„Flucht und Fluchthilfe in Deutschland: Grenzen überwinden – auch

Veranstaltungsbericht
„Flucht und Fluchthilfe in Deutschland: Grenzen überwinden – auch in der Erinnerungskultur?“
11. August 2015 I 18.00 Uhr I Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur | Kronenstr. 5 | 10117 Berlin
Anlässlich des 54. Jahrestages des Mauerbaus am 13. August 1961 veranstaltete die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine Podiumsdiskussion, um das Thema Flucht und Fluchthilfe aus historischer sowie
aus aktueller Perspektive zu diskutieren. Die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur Dr. Anna Kaminsky erklärte in ihrer Begrüßung, dass an diesem Abend gleich zwei Themen behandelt
würden. Zum Einen gehe es um die historische Erinnerung an den Mauerbau, der den Flüchtlingsstrom aus der
DDR in die Bundesrepublik unterbinden sollte. Zum Anderen werfe die aktuelle Flüchtlingskatastrophe nicht
nur für die Politik, sondern für jeden Einzelnen die Frage auf, wie mit dieser Situation umzugehen sei.
Sie erinnerte an die Konsequenzen des Mauerbaus: Aus der DDR waren bis zum Mauerbau 1961 über 3 Millionen Menschen geflüchtet. Nach dem 13. August 1961 war das Fluchtrisiko durch Grenzabriegelung und Schießbefehl stark angestiegen. Jene,, die die DDR verlassen wollten, gingen ein großes Risiko ein und waren häufig
auf Fluchthelfer angewiesen An der Berliner Mauer kamen mindestens 120 Menschen bei Fluchtversuchen ums
Leben, an der innerdeutschen Grenze wird derzeit von insgesamt über 1.000 Menschen ausgegangen. Die
Fluchthelfer wurden in der DDR-Öffentlichkeit nicht als Helden gefeiert. Oftmals wurden sie als „Geschäftemacher“ diffamiert oder von der DDR-Führung sogar als „Menschenhändler“ bezeichnet.
Dr. Anna Kaminsky wies darauf hin, dass aufgrund der aktuell steigenden Flüchtlingszahlen in Deutschland
immer wieder Vergleiche mit der Situation während der deutsch-deutschen Teilung in Medien, Öffentlichkeit
und Schulen angestellt würden. Die bekannteste Aktion sei die des „Zentrums für Politische Schönheit“ anlässlich des 25. Jahrestages des Mauerfalls im November 2014 gewesen. Die Aktivisten entfernten die weißen
Kreuze von der Gedenkstätte für die Maueropfer am Reichtagsufer und stellten sie an der EU-Außengrenze auf.
Damit wollten sieauf die Flüchtlinge aufmerksam machen, die auf ihren Fluchtwegen in die Europäische Union
um ihr Leben fürchten müssen. Ein Vergleich sei auch bei PEGIDA-Demonstrationen bemüht worden. Die Betonung habe dort jedoch auf den Unterschieden gelegen: Dieheutigen Flüchtlinge seien, im Gegensatz zu denen
aus der DDR, keine Deutschen.
Die in drei Komplexe untergliederte Podiumsdiskussion wurde von Helge Eikelmann und Marcus Kiesel moderiert. Mit ihrer Veranstaltungsreihe „GG 19 – ein guter Tag für die Demokratie“ betreiben sie politische Bildungsarbeit und schaffen es, hunderte Schüler für die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktaturzu begeistern.
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Der erste Teil der Diskussion widmete sich der Erinnerung an Fluchten aus der DDR. Zeitzeugin Konstanze Helber berichtete von ihrem Fluchtversuch im Jahr 1977. Ihre Motive, die DDR zu verlassen, seien vielfältig gewesen. Sie habe als Kind einer Handwerkerfamilie schon in ihrer Jugend Schwierigkeiten gehabt, sich an das System anzupassen, und habe bald gemerkt, dass sie in der DDR „nicht weiterkommt“. Sie verliebte sich in einen
Westdeutschen, der nach Ablehnung ihrer Ausreiseanträge einen Fluchthelfer beauftragte. Der Versuch scheiterte jedoch und Konstanze Helber wurde im Frauenzuchthaus Hoheneck inhaftiert. 1979 wurde sie freigekauft
und in die Bundesrepublik entlassen. Auch der Fluchthelfer Ralph Kabisch berichtete von seinen Motiven. Vor
1961 habe er in den Schulferien oft Verwandte in der DDR besucht. Als er ab dem Wintersemester 1961 in
West-Berlin studierte, habe er die deutsch-deutsche Teilung dort täglich vor Augen gehabt. Als ihn seine Görlitzer Cousine 1964 um Hilfe bat, nahm Ralph Kabisch Kontakt zu einem Kommilitonen aus dem Fluchthilfe-Milieu
auf. Bis 1964/65 wurde die Fluchthilfe vor allem von Studenten, etwa der Freien Universität und der Technischen Universität in Berlin, organisiert. Ralph Kabisch beteiligte sich am „Tunnel 57“ und in den folgenden drei
Jahren an weiteren Fluchtaktionen. Die glücklichen Gesichter nach einer erfolgreichen Flucht hätten ihm und
seinen Freunden immer wieder zusätzlichen Antrieb gegeben. Heute sehe er die Fluchthilfe auch als eine Form
des politischen Engagements. Dr. Maria Nooke, Leiterin der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde,
erklärte, dass die Fluchthelfer bis Mitte der 1960er Jahre in Westdeutschland eine hohe gesellschaftlich Akzeptanz genossen. Wo die Politik handlungsunfähig war, agierten vor allem Studenten zum Teil aus persönlichen
und teilweise aus politischen Motiven. Während sie in der Bundesrepublik Anfang der 1960er Jahre als „Helden“ angesehen wurden, wurden sie ab Mitte der 1960er Jahre zunehmend als „Störfaktoren“ einer deutschdeutschen Annäherung wahrgenommen, die die Verhandlungen zum Passierscheinabkommen (1963) und später zum Transitabkommen (1971) nicht gefährden sollten. Viele Fluchthelfer hätten dennoch weiter gemacht,
einige aber auch aus kommerziellen und kriminellen Motiven. Konstanze Helber sagte, sie habe erst nach dem
Mauerfall erfahren, dass für ihren Fluchthelfer das Geld an erster Stelle gestanden habe und nicht die Sicherheit der Flüchtlinge.
Außerdem wurden die Erfahrungen thematisiert, die die DDR-Flüchtlinge machten, als sie in der Bundesrepublik ankamen. Dr. Maria Nooke berichtete über die dramatische Situation nach Schließung der innerdeutschen
Grenze 1952, als den Flüchtenden nur noch der Weg über Berlin geblieben sei. Dies führte zu chaotischen Zuständen in den rund 80 Flüchtlingsheimen. Die Flüchtlinge wurden etwa in ehemaligen Bunkern und Hallen
untergebracht, in denen desolate Zustände herrschten. 1953 wurde das Notaufnahmelager Marienfelde eingeweiht, um die Flüchtlinge von dort zentral in die westdeutschen Bundesländer zu verteilen und eine Erstversorung zu garantieren. Maria Nooke sprach von vielen schlechten Erinnerungen der DDR-Flüchtlinge, die sich
nicht aufgenommen gefühlt hätten und Probleme gehabt hätten, sich in die bundesdeutsche Gesellschaft zu
integrieren. Das habe sich im Laufe der Jahre aber geändert. Einerseits gab es seit dem Mauerbau sehr viel
weniger Flüchtlinge, andererseits steigerte die Bundesrepublik ihre Integrationsleistung wesentlich. Flüchtlinge
und Ausreiser wären im Laufe der Zeit gut aufgenommen und integriert worden. Erst als 1989 der große Flücht-
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lingsstrom einsetzte und nicht abzureißen schien, sei die Bereitschaft in der bundesdeutschen Gesellschaft
gesunken, immer mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Konstanze Helber wusste nur Positives von ihrer Ankunft in
der Bundesrepublik zu berichten. Sie betonte aber, in einer Sondersituation gewesen zu sein, weil sie durch
ihren Freund nicht das Aufnahmeverfahren im Notaufnahmelager Gießen habe durchlaufen müssen und ihr
durch diese Verbindung vieles leichter gefallen sei. Sie hätte sich überall, auch auf Ämtern, willkommen gefühlt. Sie wisse aber von anderen, dass diese keine guten Erinnerungen an ihre Ankunft in der Bundesrepublik
hätten.
Im zweiten Gespräch diskutierten Uta Sternal, Anas Sharaf Aldeen und Paul Schwenn über die Situation heutiger Flüchtlinge. Moderator Marcus Kiesel zitierte zunächst Bundeskanzler Konrad Adenauer. Dieser sprach in
Bezug auf das Asylrecht in Artikel 16 des Grundgesetzes 1949 von einem „Großzügigkeitsrecht“. Uta Sternal,
Leiterin des Übergangswohnheims Marienfelde, stellte heraus, dass es heutzutage schwierig sei, diesen Anspruch zu erfüllen. Die Aufnahmekapazitäten würden geringer und die Liste der sogenannten „sicheren Herkunftsländer“ immer länger. Ihrer Meinung nach könnte die derzeitige Situation der Flüchtlinge mit finanziellen
Zuwendungen und einer weitsichtigeren Planung der Bundesregierung verbessert werden. Beispielsweise sei
absehbar gewesen, dass der Krieg in Syrien nicht nach kurzer Zeit enden würde und die Asylbewerberzahlen
entsprechend weiter ansteigen würden. Ihr sei es wichtig, menschenwürdige Flüchtlings-Unterkünfte zu stellen, so dass im Übergangswohnheim Marienfelde derzeit 700 Menschen in 200 Wohnungen untergebracht
sind. Marcus Kiesel wies darauf hin, dass der Betreuungsschlüssel dort bei 85 Flüchtlingen pro Sozialarbeiter
liegt, während die Mitarbeiter in anderen Unterkünften mehr Menschen zu betreuen hätten. Anas Sharaf
Aldeen war nach seiner Flucht aus Syrien im Übergangswohnheim Marienfelde untergebracht. Er sei aus seiner
Heimat geflohen, weil er vor der Wahl gestanden habe, selbst zu töten oder getötet zu werden. In Marienfelde
habe er sich sehr willkommen gefühlt. Er lobte nicht nur die räumlichen Bedingungen, sondern auch die umfangreiche Hilfe von Sozialarbeitern und Mitarbeitern des Wohnheims. Anas Sharaf Aldeen beschrieb, wie
wichtig diese Hilfe sei, da es die Flüchtlinge von einem Tag auf den anderen mit deutschen Ämtern zu tun bekämen. Er betonte, dass die Flüchtlinge keineswegs faul herumsitzenwürden, sondern sich jeden Tag mit Anträgen auseinandersetzten, sich um Arbeit und Wohnung bemühten und gegen die Sprachbarriere ankämpften.
Anas Sharaf Aldeen hatte bereits Teile seiner Familie in Deutschland, die ihm sehr geholfen hätten. Seien keine
Verwandten vor Ort, sei es für die Flüchtlinge jedoch besonders schwierig. Deutsche seien im Gegensatz zu
Flüchtlingen als Teil der Gesellschaft vernetzt und hätten bei Verlust von Arbeitsplatz oder Wohnung ihre Ansprechpartner. Er sagte, in Deutschland müsse geklärt werden, ob die Flüchtlinge ebenfalls Teil dieser Gesellschaft seien oder nur Gäste. Paul Schwenn, der sich für Flüchtlinge engagiert, nimmt in seiner Generation eine
große Offenheit gegenüber Flüchtlingen wahr. Er beteiligte sich an dem Projekt „Welcome United 03“ des „SV
Babelsberg 03“, bei dem eine aus Flüchtlingen bestehende Mannschaft in den Spielbetrieb integriert wird. Dies
müsste es seiner Meinung nach auch bei größeren Vereinen geben.
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Im Dritten Teil der Veranstaltung nahmen alle Podiumgsgäste an einem Gespräch teil, das die Perspektiven
damals und heute zusammenbrachte. Moderator Helge Eikelmann griff die Stigmatisierung der Fluchthelfer
auf, die heute häufig als „Schleuser“ oder „Schlepper“ bezeichnet würden. Konstanze Helber distanzierte sich
von diesem Begriff, da sie die DDR-Fluchthilfe als Angebot gesehen habe, ihr Ziel zu erreichen. Ralph Kabsich
sagte, dass er im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingskatastrophe mit dem Begriff „Schleuser“ jene
verbinde, die den Flüchtlingen ein besseres Leben versprächen, sie aber in große Gefahr brächten. Diese seien
für ihn aber keine Fluchthelfer, sondern Kriminelle. Ein Publikumsgast fragte Konstanze Helber, inwieweit ihr
das Risiko ihrer Flucht – etwa durch den Einsatz von Röntgengeräten auf den Transitstrecken – vorher bewusst
gewesen sei. Sie antwortete, sich zwar des grundsätzlichen Risikos bewusst gewesen zu sein, aber von derlei
konkreten Maßnahmen nichts gewusst zu haben. Sie habe vor allem die Hoffnung gehabt, dass alles gut geht.
Marcus Kiesel fragte außerdem, warum ein so hohes Gut wie der Asylartikel des Grundgesetzes nicht mit so viel
Herzblut verteidigt würde wie andere Güter. Ralph Kabisch schätzte ein, dass eine explosive Mischung aus
Neid, Unwissenheit und Hass zu Diskussionen führe, die in einer Demokratie nichts zu suchen hätten und betonte, dass Demokratie, Freiheit und Toleranz hohe schützenswerte Güter seien. Dieses Ansinnen müsse auch
in die nächste Generation getragen werden. Dr. Maria Nooke wies darauf hin, dass die Rahmenbedingungen
heute komplizierter seien als etwa zu Zeiten der deutschen Teilung. Aus ihrer Arbeit berichtete sie, dass sich
das Bewusstsein der Besucher in der Erinnerungsstätte in den vergangenen zwei Jahren gewandelt habe. Sie
würden nun bemerken, dass Marienfelde nicht nur ein historischer Erinnerungsort ist, sondern auch einen
aktuellen Wohnheimbetrieb hat. Die Bildungsarbeit sei deshalb auch darauf ausgerichtet, Jugendliche für das
Thema und die gegenwärtige Relevanz von Flucht und Fluchthilfe zu sensibilisieren.
Anja Schröter
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