte des Lebens. Oder, wie Titus Burckhardt, ein weiterer Vertreter der traditionalistischen Schule, schreibt: „Es stellt jenen endgültigen Zustand des Daseins dar, in dem all das, was an der Welt gottähnlich und daher im Wesen unzerstörbar ist, aus der Zeit heraus in den zeitlosen, göttlichen Geist ,aufgehoben‘ wird. Darum ist auch die Himmelsstadt einem einzigen, unveränderlichen und leuchtenden Edelstein vergleichbar.“30 Hören wir wie Johannes das himmlische Jerusalem schildert (Offb 21, 22): „Da entrückte er (der Engel) mich in der Verzückung auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam, erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Sie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis. Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit 12 Toren und 12 Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der 12 Stämme der Söhne Israels. Im Osten hat die Stadt 3 Tore und im Norden 3 Tore und im Süden 3 Tore und im Westen 3 Tore. Die Mauer der Stadt hat 12 Grundsteine, auf ihnen stehen die 12 Namen der 12 Apostel des Lamms. ... Die Stadt war viereckig angelegt, und ebenso lang wie breit. Er maß die Stadt mit dem Meßstab; ihre Länge, Breite und Höhe sind gleich: 12000 Stadien. Und er maß ihre Mauer: sie ist 144 Ellen hoch ... Ihre Mauer ist aus Jaspis gebaut, und die Stadt ist aus reinem Gold, wie aus reinem Glas. ... Die 12 Tore sind 12 Perlen, ein jedes Tor besteht aus einer einzigen Perle. Die Straße der Stadt ist aus reinem Gold, wie aus klarem Glas. ... der Herr, ihr Gott, der Herr über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm. Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. ... Und er zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus. Zwischen den Straßen der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, stehen Bäume des Lebens. Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal; und die Blätter der Bäume dienen der Heilung der Völker. ... Der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt stehen, und seine Knechte werden ihm dienen. Sie werden sein Angesicht schauen, und sein Name ist auf ihre Stirn geschrieben. Es wird keine Nacht mehr geben, und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in alle Ewigkeit.“ Das so geschilderte himmlische Jerusalem ist ein Bild der Ewigkeit, eines Zustandes außerhalb der Zeit. Der Aufbau der Stadt ist voller zeitlicher Bezüge, die aber alle in räumliche Maßverhältnisse übersetzt sind. Also eine Transformation der Zeit in den Raum, einen Übergang vom Zeitlichen in das Zeitlose, von der Sukzession in die Simultanität des ewigen Augenblicks. „Während die der Zeit unterworfene Welt als ein endloser Kreislauf dargestellt werden kann, gleicht die Gottesstadt in ihrer unwandelbaren Vollkommenheit einem Würfel. ... Die Mauer der Stadt entspricht dem Himmelskreis, den die Sonne durchläuft, denn sie hat zwölf Tore, wie dieser zwölf „Zeichen“ oder „Häuser“ hat“.31 Die Sonnenbahn selbst ist in die Statik des Vierecks verwandelt. Die himmlische Stadt umfasst alle Zeit wie einen Raum. 30 31 Burckhardt 1962: 21. Burckhardt 1962: 21. 18 Titus Burckhardt hat auch darauf hingewiesen, dass in bildlichen und schriftlichen Darstellungen überraschende Parallelen zwischen dem „himmlischen Jerusalem“ und Vaikuntha, dem Paradies des Gottes Vishnu bestehen.32 Dieses Paradies des Vishnu wird im Skanda Purana mit folgenden Worten geschildert: „Betrachte den Tempel aus Edelstein, der sich auf der weißen Insel erhebt, umgeben von dem Milchmeer. Inmitten des Milchmeeres befindet sich der Opfersaal, aus kostbaren Steinen bereitet. Er ist aus reinem Kristall erbaut und nicht zu erschüttern. Das Tempelinnere ist in 12 x 12 Teile geteilt (d.h. 144, das entspricht dem Maß der Mauer des himmlischen Jerusalem) und strahlt mit dem leuchtenden Glanz der Sonne. Es ruht auf 16 Pfeilern aus Smaragd und hat 12 Tore nach den vier Richtungen des Raumes hin. Unsterblichkeit, Glückseligkeit, Wachstum, Heil, Gedeihen, Freude, Beständigkeit, Mondesglanz, Erleuchtung, heller Schein, himmlisches Licht, Reichtum, solches sind die Namen der 12 Wächter der Tore. Der wunderbar schöne Saal der Opfer strahlt in einem Licht gleich von unzähligen Sonnen, und dieses Licht wird bis ans Ende aller Kalpas andauern. Inmitten des Saales ist der makellose Baum (des Lebens), er erhebt sich aus dem strahlenden, hundertblättrigen Lotus. Sein Dach hat zwei Stockwerke und ist mit goldenen Ziegeln gedeckt. Zwischen den Stockwerken ist eine durchbrochene Mauer aus Perlen. In diesem schimmernden Heiligtum, welches aus sich heraus leuchtet, scheinen nicht Sonne noch Mond noch Sterne. Das ist die Wohnung von Narayana (nara=menschlich, yana=Weg, d.h. Vishnu), welcher jenseits der wandelbaren Welt ist und selbst jenseits des Unwandelbaren.“33 Mögen diese Parallelen nun auf Entlehnungen beruhen oder nicht, das ist für den traditionalistischen Standpunkt, den wir hier darstellen, von eher zweitrangigem Interesse. Ihm geht es vor allem um den Inhalt dessen, was in der Symbolik sich ausdrückt, denn um symbolische Darstellungen handelt es sich hier. Die Symbolik ist eine Sprache, die sich dem traditionellen Verständnis nach zwar auf reale Beziehungen zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten stützt, die aber letzlich darauf zielt, in paradoxer Weise das Undarstellbare darzustellen, das Unsagbare zu sagen. Nicht indem es dieses erschöpfend präsentiert, sondern indem es seine Spuren und Spiegelungen ins Bewußtsein rückt und dadurch eine Art platonischer Erinnerung wachruft. Das Ende unserer Welt Wir haben nun einiges vom Wie und Warum des Weltuntergangs gehört, natürlicherweise sollte auch die Frage nach dem Wann gestellt werden. Genaue Angaben findet man bei den Traditionalisten eher selten und Guénon nennt auch einen Grund: „Wenn die genaue Dauer eines Manvantara bekannt wäre und darüber hinaus der 32 33 Burckhardt 1962: 1992 Burckhardt 1962: 133ff. 19 genaue Zeitpunkt seines Beginns, könnte jeder ohne Schwierigkeit daraus die Schlußfolgerungen ziehen und bestimmte zukünftige Ereignisse voraussagen; nun hat keine orthodoxe Tradition jemals Nachforschungen ermutigt, mit deren Hilfe der Mensch die Zukunft mit einer kleineren oder größeren Reichweite voraussagen könnte. Ein solches Wissen brächte mehr Nachteile mit sich als wirkliche Vorteile. Deswegen sind der Beginn und die Dauer des Manvantara immer mehr oder weniger sorgfältig im Unklaren gelassen worden, entweder indem man an die richtigen Zahlenangaben eine gewisse Anzahl Jahre hinzugefügt oder etwas abgezogen hat, oder indem man die Dauer der Zyklen mit ihnen multipliziert oder dividiert hat, so dass nur die Proportionen zwischen den einzelnen Zyklen exakt geblieben sind.“34 Diese Einschränkungen ungeachtet hat aber auch Guénon über die Dauer des Kali Yuga spekuliert. Er kommt zu einem Ergebnis von 64.800 Jahren für die Dauer des gesamten Manvantara, mit den entsprechenden Zahlen für die 4 Yugas von 25.920, 19.440, 12.960 und 6.480 Jahren.35 Die Morgendämmerung des Kali-Yuga hätte demnach eine Dauer von 648 Jahren, das Kali-Yuga eine Dauer von 5.184 Jahren, die Abenddämmerung eine Dauer von wiederum 648 Jahren. Nach traditioneller indischer Auffassung begann das Kali-Yuga, wie bereits erwähnt, im Jahre 3.102 v. Chr. Wenn man dieses Datum zu Grunde legt und die die Guénonschen Berechnungen übernimmt, würde die Abenddämmerung des Kali-Yuga im Jahre 2.082 beginnen. Das Ende wäre im Jahre 2.730 erreicht, eine noch einigermaßen beruhigende zeitliche Entfernung, jedenfalls für den Augenblick. Zu etwas beunruhigenderen Ergebnissen kommt Alain Danielou, der ebenfalls seine Berechnungen präsentiert.36 Er kommt auf eine Dauer von 60.487 Jahren für das Manvantara. Entsprechend verteilen sich die Yugas folgendermaßen: Morgendämmerung des Krita Yuga Beginn des Krita Beginn der Abenddämmerung des Krita Morgendämmerung des Treta Yuga Beginn des Treta Beginn der Abenddämmerung des Treta Morgenddämmerung des Dvapara Beginn des Dvapara Beginn der Abenddämmerung des Dvapara Morgendämmerung des Kali Yuga Kali Yuga Mitte des Kali Yuga Beginn der Abenddämmerung Ende der Abenddämmerung 58 042 v. Chr. 56 026 35 864 33 848 32 336 17 215 15 703 14 695 4614 3606 3102 582 1939 n. Chr. 2442 1939 das Jahr des Beginns des Zweiten Weltkriegs, markiert den Beginn der Abenddämmerung des Kali-Yuga (im Monat Mai). „Die Endkatastrophe wird während der Abenddämme34 35 36 Guénon 1970: 21. Guénon 1970: 24. Daniélou 1985 : 18f., 225ff. 20 rung stattfinden. Die letzten Spuren der gegenwärtigen Menschheit werden 2442 verschwunden sein.“37. Ich möchte zum Abschluss noch auf eine Untergangsprophetie aus dem christlichen Bereich eingehen, auf die Martin Lings, ein weiterer „Traditionalist“, hinweist.38 Sie ist sicher die spektakulärste. Es handelt sich um die sog. Prophezeiung des Sankt Malachy39, eine der bekanntesten Papstprophetien des Mittelalters. Sie wird dem irischen Heiligen Malachias bzw. St. Malachy zugeschrieben. Dieser, 1094/1095 in Armagh südwestl. von Belfast geboren, wurde später Mönch im dortigen Kloster und war von 1123-1127 Bischof von Connor (nordwestl. von Belfast) und 1137 Bischof von Down (südl. von Belfast). Anläßlich seiner ersten Romreise ernannte ihn Papst Innonzenz II. zum Legaten in Irland. Auf der Hinreise nach Rom hatte Malachy in Clairvaux Station gemacht und mit dem hl. Bernhard Feundschaft geschlossen. Er blieb mit ihm in ständigem Briefwechsel und gründete mit seiner Hilfe im Jahre 1142 das erste Zisterzienserkloster in Irland. Auf seiner zweiten Romreise starb Malachy in Clairvaux im Jahre 1148. Bernhard, der ihn sehr wertschätzte, hielt zwei Predigten zu seinem Andenken und schrieb eine kurze Vita. 1190 wurde Malachy heiliggesprochen. In seiner Vita berichtet der hl. Bernhard, das Malachy die Sehergabe besessen habe, erwähnt aber nichts von einer Weissagung über die Päpste. Auch in anderen zeitgenössischen Quellen ist nichts darüber zu finden, und dies war natürlich später ein Hauptargument gegen ihre Authentizität. Die Prophezeiung kam erst mehr als 400 Jahre nach Malachys Tod ans Tageslicht. 1595 publizierte Arnold Wion sein Lignum Vitae (Baum des Lebens), eine Sammlung von Kurzbiographien von Mitgliedern des Benediktinerordens, von dem der Zisterzienserorden ein Zweig ist, und im Zusammenhang mit Malachys Biographie wurde der Text der Prophezeiung veröffentlicht. Nach wissenschaftlicher Einschätzung handelt es sich dabei um ein Phantasieprodukt und hat mit dem hl. Malachias nichts zu tun. Aber wie auch immer, die Prophezeiung selbst besteht aus einer Liste von 112 Päpsten, angefangen von Coelestin II. (1143-1144) bis zum vorgeblich letzten Papst, nach dem das Weltende kommen soll. Jedem Papst ist ein kurzer Sinnspruch beigegeben, der ihn charakterisieren bzw. identifizieren soll. Man hat sich natürlich bemüht, hinter die Bedeutung dieser Kennzeichnungen zu kommen (oder eine Bedeutung in sie hineinzulesen, je nach Auffassung). Hier nur einige Beispiele. Interessant ist natürlich vor allem die Liste ab 1595, d.h. ab dem Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens, denn bei den zeitlich voraus gehenden Päpsten muss es sich ja nicht um eine Vorhersage handeln: Papst Pius VI. (1775-1799) z.B. wird als „Peregrinus Apostolicus“ bezeichnet, „der wandernde Erbe der Apostel“. Erklärung: 1798 wurde er von den napoleonischen Revolutionstruppen aus Rom verschleppt, zuerst nach Siena gebracht, dann nach Florenz, dann Turin, von da über die Alpen nach Briançon, dann nach Embrun, Gap, Grenoble, schließlich nach Valence, wo er starb. Der nächste Papst Pius VII. (1800-1823) hat die Kennzeichnung „Aquila rapax“, „der habgierige Adler“. Erklärung: das bezieht sich auf den Umstand, dass Napoleon, dem ja oft ein adlerhaftes Aussehen nachgesagt wurde, ihn von 1809 bis 1814 als Gefangenen festgesetzt hielt. 37 38 39 Daniélou 1985: 18. Engländer, geb. 1909, lange Jahre in Kairo in Kontakt mit Guénon, lehrte dort an der Universität, dann später im British Museum verantwortlich in der Orientabteilung für Handschriften und Bücher, Autor zahlreicher Bücher über den Islam, u.a. Verfasser des Artikels über Sufismus in einer Ausgabe der Encyclopaedia Britannica. Lings, St. Malachy, o.J. 21 Papst Gregor XVI. (1831-1846), „De balneis hetruriae“, „von den Bädern von Etruria“. Gregor XVI. war Mitglied des Kamaldulenserordens (strenge Benediktiner), der seinen Ursprung in Balneo (vom lat. balneo, Bad) in der Toscana hatte (früher Etruria genannt). Pius IX. (1846-1878), „Crux de cruce“, „Kreuz vom Kreuz“. Er hatte sein Kreuz zu tragen, dass heißt er musste leiden unter dem Hause Savoien, das ein Kreuz im Familienwappen hat: 1870 besetzte König Emmanuel Rom und der Vatikan wurde dem italienischen Staat angegliedert. Leo XIII. (Giocchino Vincenzo Pecci) (1878-1903), „Lumen in caelo“, „ein Licht im Himmel“. Das Familienwappen der Pecci trägt einen Kometen auf azurblauem Grund. Pius X. (1903-1914), „Ignis ardent“, „heftiges Feuer“. Sein Familienwappen hat einen sechsstrahligen Stern. Benedikt XV. (1914-1922), „Religio depopulata“, die „entvölkerte Religion“. In seine Regentschaft fällt die Revolution in Rußland und damitdie Entstehung eines offen atheistischen Großreiches. Er wurde am 3.9. 1914 zum Papst ernannt, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Sarajewo 28.6., Kriegserklärungen 1.8.,3.8.), einem weitereren Fall von „Entvölkerung“. Papst Pius XI. (1922-1939), „Fides intrepida“, „unerschrockener Glaube“. Papst Pius XII. (1939-1958), „Pastor angelicus“, „englischer Hirte“. Johannes XXIII. (1958-1963), „Pastor et Nautus“, „Hirte und Seemann“. Angelo Giuseppe Roncalli wurde 1881 als Sohn einfacher Bauern geboren und war in seiner Jugend im wörtlichen Sinne Hirte. Als er zum Papst gewählt wurde, war er Patriarch von Venedig, und als solcher, wie alle Venezianer, jemand der auf dem Wasser fährt. Paul VI. (1963-1978), „Flos florum“, „Blume der Blumen“. Sein Familienwappen zeigt die Lilie. Johannes Paul I. (26.8. – 28.9. 1978), „De medietate Lunae“, „betrifft die Mitte des Mondes (den Halbmond)“. Albino Luciani wurde in Canale d’Ogardo, in der Diözese Belluno (schöner Mond) geboren. Am 26. August wurde er zum Papst gewählt, seine Amtszeit dauerte einen Monat (Mond) lang, von einem Halbmond zum nächsten. Johannes Paul II. (seit 1978), „De labore Solis“, „betrifft die Sonnenfinsternis“ oder „betrifft die Arbeit der Sonne“. Karol Wojtyla wurde am 18. Mai 1920 in Wadowice geboren, während einer Sonnenfinsternis. Weitere Bedeutungen stehen noch aus. Die Menschen des 16. Jahrhundert und auch die der späteren Zeiten haben diese Liste sicher mit neugierigen Augen betrachtet, ohne dass es für sie von unmittelbarem Belang sein konnte. Heute betrachtet man die Liste mit anderen Augen, denn, wie Martin Lings schreibt, „es ist von geringem Interesse gesagt zu bekommen, dass es noch 112 weitere Päpste geben wird; aber es ist eine ganz andere Sache, wenn man gesagt bekommt, dass es nur noch zwei weitere geben wird, und genau das sagt uns die Prophetie heute.“40 Die letzten beiden Pontifikate werden so beschrieben: 111 40 „De gloria olivae“, „betrifft die Ehre, den Ruhm der Olive“. Lings, St. Malachy: 153. 22 112 „In persecutione extrema sacrae Romanae Ecclesiae sedebit Petrus Romanus qui pascet oves in multis tribulationibus; quibis transactis civitas septicollis diruetur, et Judex tremendus judicabit populum suum. Finis.“ „In der letzten Verfolgung der Heiligen Römischen Kirche wird Petrus, der Römer, den Stuhl innehaben. Er wird seine Herde versorgen inmitten vieler Prüfungen, nach deren Ende die Stadt der sieben Hügel zerstört werden wird, und der schreckliche Richter wird sein Volk richten. Ende.“ LITERATUR Die Bhagavadgita. Einleitung und Kommentar S. Radhakrishnan. Deutsche Übersetzung S. Lienhard. Wiesbaden o.J. Burckhardt, Titus: Chartres und die Geburt der Kathedrale, Lausanne und Freiburg i.Br. 1962. Burckhart, Titus: Das himmlische Jerusalem und das Paradies von Vaikuntha. In: Ders., Spiegel der Weisheit, München 1992, S. 128-136. Cavendish, Richard: Encyclopedia of The Unexplained. Magic, Occultism and Parapsychology, London 1974. Chacornac, Paul: La Vie simple de René Guénon, Paris 1958. Coomaraswamy, Ananda K.: Selected Papers, Bd. 1 Traditional Art and Symbolism, Bd. 2, Metaphysics, Bd. 3 His Life and Work (Biografie von Roger Lipsey), Princeton, New Jersey 1977. Coomaraswamy, Ananda K.: The Flood in Hindu Tradition, in: Selected Papers, Bd. 2, Metaphysics, Princeton, New Jersey 1977, S. 398-407. Daniélou, Alain: Le Chemin du Labyrinthe. Souvenirs d’Orient et d’Occident, Monaco 1993. 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